Um unsere Webseiten für Sie optimal zu gestalten und fortlaufend zu verbessern, verwenden wir Cookies. Durch Bestätigen des Buttons »Akzeptieren« stimmen Sie der Verwendung zu. Über den Button »Einstellungen« können Sie auswählen, welche Cookies Sie zulassen wollen.

AkzeptierenEinstellungen

Alte Freunde (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2017
352 Seiten
Heyne Verlag
978-3-641-17479-8 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Zwei alte Schulfreunde. Craig war früher der charismatische Anführer, zu dem alle aufschauten und der zum Rockstar avancierte. Alan stand stets im Abseits, war Mitläufer. Dreißig Jahre später haben sich die Vorzeichen radikal geändert. Alan ist erfolgreicher Gourmetkritiker und Bestsellerautor, während sich Craig als Obdachloser auf Londons Straßen rumtreibt. Das Schicksal führt die beiden wieder zusammen. Alan greift seinem alten Freund unter die Arme und versucht ihn wieder auf die richtige Bahn zu bringen. Und bald ist nichts mehr so wie es war.

John Niven, geboren 1966 in Schottland, spielte in den 80er-Jahren Gitarre bei der Indieband »The Wishing Stones« und arbeitete nach dem Studium der Literatur als A&R-Manager einer Plattenfirma, bevor er sich 2002 dem Schreiben zuwandte. 2006 erschien sein erstes Buch »Music from Big Pink«. 2008 landete er mit dem Roman »Kill Your Friends« einen internationalen Bestseller, der auch fürs Kino verfilmt wurde. Es folgten zahlreiche weitere Romane, darunter Kultklassiker wie »Coma« oder »Gott bewahre«. Neben Romanen schreibt John Niven Drehbücher. Er wohnt in der Nähe von London.

1

Alan Grainger durchforstete seinen Wortschatz nach einem anderen Begriff für »Unverschämtheit«, als er von Covent Garden kommend die Charing Cross Road überquerte. In seiner Innentasche trug er ein kleines Moleskin-Notizbuch bei sich, in das er beim Verzehr seines Mittagssnacks bereits ein paar Zeilen – mehrheitlich Verunglimpfungen – notiert hatte.

Bezahlbarer Wohnraum, besseres Verkehrsmanagement, mehr Nachtclubs. Es gibt so einiges, was London gerade bitter nötig hat. Was die Stadt allerdings sicher nicht braucht, ist ein weiterer Pop-up-Store, der überteuerte Brioche-Burger verhökert.

Während er an diesem Satz feilte – seinem aussichtsreichsten Kandidaten für den Artikeleinstieg –, passierte er eine schmale Gasse, die nach Chinatown führte. Sofort erfüllte der Duft von gebratener Ente die kalte Novemberluft. Seine Pläne für den restlichen Nachmittag beschränkten sich darauf, eine ruhige Ecke im Soho House oder dem Groucho zu finden, dort eine große Tasse Kaffee zu trinken, um den zwei Bieren vom Mittagessen etwas entgegenzusetzen, und seine Restaurantkritik fertig zu schreiben. Gegen 16 Uhr, rechtzeitig vor Beginn der Rushhour, würde er dann den Zug nach Hause nehmen. Er verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen, um sich etwas Erleichterung von dem unangenehmen Völlegefühl zu verschaffen. Verstopfung. Eine Berufskrankheit.

Zumutung! Das war das Wort, nach dem er gesucht hatte.

Er blieb an der Kreuzung zur Gerrard Street stehen und zog mit vor Kälte starren Fingern das Notizbüchlein aus der Innentasche seines warmen Wintermantels.

»Aye. Alles klar, Kumpel?«

Die Stimme klang schottisch – wie sein eigener Dialekt.

Es war einer dieser sehr kalten, sehr klaren Wintertage. Der Himmel über London strahlte in einem harten, tiefen Blau, vor dem sich wie in einer Comiczeichnung die Silhouetten der Schornsteine und Fernsehantennen abzeichneten. »Die erste Zumutung …«, kritzelte er und strich das Wort »Unverschämtheit« durch.

»Aye, alles klar?«

Die Stimme war ganz nah, irgendwo zu seinen Füßen.

»… besteht darin, den Gast fünfunddreißig Minuten auf einen Tisch warten zu lassen …« Das neue Ding: keine Reservierungen. Mit Ende vierzig empfand Alan diesen Trend als einen der größten evolutionären Rückschritte der Menschheit.

»Alles klar, Alan?«

»… wurde noch übertroffen …«

Moment mal – woher kannte der Kerl seinen Namen?

Alan hob den Blick. Oder senkte ihn vielmehr. Ein Penner saß vor ihm auf dem Bürgersteig. Den Rücken hatte er gegen die Außenwand eines Kinos gelehnt, das eine Seite des schmalen Durchgangs bildete, der ins Gassengewirr von Soho führte. Er blickte Alan aufmerksam, beinahe amüsiert an. Und er aß irgendwas. Irgendein in Alufolie gewickeltes Ekelzeug, ein Falafel- oder Kebab-Sandwich oder so einen Fraß. Zögerlich näherte sich Alan dem Mann. Das Notizbüchlein verschwand wieder in seinem Wintermantel, und seine rechte Hand wanderte reflexhaft in die Hosentasche, um nach Kleingeld zu kramen.

Eigentlich war es gar nicht so verwunderlich. Alans Bild erschien regelmäßig in der Zeitung. Passfotogroß fand es sich neben seiner wöchentlichen Kolumne und noch größer neben den vereinzelten Interviews oder Artikeln. Hin und wieder war er auch im Radio oder Fernsehen zu Gast. Vielleicht las dieser Kerl, wenn er nachts in einer Unterführung kauerte oder auf einer Parkbank lag, gerne mal eine Restaurantkritik, bevor er sich ins Dosenbierkoma verabschiedete. Aus kurzer Distanz fiel Alan auf, dass sein Gegenüber ungefähr in seinem Alter war. Da hörten die Gemeinsamkeiten aber auch schon auf. Der Penner trug schmuddelige Jeans, abgenutzte Billigturnschuhe und war offenbar in eine Art Parka gewickelt. Das Haar des Mannes war lang und fettig, aber frei von grauen Strähnen, wie sie sein eigenes Haar durchzogen, stellte Alan nicht ohne Neid fest. Er setzte ein schiefes Lächeln auf, so eine Art gönnerhafte »Toitoitoi!«-Miene, bevor er vier handwarme Münzen aus der Hosentasche fischte.

»Wie isses dir ergangen?« Der aufgeräumte, lockere Ton des Penners schien zu suggerieren, dass sie beide eigentlich Freunde waren, die sich letzte Woche noch gesehen hatten. Ja, er war eindeutig Schotte. Gut möglich, dass ihn jetzt ein Gespräch über die Vorzüge ihrer gemeinsamen Heimat erwartete. Wie sehr sie diese vermissten. Dabei waren beide vermutlich aus gutem Grund nach London gegangen.

»Danke, gut …«, sagte Alan. Er suchte nach etwas, wo er die Münzen hineinwerfen konnte, nach einer Mütze oder Kappe oder dem modernen Äquivalent zur Bettelschale: dem ramponierten Pappbecher von Subway, Burger King oder KFC. Es schien ihm unangemessen, sich nach dem Wohlergehen seines Gesprächspartners zu erkundigen, der schließlich bettelnd auf der Straße saß. Nur dass Alan beim besten Willen kein Geldbehältnis entdecken konnte. Ohne zu wissen, wohin mit den Münzen, hing seine ausgestreckte Hand untätig in der Luft. In der eisigen Luft. Ihre Blicke begegneten sich.

»Ich dachte, du würdest mich erkennen.«

Nicht Alan sagte das, sondern der Penner.

»Woher …«, setzte Alan an, ohne den Satz zu Ende zu bringen. Denn jetzt, da Alan sich mit seiner Hand voller Münzen halb über den Fremden beugte, sahen sie einander direkt ins Gesicht. Er sprach den Satz nicht zu Ende, weil er dem Gesicht des Penners nah genug war, um dieses Funkeln in den Augen, die Lachfältchen in dessen Mundwinkeln und die leicht schiefen Schneidezähne zu sehen, die seit ihrer letzten Begegnung zu braunen Stumpen verfault waren. Seit sie …

»Craig?«, fragte Alan, wobei sich der Name wie ein einziges großes Fragezeichen anhörte.

»Lang ist’s her, Kumpel.«

Ein Wirbelwind widersprüchlicher Gefühle stürmte auf Alan ein. Schock, selbstverständlich. Mitleid. Die Sorte tief empfundenes, reflexartiges Mitleid, wie es einen beim Anblick der Not einer anderen Kreatur überkommt. Und zuletzt und am offenkundigsten natürlich Freude. Freude darüber, wie bildhaft uns das Universum doch gelegentlich den eigenen Erfolg vor Augen führt und uns demonstriert, wie weit wir es gebracht haben. Wie gut wir unsere Chance zu nutzen wussten, wohingegen andere …

Denn dort, auf dem kalten Bürgersteig von Londons Innenstadt, saß einer seiner ältesten Freunde. Jemand, der ihm, als sie beide noch Teenager gewesen waren, so nahegestanden hatte wie nur irgend möglich. Ein Freund, dem er seit fast fünfundzwanzig Jahren nicht mehr von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hatte.

Weshalb er die Frage nun doch stellen musste. Ganz gleich, wie unangemessen sie sein mochte. »Wie … geht’s dir?«

»Tja«, seufzte Craig Carmichael und deutete mit seiner behandschuhten Linken auf sich, den Platz auf dem Bürgersteig sowie das dünne Stück Pappe, das ihm als Bleibe diente. »Du siehst es ja selber.«

»Heilige Scheiße, Craig. Gottverdammte Scheiße.«

»Was treibst du gerade?«, fragte Craig und biss in seinen in Alufolie verpackten Snack. Dabei schlug er einen Plauderton an, als wären sie zwei Geschäftsreisende im Nadelstreifenanzug, die sich im Flughafenterminal in die Arme gelaufen sind. Zwei alte Schulfreunde, die sich zufällig an einem Drehkreuz des internationalen Reiseverkehrs begegneten. Und Alan? Alan hatte Probleme, sich auf den Beinen zu halten. Was sollte er tun? Sich neben Craig setzen, frei nach dem Motto »He, ich bin auch nicht anders als du«? Oder stehen bleiben?

»Ich …«, stammelte Alan. »Ich arbeite nur ein bisschen.«

»Du schreibst?«

»Ich … ja, genau.«

Schweigen. Der Wind strich durch die Gasse, als würde er nicht mehr aus ihr herausfinden. Was gab es noch zu sagen?

»Hör mal«, murmelte Alan mit Blick auf seine Uhr. »Hast du vielleicht Lust, was zu trinken?«

Später, sehr viel später, sollte Alan allen Grund haben, sich zu fragen, wie völlig anders die Dinge sich wohl entwickelt hätten, wenn ihm dieser Satz nicht über die Lippen gekommen wäre. Die entscheidenden Weichen des Lebens: winzige Augenblicke, denen wir keine große Tragweite beimessen. Doch nichts bleibt folgenlos.

* * *

Da viele Läden wegen Craigs Aussehen von vornherein ausschieden (wobei Alan annahm, dass sein alter Freund im Groucho als schräger britischer Künstler durchgegangen wäre), landeten sie letztlich im Coach & Horses auf der Greek Street. Sie quetschten sich an einen der kleinen Tische am Ende der Bar, gleich neben den Toiletten – Craig mit einem Pint und Alan mit einem halben.

»Prost«, sagte Alan.

»Aye, prost«, erwiderte Craig und stieß mit ihm an.

Prost? Ernsthaft? Im Hinblick darauf, wie sehr Craig zweifellos vom Schicksal gebeutelt war, empfand Alan es beinahe als zynisch, mit ihm anzustoßen. Offenbar trug sein alter Freund mehrere Schichten Kleidung übereinander. Die Sohlen seiner Turnschuhe waren halb abgerissen. Seine wenigen Habseligkeiten, bestehend aus Schlafsack, Rucksack und einer Tragetasche, lagen unter dem Stuhl...

Erscheint lt. Verlag 30.10.2017
Übersetzer Stephan Glietsch
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel No Good Deeds
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Absturz • Britischer Humor • eBooks • Freundschaft • Gesellschaftsroman • Gesellschaftssatire • London • Rockstar • Roman • Romane • Schottland • Sozialer Abstieg
ISBN-10 3-641-17479-1 / 3641174791
ISBN-13 978-3-641-17479-8 / 9783641174798
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 3,0 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von Wolf Haas

eBook Download (2025)
Carl Hanser Verlag München
18,99
Roman

von Percival Everett

eBook Download (2024)
Carl Hanser Verlag München
19,99
Roman

von Chimamanda Ngozi Adichie

eBook Download (2025)
S. Fischer Verlag GmbH
19,99