Petersburger Erzählungen (eBook)
Nexx (Verlag)
978-3-95870-628-6 (ISBN)
Nikolai Wassiljewitsch Gogol (1809-1852) war ein russischer Schriftsteller ukrainischer Herkunft. Alexander Puschkin wies ihm den Weg in die russische Literatur und wurde Freund und Förderer Gogols. Gogols Novellen übten einen großen Einfluss auf die russische Literatur aus.
Nikolai Wassiljewitsch Gogol (1809-1852) war ein russischer Schriftsteller ukrainischer Herkunft. Alexander Puschkin wies ihm den Weg in die russische Literatur und wurde Freund und Förderer Gogols. Gogols Novellen übten einen großen Einfluss auf die russische Literatur aus.
Der Newski Prospekt
Nichts Schöneres gibt es als den Newski Prospekt, in Petersburg einmal gewiss nicht – hier bedeutet er ganz einfach alles! Kein Glanz, den diese schönste Straße unserer Residenz entbehren müsste! Ich bin mir sicher, dass nicht einer von den bleichgesichtigen Beamten, die die Stadt bevölkern, den Newski Prospekt um alle Güter dieser Welt vertauschen möchte. Nicht Leute nur, die fünfundzwanzig Jahre zählen und im Besitz eines flotten Schnurrbartes und fabelhaft geschnittener Kleider sind, begeistern sich so lebhaft für den Newski Prospekt, nein, auch bejahrte Leute, deren Kinn schon weiße Stoppeln trägt und deren Kopf so blank ist wie ein silbernes Tablett. Und nun die Damen erst! Die Damen sind vom Newski Prospekt womöglich noch entzückter. Und wer ist nicht entzückt von ihm? Wenn man den Prospekt betritt, spürt man sogleich diesen gewissen Duft von frohem Müßiggang. Und bist du auch in dringenden und wichtigen Geschäften unterwegs, betrittst du ihn, hast du jegliches Geschäft vergessen. Das ist der einzige Ort der Stadt, den man nicht aufsucht, weil man muss, zu dem uns nicht nur die Notwendigkeit und das Geschäftsinteresse lenken, die doch sonst ganz Petersburg regieren. Und triffst du einen auf dem Newski Prospekt, dann sieht er nicht so egoistisch aus, wie wenn du ihm zum Beispiel in der Morskaja, der Gorochowaja, Meschtschanskaja oder auf dem Litejnij Prospekt begegnest, kurzum, in einer von den Straßen, wo die nackte Gier und Habsucht und der Kampf ums Dasein aus den Zügen jedes Menschen sprechen, der vorübergeht oder -fährt, sei es im eigenen Wagen, sei es in der Droschke. Und jedermann passiert den Newski Prospekt, die Hauptverkehrsader der Residenz. Hier dürfen Leute aus dem Wyborger und Petersburger Viertel überzeugt sein, ihren Freunden zu begegnen, die sie seit manchem Jahr nicht mehr gesehen haben, weil sie weit draußen an der Moskauer Chaussee und in der Sandberggegend wohnen. Und kein Adressbuch und kein Meldeamt kann besser Auskunft geben als der Newski Prospekt. Allmächtiger Newski Prospekt! Du einzig richtige Promenade der in dieser Hinsicht armen Residenz! Wie fein gekehrt sind deine Bürgersteige, und, du lieber Gott, wie viele Füße hinterlassen ihre Spur darauf! Hier trappt der abgemusterte Soldat mit plumpen schmutzigen Stiefeln, deren Wucht schier den Granit zersprengt; hier huscht der winzige, hauchleichte Schuh der jungen Maid, die ihren Kopf nach jedem eleganten Ladenfenster wendet, wie sich die Sonnenblume stets zum Licht dreht; hier klirrt der Säbel des von großen Hoffnungen erfüllten Fähnrichs und ritzt scharfe Kratzer ins Trottoir – hier führt ein jeder seine Kraft spazieren oder seine Schwäche, die deswegen ja nicht weniger Eindruck machen muss. Und wie geschwind und wie phantastisch wechseln hier die Bilder an einem einzigen Tag! Wie groß die Zahl der Wandlungen in kurzen vierundzwanzig Stunden! Beginnen wir mit jener frühen Zeit des Morgens, da Petersburg nach heißem, frischgebackenem Brote riecht und von betagten Weibern in zerlumpten Kleidern wimmelt, die ihre Plätze vor den Kirchentüren zu erreichen trachten und heftige Attacken auf das Mitleid der Passanten machen. Um diese Stunde ist kein Leben auf dem Newski Prospekt. Die ehrenfesten Kaufleute und ihre Ladendiener schlafen noch in ihren Nachthemden aus holländischer Leinwand oder seifen sich die schönen, glatten Backen ab oder sitzen auch beim ersten Frühstück. Hungrige Bettler lungern vor den Kaffeehäusern; ein sehr verschlafener Ganymed, der gestern Abend, flink wie eine Fliege, mit den Schokoladentassen das Lokal durchflitzte, erscheint, den Besen in der Hand und ohne Schlips, und steckt den armen Teufeln altbackene Pasteten und kümmerliche Kuchenreste zu. Werktätiges Volk eilt durch die Straßen, und zuweilen kreuzt den Prospekt ein Zug von Arbeitern in hohen Stiefeln, so bespritzt mit Kalk, dass selbst der Katherinen-Kanal, der für sein reines Wasser doch bekannt ist, kaum genügen würde, sie zu säubern. Um diese Zeit ist es für Damen wenig ratsam, auszugehen, denn unser Volk bedient sich gern so derber Redensarten, wie sie die Damen höchstwahrscheinlich nicht einmal in unsern Schauspielhäusern von der Bühne hören. Zuweilen trottet ein verschlafener Beamter, der auf dem Weg in die Kanzlei den Prospekt passieren muss, mit seiner Mappe unterm Arm vorüber. Man kann entschieden sagen, dass um die Zeit, das heißt vor zwölf Uhr mittags, der Prospekt für jeden nur ein Mittel und für niemand einen Zweck bedeutet – er füllt sich immer mehr mit Menschen an, von denen aber keiner etwas anderes als seine Arbeit, seine Sorgen und Enttäuschungen im Kopf hat, von denen keiner an die Straße denkt, durch die er geht. Der Arbeiter spricht bloß von einem Silberzehner oder sieben Groschen Kupfer, die alten Männer und die alten Weiber fuchteln mit den Händen und reden laut mit ihrem Bruder Innerlich, wobei sie sich sehr lebhaft zu gebärden pflegen; doch niemand hört darauf, und niemand lacht darüber als allenfalls die buntbejackten kleinen Jungen, die, leere Milchkannen und frisch besohlte Stiefel in den Händen, schnell den Prospekt hinunterrennen. Um diese Zeit kannst du dich kleiden, wie du magst, du kannst – stell dir das vor – statt eines Hutes eine Mütze auf dem Kopf tragen, der Kragen kann dir viel zu weit aus der Krawatte schlüpfen, kein Mensch wird es auch nur bemerken.
Um zwölf Uhr okkupiert den Newski Prospekt die Schar der Hofmeister aus allen Ländern mit ihren Zöglingen, die zierliche batistene Kragen tragen. Die Jones aus England und die Cocq aus Frankreich wandeln Arm in Arm mit ihren Schutzbefohlenen dahin und machen ihnen, pflichtbewusst und gründlich, wie sie sind, geziemend klar, dass Ladenschilder an den Häusern dazu dienen, kundzumachen, was für Waren in dem betreffenden Geschäft zu haben sind. Die Gouvernanten, bleiche Misses und rotbackige Slawinnen, lustwandeln gravitätisch hinter ihren leichtfüßigen, zappeligen kleinen Schülerinnen und rufen ihnen zu, sie möchten ihre linke Schulter etwas höher nehmen und sich freundlichst gerade halten. Kurz, zu dieser Zeit ist unser Newski Prospekt der reinste Pädagogen Prospekt. Wenn aber dann die zweite Stunde naht, verringert sich die Zahl der Gouvernanten, Hofmeister und Kinder, das junge Volk wird allmählich ganz verdrängt von seinen zärtlichen Erzeugern, die da Arm in Arm mit ihren in den mannigfachsten Farben schillernden, nervösen Gattinnen einherstolzieren. Später gesellen sich zu ihnen all die Leute, die daheim noch irgendwelche äußerst wichtigen Pflichten zu erfüllen hatten, als da sind: mit ihrem Arzt vom Wetter und dem kleinen Pickel sprechen, der ihnen an der Nase aufgesprungen ist, sich nach dem Wohlsein ihrer Pferde sowie ihrer selbstverständlich hochbegabten Sprösslinge erkundigen, den heutigen Theaterzettel lesen und in der Zeitung nach den angekommenen und abgereisten Fremden sehen, Tee oder Kaffee trinken und so weiter. Des Weiteren erscheinen um die Zeit die Staatsbeamten, die unter allen wohl das beste Los gezogen haben; ich meine: die Beamten zu besonderer Verwendung. Ferner erblickt man hier Beamte aus dem Außenministerium, die sich bekanntlich der feudalsten Umgangsformen rühmen dürfen. Gott, was es für schöne Ämter und Posten gibt! Wie muss solch eine Tätigkeit den Geist erheben und ergötzen! Aber, oh weh, ich stehe leider nicht im Staatsdienst und bin darum des großen Glücks beraubt, die schmelzende Behandlung hoher Vorgesetzten zu genießen. Und alles, was uns jetzt auf dem Prospekt begegnet, ist überströmt von Vornehmheit: Herren in langen Überröcken, mit den Händen in den Taschen, Damen in rosa, weißen und blassblauen Atlasmänteln und mit schicken Hüten. Wir sehen einzigartige Favoris (Anm.: schmaler, knapp bis ans Kinn reichender Backenbart), die mit erstaunlicher, nie dagewesener Kunst hinter die Halsbinde gesteckt sind, samtweiche, atlasblanke Favoris, so schwarz wie Breitschwanz oder Kohle, letzteres freilich leider nur bei Herren aus dem Außenministerium. Beamten anderer Behörden hat Gottes Wille schwarze Favoris versagt; sie müssen sich, so schwer es ihnen fällt, mit rötlichen behelfen. Wir sehen hier Schnurrbärte von der wunderbarsten Art, die keine Feder schildert und kein Pinsel malt; Schnurrbärte, denen sicherlich die bessere Hälfte des Lebens ihrer Inhaber gehört und die sich Tag und Nacht der treuesten Pflege zu erfreuen haben; Schnurrbärte, die mit den wohlriechendsten Essenzen übergossen, die mit den feinsten, seltensten Pomaden eingefettet und zur Nacht in allerkostbarstes Velinpapier gewickelt werden; Schnurrbärte, denen ihre Besitzer die rührendste Anhänglichkeit bezeigen und die den Neid jedes Begegnenden erwecken müssen. Hier, auf dem Newski Prospekt, wird unser Blick geblendet durch Zehntausende von Hüten, Damenkleidern, leichten, bunten Schals, denen gar oft zwei volle Tage lang die Neigung ihrer Trägerinnen treu bleibt. Ist es doch, als löse sich auf einmal eine ganze Flut leuchtender Schmetterlinge von der Erde und gaukle, einer bunten Wolke gleich, über dem schwarzen Käfervolk der Männer durch die Luft. Hier sehen wir so schlanke Taillen, wie wir sie in unsere kühnsten Träumen nie gesehen haben, Taillen, nicht viel dicker als ein Flaschenhals, so fein und zart, dass wir bei der Begegnung achtungsvoll beiseite weichen, aus lauter Angst davor, sie etwa mit dem Ellenbogen unsanft zu berühren; ja, unser Herz erbebt und zittert in der Furcht, wir könnten schon durch einen unbesonnenen Atemzug solch wunderherrliches Erzeugnis der Natur und Kunst zerbrechen. Und was für Damenärmel erst uns auf dem Newski Prospekt begegnen! Diese Pracht! Sie gleichen fast zwei Luftballons, als müsste sich so eine Dame ganz von selber in die Luft erheben, wenn sie von ihrem Mann nicht festgehalten würde. Ist es denn nicht genauso...
Erscheint lt. Verlag | 2.4.2017 |
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Verlagsort | Villingen-Schwenningen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Lyrik / Dramatik ► Lyrik / Gedichte | |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Akakijewitsch • Das Porträt • Der Mantel • Der Newski Prospekt • Geschichte • Kalinkinbrücke • Meisternovellen • Nicolai Gogol • Sankt Petersburg |
ISBN-10 | 3-95870-628-2 / 3958706282 |
ISBN-13 | 978-3-95870-628-6 / 9783958706286 |
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Größe: 552 KB
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