Das Leben der Ursula Schulz (eBook)
404 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7448-4170-2 (ISBN)
Peter Koletzki, geboren 1943 in Posen, lebt seit 1948 in Hamburg. Nach der mittleren Reife begann er eine Lehre als Schiffsmakler und machte sich in diesem Beruf selbstständig. 2010 übergab er die Firma an seinen ältesten Sohn. Er bekleidet eine Reihe von Ehrenämtern, seine Hobbys sind Sport, Reisen und Schreiben.
Dessau-Roßlau
Als die Stadtgrenze erreicht war, nahm Heinsen eine Zählung vor. Auf drei Wagen verteilten sich vier Männer, sechzehn Frauen und zwölf Kinder.
»Wie ihr wisst, haben wir eine andere Route genommen als ursprünglich geplant«, begann Heinsen. »Das war gut für uns, aber jetzt haben wir das Problem, dass wir hier von den offiziellen Versorgungsstellen nicht angenommen werden, weil wir nicht angemeldet sind. Etwa drei Kilometer von hier gibt es einen alten Gasthof. Wir können den ehemaligen Tanzsaal zum Schlafen bekommen. Dort können wir unser Gepäck ordnen und uns endlich mal wieder waschen. Dann versuchen wir, einen Platz in einem Zug zu bekommen. Bis dahin rührt sich keiner vom Fleck – sonst ist sein Platz weg. Einverstanden?« Dann sah er meine Mutter an. »Fräulein Schulz, können wir kurz miteinander reden?«
Beide tuschelten miteinander, und bald machte meine Mutter eine abwehrende Handbewegung. Danach ging das Gespräch deutlich erregter weiter. Schließlich sah es so aus, als ob meine Mutter nachgeben würde. Sie ging zum Wagen zurück, nestelte an ihrem Gepäck herum und drückte Heinsen ein kleines in Papier eingeschlagenes Päckchen in die Hand. Der Kommentar, den sie dazu abgab, schien Heinsen nicht zu erfreuen. Brüsk drehte er ab.
Lotte kam auf meine Mutter zu. »Ursel, kann ich dir helfen? Hier stimmt doch etwas nicht.«
Meine Mutter sah verzweifelt aus. »Lotte, du weißt, dass ich mich dir ganz anvertraue. Und vorhin habe ich euch erzählt, wie ich für Bertl und sein Tabakgeschäft zu einer wichtigen Schaltstelle wurde. Ich habe den gesamten Tabak, der sich bei mir angesammelt hat, dabei. Glaub mir, das ist eine ganze Menge. Irgendwie hat das Heinsen im wahrsten Sinne des Wortes gerochen. So ist das halt: Ich brauche ihn, weil ich für Peterle Lebertran brauche, und er nutzt das für sich aus. Heinsen macht für mich Tauschgeschäfte. Aber langsam wächst mir das über den Kopf. Wenn wir in dem Gasthof unterkommen, wird das von mir bezahlt, mit meinem Tabak. Es gibt nichts mehr umsonst, schon lange nicht. Für alles muss bezahlt werden, und Heinsen zapft mich regelmäßig an. Ich muss hier weg, Lotte. Irgendwann kommt es zum Streit mit ihm.«
Lotte war die Verwirrung anzusehen, aber sie beschloss, sich mit dieser Erklärung zufrieden zu geben. Sie wusste, dass meine Mutter eine ehrliche, verlässliche Frau war.
Stunden später erreichten unsere Wagen den Gasthof. Schwerfällig und steif gefroren stiegen alle ab und reckten und streckten sich. Die Männer begannen, das Gepäck abzuladen, während sich die Mütter mit den Kindern eine Schlafecke einrichteten. Das Besitzerehepaar hieß alle willkommen und verteilte eine dünne, aber warme Suppe. Dazu gab es Brot und ein wenig Käse. Für die Kinder war die warme Milch am wichtigsten.
Alle waren zum Umfallen müde und hatten nur einen einzigen Wunsch: warm und ohne Angst ein paar Stunden schlafen zu können.
Entschlossen zog sich meine Mutter mit Lotte und Margaretha in eine Ecke zurück. Die beiden sahen sie neugierig an.
»Ich bin so müde wie ihr und muss unbedingt endlich mal richtig schlafen. Aber ihr sollt wissen, was hier vorgeht.« Sie atmete tief durch. »Von dem Tabakgeschäft, das ich von Bertl geerbt habe, habe ich euch erzählt. Alles in allem hatte ich mehr als zehn Kilo Tabak und ziemlich viele Päckchen mit feinstem Zigarettenpapier gehortet. Von dem Teil, der mir gehören sollte, habe ich nach und nach Schmuck gekauft, guten, teuren Schmuck. Das ist meine Währung, mit der ich mir und Peterle ein neues Leben schaffen möchte. Wenn jemand erfährt, was für Sachen ich hier mit mir herumtrage, muss ich um mein Leben fürchten. Inzwischen schlagen sich die Leute doch schon für ein Stück Brot den Schädel ein. Heinsen hat keine Ahnung, wie viel Tabak ich habe, er darf es auch nicht erfahren. Aber er ist hartnäckig, er wird mir keine Ruhe geben. Deshalb muss ich schauen, dass ich hier wegkomme.«
Lächelnd fügte sie hinzu: »So, jetzt kennt ihr alle meine Geheimnisse. Die anderen, die es sonst noch gibt, behalte ich lieber für mich. Seid mir bitte nicht böse, ich leg mich jetzt hin und will endlich mit Peterle mal wieder kuscheln. In den letzten Tagen hat er mich doch kaum gesehen.«
Am nächsten Morgen erwachten wir, weil es im Saal sehr unruhig war. Fast alle waren bereits wach, viele redeten, es gab Ersatzkaffee und einige Scheiben Brot für jeden. Ein regelrechter Luxus angesichts der allgemeinen Not.
Alle stellten sich die Frage, wie es weitergehen sollte. Wohin konnte man fliehen? Und musste man dafür noch mehr Sachen zurücklassen? Nach wie vor gingen die meisten davon aus, in absehbarer Zeit in ihre Heimat zurückkehren zu können. Dann würden sie alles, was sie mit sich schleppten, wieder benötigen.
Mittlerweile schrieb man den 28. Januar. Ein Sonntag. Die Nachrichten, die man aus Posen hörte, waren schrecklich. Die Stadt war von den Russen komplett eingeschlossen worden. Ihr Vormarsch war nicht aufzuhalten. Die Kampftruppen zogen an den großen Städten im Warthegau, in Schlesien und Pommern vorbei in Richtung Westen. Wo immer die Rote Armee einmarschierte, herrschte Chaos und es kam zu den Übergriffen, wie sie immer befürchtet worden waren. Auch unter den Flüchtlingen in Guben nahm die Panik zu.
Meiner Mutter standen die Sorgen ins Gesicht geschrieben, als sie sich ihren Freundinnen zuwandte. »Darf ich euch bitten, auf Peterle aufzupassen? Ich will mal rausgehen, um zu sehen, was hier wirklich los ist.« Zuvor hatte sie ihrem Rucksack zwei kleine Päckchen entnommen.
Lotte schob sich nach vorn. »Natürlich, Ursel, wir passen auf. Sei vorsichtig, und vielleicht kannst du Milch bekommen?«
Meine Mutter sah sie überrascht an. »Warum? Was ist los?«
»Ich glaube, Margaretha hat Probleme. Sie klagt über Mattigkeit, vermutlich hat sie Fieber. Ich werde versuchen, einen Arzt zu finden. Sie hat eine belegte Zunge, und an ihrem Oberkörper sind so merkwürdige Verfärbungen.«
Als meine Mutter rausgegangen war, lief ihr der Wirt des Gasthofs über den Weg. »Na, junge Frau. Einkäufe machen? Das vergessen Sie mal besser. Die Stadt ist ausgeplündert, da ist nichts mehr zu holen. Noch nicht mal die Herrschaften der NSDAP haben Reserven. Sie können es ja mal beim Roten Kreuz versuchen, aber da möchte ich lieber nicht die Schlangen sehen.«
»Ach, wissen Sie, mit Geld geht doch alles, oder?«
Er lachte höhnisch. »Geld? Wer will schon Geld! Nee, meine Liebe, da muss schon mehr passieren. Schmuck, Tabak, Zigaretten, damit kann man sich über Wasser halten, aber Geld? Schöne Ringe haben Sie da an den Fingern. Das wär vielleicht was, aber sonst.« Wieder einer, der sich nur am Elend der anderen bereichern will, dachte meine Mutter und ließ ihn stehen.
In der Stadt herrschte ein gewaltiges Durcheinander. Meine Mutter war überrascht, dass es offenbar keinen Evakuierungsbefehl gegeben hatte, überall waren Zivilisten. Ständig kamen neue Trecks an. Gleichzeitig war sie beunruhigt über die massive Präsenz des Militärs. Sogar Waffen-SS mit schwerem Gerät war zu sehen.
Sie stand an einer großen Kreuzung, wo sich Treckwagen, Truppeneinheiten und Flüchtlinge zu Fuß gegenseitig behinderten. Eine Gruppe Kradmelder preschte mit ihren Motorrädern durch jede sich bietende Lücke. Es wurde geschrien und geschimpft, und in dem ganzen Durcheinander saßen alte Frauen, alte Männer und Kinder, völlig apathisch. Sie waren mit ihren Kräften am Ende.
Hinter ihr näherte sich eine Gruppe von Offizieren der Kreuzung. »Was ist denn das hier für eine Sauerei!«, brüllte einer von ihnen. »Wieso wird hier der Verkehr nicht geregelt?« Mit einer Pfeife im Mund und in Begleitung zweier Uniformierter ging er furchtlos mitten auf die Kreuzung und breitete seine Arme aus. Als hätten alle auf eine ordnende Hand gewartet, trat zumindest für einen kurzen Moment Ruhe ein.
»Die Trecks zur Seite, aber dalli. Los, los, links, rechts, in die Büsche«, kommandierte er herum. Die Kutscher fluchten, so schnell konnten sie mit ihren Wagen nicht ausweichen. Ein Trupp Volkssturm, der sich der Kreuzung näherte, wurde sofort angehalten. »Los, Männer, helft da drüben, damit nicht unnötig viel kaputt geht. Die Leute müssen ja auch irgendwie weiterkommen. Also angepackt!«
»Moment, Moment«, meldete sich im Rücken des Offiziers eine Stimme. »Über meine Leute bestimme ich, und wir haben einen ganz anderen Stellungsbefehl auszuführen.«
Provozierend langsam drehte sich der Offizier um, musterte den älteren Mann und sagte mit schneidender Stimme: »Siehst du das hier?« Er deutete an seinen Hals. »Guck genau hin. Ich hab mein Ritterkreuz nicht, damit ich mir von Leuten wie dir etwas sagen lasse. Militärischen Einheiten ist unverzüglich Platz zu machen, oder willst du mit deinen Pappnasen Krieg führen? Also,...
Erscheint lt. Verlag | 29.3.2017 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
ISBN-10 | 3-7448-4170-7 / 3744841707 |
ISBN-13 | 978-3-7448-4170-2 / 9783744841702 |
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