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Kirchberg (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
352 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
9783841213884 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kirchberg - Verena Boos
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'Ein außergewöhnlicher Roman, der einen sofort reinzieht in seine Welt.' Hessischer Rundfunk.

Als Hanna in einer Lebenskrise nicht weiterweiß, verlässt sie die Stadt und zieht in das Haus ihrer Großeltern in dem Dorf, in dem sie als uneheliches Kind aufgewachsen ist. Dort begegnet sie Menschen und ihren Geschichten, die sie hinter sich gelassen glaubte. Und was als selbstgewählte Einsamkeit gedacht war, wird zu einer Erkundungsreise in die Vergangenheit - Hannas eigene, aber auch die des Hauses auf dem Kirchberg. Sie stellt fest, dass zu viele Fragen offengeblieben sind: die nach ihrem Vater und alten Familienfehden, aber auch die nach ihrer ersten großen Liebe, die sie sich nie eingestanden hat. Das Dorf wird zum Mittelpunkt, wird Heimat und Chance auf ein neues Leben.

'Verena Boos verbindet großes Erzähltalent mit historischer Präzision.' Jan Brandt. 

'Ein großer Roman über Metropolen und Provinz, über Generationskonflikte, über die Möglichkeit der Liebe und vor allem über unsere Sprache.' Südkurier.



Verena Boos wurde 1977 in Rottweil geboren, wo sie auch aufwuchs und wieder lebt. Längere Aufenthalte in Paris, Bologna, Glasgow, Florenz, Barcelona und London, schließlich Valencia, München und Frankfurt. Studium der Anglo-Amerikanischen Literatur, Soziologie und Kulturwissenschaften, Promotion in Zeit- und Kulturgeschichte. Seit 2010 freie Autorin. Mit 'Blutorangen' legte sie 2015 eines der beeindruckendsten Debüts der letzten Jahre vor, ausgezeichnet u.a. mit dem Mara-Cassens-Preis und dem Preis des Buddenbrookhauses.

Im Aufbau Verlag ist ebenfalls ihr Roman 'Kirchberg' lieferbar.

Mehr unter www.verena-boos.de

Kirchberg


Der Bus schließt die Tür und biegt an der Kreuzung rechts ab. Sie kennt den Weg, den er nehmen wird, vorbei an den Wirtschaftsbetrieben, den letzten Häusern. Die Dorfstraße wird zu einer Allee, links geht es hinunter zum Bach, rechts erheben sich die Hügel mit ihren bewaldeten Kuppen. Früher war der Straßenbelag voller Schlaglöcher. Eine kurvige Straße, die dem Verlauf des Baches durch das Tal folgt, sie kennt die Wege alle, eine grüne Straße, denkt sie, durch grüne Wiesen, grüne Büsche und Bäume. Grün denkt sie, wenn sie sich an dieses Dorf erinnert.

Der Bus ist fort, sie als Einzige steht noch an der Haltestelle. In die Pizzeria ist nie mehr ein Lokal eingezogen. Sie schultert ihren Rucksack und überquert die Hauptstraße, geht vorbei am alten Laden, wo sie als Kind Colaschlangen kaufte zu fünf Pfennig das Stück. Er steht leer. Im Schaufenster, durch das man einst die Schultern der Besitzerin sehen konnte, hängen Zettel in Spalten dicht bedruckt, Buchstaben und Zahlen, die Kirche, die auf dem Berg über ihr aufragt, als Emblem im Kopf des Blattes. Ein Poster, großes Datum und grelle Schrift, darauf ein Duo in Kitschtracht. Leo war bald danach auf Tournee gegangen. Er hatte Sorge gehabt, dass es Reibereien geben würde mit dem Pianisten. Sie hatte keine Worte mehr gehabt, ihm diese Sorge zu zerstreuen.

Sie steigt den Fußweg hinan, über eine Wiese, auf der es in ihrer Kindheit Gänse gab. Er mündet in eine steile Straße, die sich an den Hang legt, als hätte sie sich mit ihren Schlaglöchern im Grund verzapft. Eine mächtige Treppe führt auf den Kirchberg, zu dieser Kirche aus rotem Sandstein, die zu groß über allem thront und ein so kleines Dorf überfordert. Langsam steigt sie diese Treppe hinauf, schräg über die Stufen, das kommt ihrem schwachen Bein entgegen. Sie lehnt sich an die Balustrade. Drei Täler öffnen sich für drei Bachläufe, und hier, mit dem spitzen Helm des Kirchturms als Drehgelenk ihres Kompasses, ist sie genau in der Mitte. Sie streckt die Arme nach beiden Seiten aus und füllt ihre Lungen mit der Luft ihrer Kindheit.

Sie taucht in den Schatten des schmalen Durchgangs zwischen Sakristei und Pfarrhaus. Wenn kein Gottesdienst war, kam nie jemand vorbei. Damals, hier, im Halblicht, der erste Kuss. Es wäre nur logisch gewesen. Der Weg weitet sich zu einem kleinen Platz, der Kirchberg streckt seinen Rücken lang. Nach einigen Schritten verschwindet die vorspringende Ecke des Nachbarhofs aus dem Blick, und sie sieht das alte Haus ihrer Großeltern. Und so steht ihr zwei jetzt da, du und dieses Haus.

Einen Moment lang verharrt sie vor dem Haus, mitten auf der Straße, die eher wie eine kleine Piazza anmutet. Es ist ihr Haus. Es hat einen muskulösen Giebel und Dachgauben, eine breite Reihe Fenster und ein großes Scheunentor, hinter dem sie das Knattern des Traktors zu hören glaubt. Vor dem Bart ihres Schlüssels das altmodische Schloss ohne Zylinder. Es hatte heftigen Streit gegeben zwischen den Großeltern, ob diese Holztür gegen eine moderne aus Aluminium ausgetauscht werden solle. Die Großmutter wollte mit der Zeit gehen, und auch die Gemeindeverwaltung, die zweimal pro Woche Sprechstunde im Erdgeschoss des alten Schulhauses abhielt, hätte das gerne gesehen. Eine moderne Tür mit Drahtglas und Schnapperle. Ihr Großvater, ein zurückhaltender Mann, konnte ein sturer Bock sein. Und wenn ihm noch jemand Geld bot für diese alte Tür, dann erst recht nicht. Es zog weiterhin durchs Schlüsselloch, wenigstens lackierte er bei jener Gelegenheit das Holz und dichtete die Ritzen ab. Doch was machte das schon, das eine oder das andere, so oft standen hier die Türen offen, vorne raus und hinten raus, im Erdgeschoss nichts außer Gemeindebüro, Wirtschaftsraum, Tür zur Scheuer und Durchgang zum Garten. Dicke Mauern, doch viele Einfallstore für den Wind. Auch mit einer Tür aus Aluminium wäre es in diesem Haus immer kalt gewesen. Das sah ihr Opa schon richtig. Die Wärme hier entstand anders.

Die Tür schabt über den Steinboden. Opas Dichtungsgummis sind hart geworden. Die Tür zum alten Gemeindebüro ist ausgehängt, verschwunden. Ein Vorhang ist aus der Aufhängung gerutscht. Das Licht im Raum wie stäubendes Mehl. Eine eingetrocknete Maus. Ein einzelner Rollschrank, ein Metallgestell für Prospekte, ein Notenständer. Ein Rechen lehnt am Treppengeländer. Objekte, die zurückbleiben. Sie holt den Rucksack herein und schließt die Eingangstür.

Ein freistehendes Haus, um das der Wind streicht, Wände, die keinen Kontakt haben. Ein körperliches Wissen um die Architektur. Sie lehnt sich gegen das Holz und horcht, wie man dem Atem des schlafenden Liebhabers lauscht, so vertraut und so fremd.

Nach der Beerdigung hat sie nur ein paar Dinge aussortiert. Persönliches und Verderbliches. Die Oma war nicht wie der Opa langsam und krank, Schritt für Schritt, aus dem Leben gegangen. Die Oma hatte wenig Arbeit gemacht, war einfach über dem Beet mit den Rapunzeln zusammengebrochen. Ihr eigener Reflex war wegzugehen, wie immer weg und wie immer arbeiten. Eine Zeit, selten genug, da sie wusste, was sie wollte. Sie hatte die Zusage für die USA, befand sich zwischen Orten, Ländern, Aufgaben. Leo hatte geschrieben, er wolle es versuchen, wirklich versuchen, und ein gemeinsamer Urlaub sollte ein neuer Anfang sein. Ihr Herz schlug woanders. Sie wollte jemanden beauftragen, das Haus zu leeren, sie wollte selbst wiederkommen, irgendwann, bald. Es kam weder zum einen noch zum anderen. Es passte nie mehr. Sie überließ das Haus, überließ alles sich selbst. Obwohl kurz darauf nichts mehr in ihrer Macht stand, bleibt da ein Stich. Als hätte sie ihre Großmutter nicht nur im Sterben alleingelassen. Das Geschäft des Sterbens in diesem Haus ist noch nicht abgeschlossen.

Links der Gang zum Garten, der letzte Gang ihrer Oma. Rechts führt die Treppe in den ersten Stock, wo das Schulzimmer war. Sie setzt einen Fuß nach dem anderen auf die Stufen, die eine Seite braucht immer länger als die andere. Mit der guten Hand hält sie sich am Geländer. Sie hört Generationen von Schülern über diese Treppe ihr entgegentraben, in der dunkelärmlichen Kleidung ihrer Jahre, in den viel zu kurzen Hosen und vielfach gestopften Pullundern der Nachkriegszeit, barsch zurechtgewiesen von der heiseren Stimme ihres Großvaters. Womöglich war seine Stimme damals noch gar nicht heiser. Als ein neues Schulhaus gebaut wurde, weiter unten auf halber Höhe, licht und filigran, die Schule, in die ihre Mutter ging, bevor sie sich davonmachte, kaufte ihr Großvater das alte Schulhaus, in dem er alle Jahre seit seiner Ankunft in diesem Dorf gelebt und gelehrt hatte. Er unterrichtete im neuen, doch lieber wäre er im alten geblieben, eigentlich hat er das alte nie verlassen. Bis sie selbst in die Schule kam, gab es am Ort keine mehr. Gemeindereform und Flurbereinigung der Siebziger, und da man schon dabei war, erledigte man auch diese kleine Schule, als gäbe es Mengenrabatt, take two, get one free. Sie musste jeden Tag mit dem Bus fahren. An der Kreuzung rechts, über die grüne Straße ins nächste Dorf mit Grundschule.

Jetzt klingen hier keine Kinderstimmen, klingt keine Lehrerstimme mehr. Jetzt ist es ganz still. Sie stellt sich genau in die Mitte dieses Raumes. Sie glaubt, dass sie gerne bei ihrem Großvater in die Schule gegangen wäre. Sie glaubt, dass er ein Händchen für Sonderlinge hatte. Als Freak ist man auf solche Leute angewiesen. Und heute, heute erst recht. Heute würde sie als Dorfdepp halt so mitlaufen. Man würde sie, wenn sie Glück hätte, in den Schuljahren verwahren. Wozu das Lernen und Streben, wenn von einem Tag auf den anderen alles gelöscht werden, verlorengehen kann. Ihr Hirn wie eine dieser Zaubertafeln, eifrig und unablässig Lage um Lage beschrieben, dann eines Tages, ritsch, ratsch, wenig Macht mehr über die Zunge, und das Wort nur noch als Widerhall.

Der alte Schulraum nimmt fast das gesamte erste Stockwerk ein. Alle Jahrgänge, Jungen und Mädchen, im selben, dem einzigen Raum. Staub schwebt im Licht. Auf den Holzdielen sind die Abdrücke der Schulbänke noch zu erkennen. Dort, wo der Mittelgang war, sind sie dunkler und stärker abgenutzt. Nicht einmal der große Tisch steht mehr da, an dem der Ortschaftsrat tagte, als Kind hatte sie direkt über diesem Raum im Bett gelegen und die Diskussionen der Männer gehört, alles Männer, später polterten sie hinaus, der Tisch, an dem auch Kommunionsunterricht stattfand. Jene Treffen, nach denen Patrizio das Klavierspiel entdeckte. Sie dreht sich um, und in der Nische des Zimmers, unter weißem Tuch verborgen, steht das Klavier.

Süden, ihre Lieblingsseite, die steil zu Bach und Mühle hin abfällt. Süden, wo sie ihren Platz an der Mauer hatte. Sie öffnet ein Fenster nach dem anderen. Dann jene, die nach Norden gehen, öffnet sie alle. In der Mitte des leeren Schulzimmers setzt sie sich auf den Boden. Die Luft, die durch die geöffneten Fenster auf beiden Seiten hereinströmt, findet irgendwo in diesem Haus einen Ausgang, und im Zug schlägt eine Tür. Vögel zwitschern. Eine Motorsäge, Lastwagen auf der Straße, ein Chopper. Sie erinnert sich der alten Linde und möchte nachsehen, ob sie noch steht. Sie rührt sich nicht. Jetzt nicht. Zum ersten Mal seit langem ist sie wirklich zur Ruhe gekommen. Zum ersten Mal hat sie vollkommen losgelassen.

Wie schlau kann man sein, und wie dumm kann man werden. Als sie die Augen öffnete, hatte sie einen Flusen auf der Netzhaut. Über die weiße Fläche der Zimmerdecke schwamm er wie ein Bakterium unterm Mikroskop, wanderte mit jedem Augenaufschlag nach oben und ruckelte sich auf dem Tränenfilm in Richtung Nasenspitze, bis sie...

Erscheint lt. Verlag 15.9.2017
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Balkan • Bauernhaus • Blutorangen • Die zweite Heimat • Dorf • Edgar Reitz • Heimat • Jazz • Kathrin Schmidt • Kirchberg • Schlaganfall • Schwäbische Alb • Ursula Krechel • Verena Boos
ISBN-13 9783841213884 / 9783841213884
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