Wie spät ist es jetzt dort, wo du bist? (eBook)
256 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-05291-8 (ISBN)
Colum McCann wurde 1965 in Dublin geboren. Er arbeitete als Journalist, Farmarbeiter und Lehrer und unternahm lange Reisen durch Asien, Europa und Amerika. Für seine Romane und Erzählungen erhielt McCann zahlreiche Literaturpreise, unter anderem den Hennessy Award und den Rooney Prize for Irish Literature. Zum internationalen Bestsellerautor wurde er mit den Romanen Der Tänzer und Zoli. Für den Roman Die große Welt erhielt er 2009 den National Book Award. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in New York.
Colum McCann wurde 1965 in Dublin geboren. Er arbeitete als Journalist, Farmarbeiter und Lehrer und unternahm lange Reisen durch Asien, Europa und Amerika. Für seine Romane und Erzählungen erhielt McCann zahlreiche Literaturpreise, unter anderem den Hennessy Award und den Rooney Prize for Irish Literature. Zum internationalen Bestsellerautor wurde er mit den Romanen Der Tänzer und Zoli. Für den Roman Die große Welt erhielt er 2009 den National Book Award. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in New York. Dirk van Gunsteren, 1953 geboren, übersetzte u.a. Jonathan Safran Foer, Colum McCann, Thomas Pynchon, Philip Roth, T.C. Boyle und Oliver Sacks. 2007 erhielt er den Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis.
IV
Ein Mann und eine Frau
Sind eins.
Ein Mann und eine Frau und eine Amsel
Sind eins.
Früher war das Falten einer Zeitung fast so etwas wie eine Kunstform. Damals, als sie die Sommer auf Long Island verbrachten. Als er noch ein junger Spund war. Als er mit den anderen Anzug- und Krawattenträgern in der LIRR saß. Es war eine besondere Fertigkeit, die Zeitung säuberlich in lange, schmale Streifen zu falten. Die choreographierte Fahrt im Pendlerexpress. Ein frühmorgendliches Ballett. Man saß zu dritt nebeneinander, Knie an Knie, und blätterte um, ohne die Ellbogen des Nachbarn zu berühren. Sparsamste Bewegungen. Die Penibleren falteten die Zeitung entlang der Spaltenzwischenräume: vier schlanke Säulen aus eng bedruckten Zeilen, akkurat wie die Säume eines maßgeschneiderten Anzugs. Damals, als man noch höflich und respektvoll war. Aktentaschen und Schirme und aufgehaltene Türen. Gelegentlich war ein Schmock dabei, der keine Ahnung hatte, wie man eine Zeitung faltet, und der fuchtelnd und raschelnd dasaß, respektlos, ein Akkordeon aus Ellbogen – aus demselben Nest gekrochen wie die Leute, die ihre Fahrkarte nicht fanden, ihren Kaffee verschütteten und immer an irgendwas herumfummelten, Geräusche machten, Unruhe erzeugten. Wenigstens gab es damals noch keine Handys.
Vergangene Woche ist er mit dem Zug nach Stamford gefahren, zu Elliot und seinem Haus – seinem Anwesen, muss man wohl sagen. Ein schreckliches Ding: vierzehn Zimmer, Swimmingpool, Medienraum und Garage mit fünf Stellplätzen, aber alles irgendwie billig, irgendwie schäbig, genau wie das Nachbarhaus und das daneben, eine ganze Straße mit Ikea-Häusern, so viel reiches Mittelmaß, und mittendrin sein Sohn, sein großer, glatzköpfiger Sohn. Wer hätte das gedacht? Die Glatze, die massige Statur, die Dummheit, das alles in einem Haus, das es darauf anlegt, den Besucher zu Tode zu langweilen: kein Charakter, überall helles Holz und indirekte Beleuchtung und klinisch weiße Geräte. Ganz zu schweigen von seiner nagelneuen Frau, Nummer drei, die ebenfalls ein klinisch weißes Gerät und direkt aus der Stanzmaschine in Elliots Leben getreten ist. Sie könnte ebenso gut aus der Mikrowelle gesprungen sein. Ihre Haut ist orangerot, ihre Zähne sind perlweiß. Eine Trophäe. Aber was ist das, eine Trophäe? Etwas, das man auf einer Safari erlegt.
Gut, dass Eileen sie nie kennengelernt hat. Sie hatte so große Hoffnungen in ihren hochgewachsenen, großen Jungen gesetzt, und was hat sie gekriegt, außer keine Enkel, eine Schiffsladung Sorgen und zwei Scheidungen? Dazu die Tatsache, dass Jacintha drei Söhne mitgebracht hat, eine Instant-Vaterschaft für Elliot, wie aus dem Katalog bestellt, nichts als Beine, Pickel und Angst. Seine Stiefenkel sind ein blubbernder Pubertätseintopf, er kann sich kaum an ihre Namen und gar nicht an ihre Gesichter erinnern, und wer kommt auf die Idee, seinen Sohn Aldous zu nennen? Dies ist keine schöne neue Welt.
Wo war ich? In letzter Zeit schweifen die Gedanken so leicht ab. Nosce te ipsum. Hat das was mit Handys zu tun? Oder stand es in der Zeitung?
Früher hat er die Zeitung von vorn bis hinten gelesen, nur den Sportteil nicht, und dann hat er sich das Kreuzworträtsel vorgenommen und es in zwanzig Minuten gelöst. Jetzt nicht mehr. Dennoch gehört der geistige Brunch mit der New York Times zu den Höhepunkten des Tages. Man schlägt sie auf und liest einen Artikel über die Zentralafrikanische Republik. Schreckliche Dinger, diese Macheten. All the news that’s fit to splint. Eine Reportage aus Nordkorea. Kein Geld für den Teilchenbeschleuniger. Der bevorstehende Zusammenbruch des Friedensprozesses im Nahen Osten. Ja, natürlich. Schwer vorstellbar, dass er zusammenbricht, denn man weiß ja, dass er eigentlich kaum aufgebaut worden ist. Die arme Katja sitzt dort drüben auf ihrem Diplomatenposten und beschwichtigt und beschwört, und dabei ist es doch eine Tatsache, dass diese Schweinehunde gar keinen Frieden wollen, keiner von denen, ganz gleich, auf welcher Seite sie stehen, ob sie nun Juden oder Araber oder Christen oder Kopten oder was auch immer sind, die wollen sich weiterhin mit Selbstmordattentaten kaputt bomben, und wer darunter zu leiden hat, das ist der Mann auf der Straße, die Frauen natürlich auch, ganz zu schweigen von Katja, die mit seinen halbwüchsigen Enkeln dort drüben sitzt, ohne Bewegungsfreiheit. Es sind gute Kinder – Laura, James, Steven –, aber sie führen ein Leben unter dem Mikroskop, überall sind Bewaffnete, und warum musste sie sich ausgerechnet Israel aussuchen? Hätte sie sich nicht in Belfast oder irgendwo anders einmischen können, wo die Menschen halbwegs vernünftig sind?
Die arme Eileen hasste es, wenn im Fernsehen etwas über Nordirland kam. Dann kam sie regelrecht ins Trudeln. Auch die Iren sprengten sich gegenseitig ohne vernünftigen Grund in die Luft, schleuderten Molotowcocktails, hielten zu Ehren von Toten Paraden ab, mit flatternden Fahnen und König William hoch zu Ross. All diese Kriege, die unermessliche menschliche Dummheit. Israel, Irland, Iran, Irak. Alles Namen, die mit einem I beginnen – obwohl: In Island haben sie es immerhin ganz gut hingekriegt. Eigentlich seltsam, dass aus Island nie irgendwelche Nachrichten über kriegerische Auseinandersetzungen kommen. Aber andererseits: Wer würde wegen einem Stück gefrorener Tundra einen Krieg führen?
Nichts als Elend überall, das ist die Wahrheit. Warum sagen wir nicht einfach, dass die Welt ein Irrenhaus ist, und belassen es dabei? Stimmt’s etwa nicht, Sally? Ich wette, selbst da unten, wo sie herkommt, wird unentwegt um irgendwas gekämpft.
Sally!
Sie hat im Schlafzimmer zu tun, wo sie den Staubsauger hinter sich herzieht und laut singt. Damals, vor einer Ewigkeit, hat mir meine Mutter bei der Hausarbeit auch immer was vorgesungen. Lang, lang ist’s her. In der Küche. Der Ofen war groß und rot und bauchig. Ein riesiges Ofenrohr, das aus irgendeinem Grund blau lackiert war. Da stand sie und wischte die bemehlten Hände an der Schürze ab. All die alten litauischen Lieder. Wildblumen und zugefrorene Kanäle und Flussufer und Fährboote.
Vilnius, Vilno, Wilna, Wilno. Geographie ist eine komplizierte Sache. Später hat seine Mutter ihm von der Welt erzählt, in die er geboren worden war: von den Schlittschuhen, die aus alten Messerklingen gemacht waren, davon, wie das Mondlicht auf den Fluss schien, von der roten Jacke, die sie ihm immer angezogen hatte, von den Handschuhen, die mit Gummibändern an den Ärmeln festgenäht waren, und wie sie gebaumelt hatten, wenn er durch den Kalnu-Park gerannt war. Einmal hatte ein Hund ihn gejagt, verlockt von dieser tanzenden Beute. Überall schwarze Hunde. Er hatte Albträume gehabt. Dann verwandelten sich die Tage in Nacht. Sie verließen gerade noch rechtzeitig die Stadt. Seine Mutter spürte, dass etwas in der Luft lag. Wie viele Kriege hatte es schon gegeben? Armes Vilnius, Vilno, Wilna, Wilno, umbenannt nach jedem Krieg. Wie viele Male war es eingenommen und erobert worden? Eine große, würdevolle Stadt aus gelbem Backstein, mit hohen Giebeln und Schusswunden überall. Sein Vater, ein bekannter Arzt, verkaufte das Haus in der Vokiečiu gatvé, nahm seine Ersparnisse und setzte sich mit seiner Familie in den Zug nach Paris. Das war zu einer Zeit, als man die Grenzen noch ohne Schwierigkeiten passieren konnte. Sie hatten genug Geld. Keine versteckten Schmuckstücke. Kein Segen des Rabbis. Keine verstohlenen Stoßgebete. Auch keine Flüche. Keine Ghettogeschichten. Keine aus dem Fenster geworfenen Kleinkinder. Seine Mutter hatte praktisch alle Traditionen abgelegt. Sie wollte nicht litauisch, polnisch, russisch oder sonst was sein, nicht mal jüdisch. Auch sein Vater war entschiedener Atheist. Nicht an Riten interessiert, auch wenn er manchmal in der Thora las und sogar Teile des Kaddischs zitierte, weil das, wie er sagte, großartige Anleitungen zum Denken seien. An diesem heiligen Ort und jedem anderen sei ihnen die Fülle des Friedens. Oder so ähnlich. Verbeugung nach links, Verbeugung nach rechts. Das wäre doch mal was, oder? Die Fülle des Friedens. Die Chancen dafür stehen schlecht bis sehr schlecht.
Der von einer Dampflok gezogene Zug ratterte vorbei an den hohen, dünnen Bäumen von Deutschland, Belgien und Frankreich. Sie wohnten in einem Hotel am Ufer der Seine. Abends versammelten sie sich in der Hotelküche vor dem Radio, dem Herdfeuer der modernen Welt: all der flammende Hass, die Asche, der Zwist Europas. Die Nächte, Wochen, Monate, Jahre der langen Messer.
Aber dann war es Dublin, mitten im Krieg. Sein Vater hatte eine Stelle am Royal College of Surgeons bekommen. Eine Stadt, die gelassen unter einem großzügigen Himmel lag. Die ihrem Grau applaudierte. Die sich einen Hut daraus machte, einen Homburg, einen Derby aus Trübheit. Ihm gefiel es dort. Es waren seine beiden schönsten Sommer. Ein Haus in der Leeson Street, nicht weit vom Kanal. Er war zehn und trug kurze Hosen mit Hosenträgern und elastische Kniestrümpfe. Er rannte über das Kopfsteinpflaster, kam nach Hause, wenn es dunkel wurde, und saß am warmen Ofen. Eine Treppe. Ein langer Esstisch. In der Mitte zwei silberne Kerzenleuchter. Ach, der Geist ist ein tiefer, tiefer Brunnen. Lass mich hinunter, bis ich das Wasser berühren kann. Er versuchte sogar, sich einen Dubliner Akzent zuzulegen. Auch dies etwas, für das die Chancen schlecht bis sehr schlecht standen.
Morgens rannte er, so schnell er konnte, zum Kanal. Dort gab es zwei herrliche Schwäne, die ihre Hälse elegant verschränkten. Nachmittags ging seine Mutter am grasbewachsenen Ufer mit ihm spazieren, und dann...
Erscheint lt. Verlag | 19.5.2017 |
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Übersetzer | Dirk van Gunsteren |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Afghanistan • Erzählung • Folter • Irland • Krieg • London • Mord • New York • Novelle • Short Story • Überfall • Video-Überwachung • Wallace Stevens |
ISBN-10 | 3-644-05291-3 / 3644052913 |
ISBN-13 | 978-3-644-05291-8 / 9783644052918 |
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