Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur (eBook)

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2017 | 1. Auflage
732 Seiten
C. Bertelsmann (Verlag)
978-3-641-15942-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur -  Sandra Richter
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Seit ihren Anfängen gehören Literatur und Globalisierung zusammen. Denn durch Autoren und Reisende, durch Weitererzähltes und Übersetztes beeinflussen sich Literaturen in vielen Dimensionen. Dieser Prozess hat sich seit der Moderne beschleunigt und intensiviert. Heute bündelt sich die Vielfalt von Lebenserfahrung, Lebensentwürfen und literarischen Traditionen in Werken, die in mehreren Kulturen wurzeln. Und doch wird Literaturgeschichte als Nationalgeschichte geschrieben. Die Literaturwissenschaftlerin Sandra Richter hingegen erzählt die Geschichte deutschsprachiger Literatur erstmals als Weltgeschichte und macht die unterschiedlichen Einflussfaktoren in den jeweiligen Epochen transparent - von den mittelalterlichen Minnesängern bis hin zu deutschen Nobelpreisträgern wie Herta Müller. Eine spannende Erkundung durch mehr als ein Jahrtausend Dichtung.



Sandra Richter, geboten 1973, studierte Literaturwissenschaft und Politik, arbeitete an Universitäten in London und Paris und ist Professorin für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Stuttgart. Sie veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten, wurde mehrfach ausgezeichnet und schreibt u. a. für die ZEIT.

I.

Prolog: Weltliteraturgeschichte als Geschichte der Literaturen weltweit

Boris Karloff als das Monster im Film »Bride of Frankenstein« (1935)

Wenn Monster weinen

Zufällig entdeckt Frankensteins Monster in einem Lederkoffer Goethes Werther und liest. Es reagiert bestürzt auf die Geschichte von Liebe, Eifersucht und Selbstmord. Der vielschichtige Briefroman wird ihm »eine nie versiegende Quelle für Nachdenken und Verwunderung«.1 Werther erscheint dem Monster als »göttliches Wesen«;2 sich selbst hält es für hässlich. Über den Tod Werthers notiert die Kreatur mitfühlend, dass sie »den Ansichten des Helden« zuneigte und sein Ende »beweinte, ohne es richtig zu verstehen«.3 Zwar kann das Monster das Gelesene nicht deuten und einordnen, vielmehr ahmt es Werther lesend nach. Es nimmt das Buch aber gerade deshalb »als Freund« wahr, lernt »Verzagtheit und Düsternis« zu ertragen,4 lässt sich für die eigenen Gefühle und die Gefühle anderer sensibilisieren.

Den Wissenschaftler Viktor Frankenstein motiviert anderes: wissenschaftlicher Ehrgeiz und Ruhmsucht. Der junge Mann will seinen Homunkulus erschaffen. Beim Studium in Ingolstadt lernt er Chemie und Labortechnik kennen. Als Schöpfer seines Monsters erscheint er wie eine moderne Version von Famulus Wagner aus Goethes Faust. Doch schlampt Frankenstein bei der Erfindung seiner Kreatur. Sie lebt zwar, gefällt aber nicht. Er überlässt das Geschöpf sich selbst, weigert sich, ihm eine Monsterfrau für die Liebe im Geiste Werthers zu schaffen, flieht vor der eigenen Schöpfung. Frankensteins Monster mordet, um seinen Erfinder zu strafen. Im Kampf gegen seinen Dämon, den Exzess seiner Wissenschaft und seines Ehrgeizes, stirbt Frankenstein. Das Monster tötet sich in Anbetracht seiner bösen Taten selbst.

Wie kommt die Autorin Mary Shelley (geb. Mary Godwin, 1797–1851) dazu, einen solchen Thriller zu schreiben? Shelley selbst gibt Hinweise: Den Sommer 1816 verbrachte sie mit einer Gruppe Gleichgesinnter am Genfer See, bei Kälte und Dauerregen, vor einem finsteren, von Blitzen durchzuckten Jura-Gebirge, in der Nähe der calvinistischen Stadt Genf, deren Regierung einst den kontroversen Denker Jean-Jacques Rousseau vertrieb.5 Um die Finsternis zu bannen und sich die Zeit zu vertreiben, las man Geistergeschichten, wohl auch Schillers Geisterseher und einiges von Goethe.6 »Die Erzählungen regten in uns einen spielerischen Wunsch an, sie nachzuahmen«, erinnert sich Shelley.7 Auf diese Weise entstand Frankenstein, or: The modern Prometheus (1818), ein Meisterstück der englischen Schauerromantik. Im Sinne einer epochalen Versuchsanordnung stellt Shelleys Roman zwei Texte Goethes gegeneinander – Faust und Werther. Wie nebenbei erneuerte sie damit den Werther-Kult der Elterngeneration: Shelley war die Tochter der Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft (1759–1797) und des anarchistischen Sozialreformers William Godwin (1756–1836) gewesen. Ihnen galt Werther als Hauptbuch der Emanzipation von der ständischen Ordnung und als Fibel für die Liebe. Aus der Sicht von Shelleys Eltern sollte Werther seine Leser Liebe und Unglück zugleich spüren lassen, um sie zu Menschen zu erziehen.8

Mit der Werther-Lektüre des Monsters zitiert Shelley diesen Werther-Kult nicht nur, sondern erklärt den Kampf um Liebe und Anerkennung zu einem zentralen Beweggrund jeder Kreatur. Zugleich wird der Werther-Kult zur kritischen Folie, vor deren Hintergrund sich »das Monster Mensch« im frühen 19. Jahrhundert bewähren muss. In Frankenstein kehren sich die Verhältnisse um: Hier ist der Mensch schlecht und egoistisch, das Monster hingegen bessert sich durch Lektüre und wird durch menschliches Unvermögen zum Mörder. Als neuer Werther, als einsame, melancholische Außenseiterfigur, geht es für seine Gefühle bis zum Äußersten. Frankensteins Monster ist beides: Produkt und Opfer eines Gefühlskults, den der Mensch ebenso wenig kontrollieren kann wie die moderne Wissenschaft.

Das Beispiel der Frankenstein-Werther-Geschichte führt ins Zentrum des vorliegenden Buches. Sie greift jene Fragen auf, die es motivieren: Ist die Werther-Begeisterung in England einmalig oder typisch? Wie kommt es zu einem derartigen und lang anhaltenden Kult um deutschsprachige Literatur? Warum ist sie außerhalb der deutschsprachigen Provinzen überhaupt von Bedeutung? Welche Rolle spielen europäische und globale Literatur- und Kulturtraditionen (hier der Briefroman, die viel beschworene Entdeckung des Menschen und seiner Gefühle) in diesem Zusammenhang? Was tragen Übersetzungen, produktive Aneignungen, interessierte Individuen und Gruppen zur Wahrnehmung und Bearbeitung deutschsprachiger Werke außerhalb ihrer Sprachkulturen bei? Wo lassen sich Knoten und Netzwerke ausmachen, die solche Wahrnehmung und Bearbeitung beschleunigen – oder auch verhindern? Welche Werke faszinieren das große Publikum, welche nur kleine Expertenzirkel – oder hängt das Leserinteresse gar nicht vom Werk selbst ab? Gibt es tatsächlich so etwas wie ästhetische Werte oder anthropologische Konstanten, die Bestand haben, Menschen aller Weltgegenden berühren? Oder ist es gerade der Umsturz ästhetischer Werte in einem Werk, der nachhallt, weil er provoziert und zu immer neuen Deutungen Anlass gibt?

Weltliteratur und Weltgeschichte deutschsprachiger Literatur

Die Frage nach der Wahrnehmung von Literatur außerhalb eines bestimmten Sprach- und Kulturraums scheint paradox: Durch ihre ästhetische Form, ihre Einmaligkeit, ihren Anspruch, Texte und Leser gleich welcher Herkunft anzusprechen, überwindet Literatur die Grenzen ihrer Sprache und Kultur.9 Literatur ist per se multikulturell, transnational, extraterritorial.10 Sie betätigt sich als von Raum und Zeit weitgehend unabhängige Seismografin einer sich schnell verändernden Welt.11 Mit Aristoteles gesprochen: Literatur hebt konkrete Ereignisse und individuelle Gefühle im ästhetisch Allgemeinen auf.

Zugleich aber entsteht Literatur nicht in einer ästhetischen Eigenwelt, sondern unter bestimmten Voraussetzungen der Produktion: in Freiheit oder unter Zwang, in einem oder mehreren Sprachsystemen, vor dem Hintergrund kultureller Erfahrungen. Literatur trifft auf interessierte Agenten, Verleger, Kritiker, Übersetzer, Leser – oder auf Desinteresse und Ablehnung. Literatur bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen dem eigenständigen Kommunikationsraum Literatur einerseits, konkreten Räumen und Zeitläuften andererseits, seien sie lokal oder global.12 Das vorliegende Buch will Literatur aus diesem Spannungsfeld heraus begreifen.

Ein solcher doppelt angelegter Literaturbegriff muss den Wandel der Literatur in den Blick nehmen: Bis ins 18. Jahrhundert hinein galt Literatur noch nicht im heutigen Sinne als fiktional und frei. Unter »Literatur« verstand man alles Geschriebene. Erst im ausgehenden 18. Jahrhundert entwickelte sich ein moderner Literaturbegriff, der Literatur als autonome Kunst bestimmte. Durch die Postmoderne, der zufolge alles Literatur ist, wurde er wieder aufgelöst. Literatur lässt sich daher nur mehr aus dem Gebrauch ihres Begriffs verstehen. Je nach Epoche zählen Reiseberichte, die drei Gattungen Prosa, Drama und Lyrik ebenso dazu wie Comics oder Filmskripte.13

Darüber hinaus hat sich im Laufe der Literaturentwicklung eine besondere Spielart herauskristallisiert: die »Weltliteratur«. Aus der Faszination für die neuen infrastrukturellen Möglichkeiten des literarischen Geschäfts seit dem beginnenden 19. Jahrhundert prägten August Ludwig Schlözer, Christoph Martin Wieland und Johann Wolfgang von Goethe den Begriff. Goethe meinte damit alles weltweit Gelesene. Weltliteratur war aus seiner Sicht eine notwendige und meistens, jedoch nicht immer, angenehme Folge der Moderne und ihrer Kommunikationsformen.14 Aus Anlass einer französischen Übersetzung seiner botanischen Werke schrieb er begeistert:

Dieß sind die unmittelbaren Folgen der allgemeinen Weltliteratur; die Nationen werden sich geschwinder der wechselseitigen Vorteile bemächtigen können. Mehr sag ich nicht, denn das ist ein weit auszuführendes Capitel.15

Weltliteratur verbreitete sich schnell. Goethe zufolge tendiert sie dazu, Werke durch Übersetzungen zu verbessern, lesbarer, allgemeiner zu machen.

Die Nachwelt hat aus Goethe-Zitaten wie dem obigen versucht, Theorien und unterschiedliche, einander widersprechende Begriffe von »Weltliteratur« abzuleiten. Die Spannbreite reicht von der Vergesellschaftung der Weltliteratur zum »Gemeingut«16 bei Karl Marx und Friedrich Engels bis hin zur ideologischen Schändung des Begriffs durch die Nationalsozialisten. Die Nazis wollten der Welt ihre Literatur als »Weltliteratur« auferlegen und scheiterten, erfreulicherweise. Nach dem Zweiten Weltkrieg zerfiel die Weltliteratur-Debatte in mindestens zwei Lager. Ihre Argumente sind noch heute bedeutsam:17 Das optimistische Lager, nach 1945 vertreten durch den Berner Literaturwissenschaftler Fritz Strich,18 entdeckt in der Weltliteratur Verständigungs-,...

Erscheint lt. Verlag 9.10.2017
Zusatzinfo s/w-Abb. im Text und farbige Karten
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Germanistik
Schlagworte Deutsche Literaturgeschichte • eBooks • Faust • Geschichte • Weltliteratur • Werther
ISBN-10 3-641-15942-3 / 3641159423
ISBN-13 978-3-641-15942-9 / 9783641159429
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