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Selfie mit Sheikh (eBook)

Erzählungen
eBook Download: EPUB
2017
241 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-20373-3 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
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Was fasziniert uns an der Lebenswelt, Mentalität und Kultur des modernen islamischen Orients - und was erschreckt uns an ihr? Wie sehr verstehen wir sie - und wie sehr bleibt sie uns fremd? Inwieweit gelingt es uns, uns auf sie einzulassen und in sie einzutauchen? Und inwieweit bleiben wir gefangen in unseren westlichen Projektionen und Vorurteilen?

Immer wieder hat Christoph Peters in seinen Büchern die Berührungspunkte und Reibungsflächen der westlichen Welt mit anderen gesellschaftlichen und spirituellen Traditionen ausgelotet. Vor allem die Schnittstellen von Orient und Okzident, von Überlieferung und Moderne beschäftigen ihn zutiefst, die Faszinationskraft wie die Verstörung, die von der Begegnung mit zunächst fremden Lebens- und Denkweisen ausgehen.

Auf beeindruckende Weise umkreisen Christoph Peters' Erzählungen diese Themen in immer neuen Facetten. Die Geschichten dieses Bandes spielen teils in Deutschland, teils in Ländern des Nahen und Mittleren Ostens, die Christoph Peters in den vergangenen Jahren intensiv bereist hat: in Pakistan, Ägypten, Saudi Arabien oder der Türkei. Wie kaum ein anderer deutschsprachiger Autor lässt uns Christoph Peters in seinen Erzählungen eintauchen in eine manchmal unergründliche, manchmal verstörende, manchmal komische und gelegentlich auch überraschend vertraute Welt jenseits des Abendlands.



Christoph Peters wurde 1966 in Kalkar geboren. Er ist Autor zahlreicher Romane und Erzählungsbände und wurde für seine Bücher vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Wolfgang-Koeppen-Preis (2018), dem Thomas-Valentin-Literaturpreis der Stadt Lippstadt (2021) sowie dem Niederrheinischen Literaturpreis (1999 und 2022). Christoph Peters lebt heute in Berlin. Zuletzt erschienen von ihm bei Luchterhand die ersten beiden Teile einer an Wolfgang Koeppen angelehnten Trilogie: 'Der Sandkasten' (2022) und 'Krähen im Park' (2023).

Fast bis nach München

Glasklarer Nachthimmel. Die Temperaturen fallen schnell, seit die Sonne untergegangen ist. Feierabendverkehr. Untergebene und Vorgesetzte in großen und kleinen Fahrzeugen auf dem Weg zu Hochhaussiedlungen, Stadtrandvillen. Anschwellende Motorengeräusche, sobald die Fußgängerampel auf Rot springt. Der Luft lässt sich nichts entnehmen außer: Es ist Winter.

Er hat eingekauft, wie gestern und vorgestern: fünf Kilo Reis, fünf Kilo Mehl, drei Kilo Zucker, acht Packungen Nudeln, Linsen, getrocknete Bohnen, Kartoffeln, Kaffee, Tee, Salz. Eine Stange Zigaretten. So viel, wie er in zwei Stoffbeuteln und einem Rucksack tragen kann.

Bis jetzt weisen die Regale im Supermarkt keine Lücken auf. Weder bei Grundnahrungsmitteln noch bei Süßigkeiten, Seife, Toilettenpapier. Die Kassiererin fand seine Auswahl und Mengen normal, als sie die Preise eintippte.

»Hundertachtundzwanzigvierunddreißig.«

Auch wenn niemand hinter ihm stand, den er kannte, hatte er sich mit dem Einpacken beeilt und versucht, möglichst unaufgeregt zu wirken.

Es ist Unsinn, all dies Zeug in der Wohnung zu horten. Wahrscheinlich wird er außer den Zigaretten nichts davon brauchen. Sollte es anders kommen, wird es nicht reichen. Es ist im Prinzip unmöglich, genügend große Vorräte anzulegen. Und wie soll er in seiner Wohnung im sechsten Stock eines Hochhauses Reis, Kartoffeln, Linsen garen, wenn der Strom ausgefallen, die Wasserversorgung zusammengebrochen ist?

Nichts dergleichen wird geschehen.

Etwas wie Übelkeit im Kopf.

An der Straßenbahnhaltestelle drängen sich die Menschen unter das Dach des gläsernen Wartehäuschens, obwohl es weder regnet noch schneit. Zu große Nähe von Fremden, deren Gesichter ihm lose bekannt sind. Verschiedene Sorten Atem: Knoblauch, Bier. Der Geruch von Mottenkugeln. Er stellt seine Taschen nicht ab, damit niemand versehentlich dagegentritt.

Ein südländisch aussehender Mann Mitte zwanzig schiebt sich an ihm vorbei. Seine Bewegungen wirken fahrig. Er hat zwei Rucksäcke: einen sandfarbenen in der Hand und einen olivgrünen über der Schulter. Schwarze Augen, schwarzes Haar. Senkt den Blick, zieht sich in den hintersten Winkel des Häuschens zurück, wendet sich ab. Einen Bart trägt er nicht. Es wäre idiotisch, in diesen Tagen einen Bart zu tragen, wenn man tatsächlich etwas geplant hätte. »Wir werden euch treffen, wo immer ihr seid!« haben sie angekündigt. Laut Einschätzung der Fernsehexperten sind es ernst zu nehmende Drohungen. Was bedeutet es, dass der Fremde nicht raucht, obwohl er nervös ist? – Was hieße es, wenn er rauchen würde?

Zwei Rucksäcke bei einem Mann mit arabischen Zügen, der nicht in dieser Gegend wohnt, müssen an einer Straßenbahnhaltestelle zur Hauptverkehrszeit noch kein Indiz sein, aber wenn einer die Absicht hätte, viele Menschen, mit oder ohne sich selbst, in den Tod zu reißen, wäre es eine einfache Möglichkeit. Auch fährt die Straßenbahn direkt an den Barracks vorbei, keine zehn Meter von den Kontrollposten entfernt.

Der Mann wühlt in den Innentaschen seiner viel zu dünnen Segeltuchjacke, zieht einen Zettel heraus, versucht im Halbdunkel zu lesen, beugt sich tiefer in die Ecke, vielleicht wegen des Lichts, vielleicht, weil niemand sehen soll, was dort notiert ist, in welcher Schrift.

Es sind zwei Stationen bis nach Hause. Fünfzehn Minuten zu Fuß – wenn er schneller geht, zwölf.

Er schaut die Gleise entlang. Noch ist die nächste Bahn nicht in Sicht. Spürt dem Gewicht der Taschen in seinen Händen nach.

Denkt: »Es herrscht Stille«, aber es herrscht keine Stille: Der Abstand zwischen ihm, eingeschlossen in seinen Kopf, und all dem anderen außerhalb ist durch einen unbestimmbaren Schrecken gegen unendlich gewachsen, zu groß für jedes Geräusch.

Der Mann holt jetzt doch eine Zigarette aus der Jackentasche, ohne die Packung herauszunehmen. Seine Hand ist zittrig, als er sie zum Mund führt, das Feuerzeug entzündet.

Es ändert nichts.

So wie es Unsinn ist, das ganze Zeug zu kaufen, das er gekauft hat, ist es Unsinn, die schweren Taschen durch die Eiseskälte zu Fuß nach Hause zu tragen, nur wegen eines beliebigen jungen Mannes von im weitesten Sinne orientalischem Äußeren.

Mit zwei Rucksäcken.

Den er noch nie in dieser Gegend gesehen hat.

Vielleicht hilft Gehen oder die Luft aus dem Osten, die hart und klar ins Gesicht schlägt. Er atmet durch. Sieht die Bahn in die Straße biegen. Denkt: »Es ist völlig absurd.«

Setzt sich in Bewegung.

Nachlassende Anspannung, unmittelbar gefolgt von Scham.

Rechts beginnen die Villen der Ärzte, Anwälte, Vorsitzenden, geschützt von blickdichten Zäunen, immergrünen Hecken. Niemand außer ihm ist zu Fuß unterwegs. Kahle Bäume als Schattenrisse, vereiste Rasenflächen. Er geht vorbei an längs der Straße abgestellten Zweitwagen, nach Farben sortierten Mülltonnen. Die Abstände zwischen den Laternen vergrößern sich. Ein Hund bellt. Die Griffe der Einkaufstaschen schneiden ins Fingerfleisch. Er erhöht die Schrittfrequenz. Gegenüber zwischen hohen Kiefern der unbeleuchtete Spielplatz für die amerikanischen Soldatenkinder, gefolgt von einem umzäunten Basketballfeld. Daneben, unter Tarnnetzen kaum zu erkennen: ein Schützenpanzer. Sein Maschinengewehr ist auf die Straße gerichtet.

Er kreuzt die Schusslinie, fragt sich, ob jemand im Innern des Panzers ihn jetzt im Fadenkreuz hat, durch die Vergrößerung, den Restlichtverstärker klar identifizierbar als ein Mensch, von dem aktuell keine Gefahr ausgeht. Die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos erfassen schwer bewaffnete Posten. Alle dreißig Meter stehen sie, immer paarweise in Wintercamouflage, dunkelgrau-mittelgrau-schneegrau, bewachen ihre eigenen Wohnanlagen, Frauen und Kinder. Eine Garnisonsstadt im Land der ehemaligen Feinde, das von ihren Vätern und Großvätern befreit wurde, sechsundvierzig Jahre ist das her: Play it again, Sam. Schusssicher ausstaffierte Körper, als wären es Muskelberge. Hochgeschnürte Stiefel. MPs, beidhändig vor dem Bauch im Anschlag. Möglicherweise Granaten am Gürtel. Im Schatten der Stahlhelme keine Gesichter. Die Kriegsroboter der Zukunft werden so aussehen.

Von hinten das Geräusch der Straßenbahn. Er bleibt stehen, wendet sich um. An den Kontaktstellen zur Oberleitung spritzen Funken weg. Das Denken verlangsamt sich zu einer Bewegung in Zeitlupe. Er wird vom Lichtschein erfasst – dem keine Explosion folgt. Die Bahn rattert vorbei, dicht an dicht stehen Leute zwischen den Sitzen und im Mittelgang. Alles ist, wie es immer ist um diese Tageszeit im Januar.

Der Winter müsste nicht schrecklich sein.

Seine Hände werden fühllos unter dem Gewicht und der Kälte. Kann sein, dass er die Kontrolle über Fingermuskeln und -sehnen verliert, die Einkaufstaschen fallen lässt.

Der Scheinwerfer einer entgegenkommenden Bahn reißt einen weiteren Schützenpanzer am anderen Ende der Barracks aus der Dunkelheit. Was, wenn einer der Soldaten gestern den Bescheid bekommen hat, dass er in die Wüste verlegt wird, und den Verstand verliert? Gehen auf dem trockenen Asphalt, gelegentlich kleine Eispfützen. Die Haare wärmen den Kopf nicht, in seinen Ohren beginnt ein scharfes Ziehen, während ihm unter der Jacke Schweiß ausbricht.

Vor ihm die ersten drei der fünf Hochhäuser, in deren letztem er wohnt. Verschiedenfarbig erleuchtete Fenster: Lampenschirme, Neon, Fernsehblau. Ein Balkon, dessen Geländer noch mit Lichterketten von Weihnachten umwickelt ist.

Das erste Hochhaus, das zweite Hochhaus, das dritte Hochhaus.

Weitere körperliche Wahrnehmungen: das Schaben des Atems an den Nasenwänden; seine Lippen trocknen aus, während sich Tränenflüssigkeit in den Augenwinkeln sammelt. Satzfragmente, die sich zu keinem Gedanken verfestigen.

Die nächste Straßenbahn fährt vorbei, wiederum vollbesetzt. Er erkennt eine Nachbarin, Frau Weinreich, der er auf keinen Fall im Aufzug begegnen will, legt noch einen Schritt zu. Vorbei am vierten Hochhaus. Überquert die Straße, biegt auf den Parkplatz. Steht vor der Tür, hält kurz beide Beutel mit einer Hand, kramt den Schlüssel aus der Hosentasche, öffnet. Der Aufzug ist leer.

Im Eingang der Wohnung stapeln sich Zeitungen, Nachrichtenmagazine für die Altpapiertonne. Obenauf das Hochglanzbild einer bombenbepackten F-16, die von einem Lotsen unter riesigen Schallschützern in Startposition dirigiert wird. Auf den Lenkflugkörper unter der Tragfläche ist mit wackligem Pinsel »Stairway to Hell« geschrieben. Im Hintergrund Satellitenschüsseln, Wüstenhügel, unvorstellbar blauer Himmel.

Aus dem Wohnzimmer leuchten die Aquarien in den Flur.

Er stellt Taschen und Rucksack ab. Das Gefühl kehrt in die Hände zurück, sie schmerzen. Schaltet den Fernseher ein: Zwei Mädchen, eins blond, eins dunkelhaarig, keifen sich im Pferdestall an. Im nächsten Kanal: Pralinenwerbung, Mainzelmännchen, Ginseng-Kapseln gegen die Vergesslichkeit im Alter. Da er keinen Kabelanschluss hat, sind die Privatsender buntes Flimmern über mehr oder weniger scharfen Konturen und lautes Rauschen. Im Dritten Programm wird über die bevorstehende Wiedereröffnung der Gergesheimer Kaiserpfalz als Regionalmuseum berichtet. Er dreht den Ton weg, trägt seine Einkäufe in die Vorratskammer.

Das Regal ist beinahe voll. Um alles unterbringen zu können, muss er umschichten, zieht den Mineralwasser-, den Bierkasten, zwei Sechserkartons Rotwein aus dem untersten Fach, stapelt sie in der Küche aufeinander. Steht eine Weile vor dem Regal, zählt. Er hat...

Erscheint lt. Verlag 11.9.2017
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte eBooks • Fremde Kulturen • Irakkrieg • Islam • Istanbul • Lahore • Liebe • Mystik • Orient und Okzident • Religion • Sufismus
ISBN-10 3-641-20373-2 / 3641203732
ISBN-13 978-3-641-20373-3 / 9783641203733
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