Das Glück der Gleichgültigen (eBook)

Von der stoischen Seelenruhe zur postmodernen Indifferenz
eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
270 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-688-10214-3 (ISBN)

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Das Glück der Gleichgültigen -  Manfred Geier
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?Gleichgültigkeit? gehört zu den fundamentalen Erfahrungen des Menschen. Jeder kennt diese Stimmung, die von einem partiellen Desinteresse bis zur vollkommenen Teilnahmslosigkeit an allem reichen kann. Diese enzyklopädisch ausgerichtete Untersuchung umspannt die Entwicklung vom stoischen Lob der Gleichgültigkeit bis zu ihren neuzeitlichen Abwehrstrategien. Sie folgt kulturgeschichtlich den Spuren, die Gleichgültigkeitserfahrungen in Mystik, Nihilismus und literarischer Moderne hinterlassen haben. Sie endet mit einer phänomenologischen Analyse der ?postmodernen? Situation, in der Indifferenzen alle gesellschaftlichen Lebensbereiche zu beherrschen drohen.

Manfred Geier, geboren 1943 in Troppau, studierte Germanistik, Philosophie und Politik in Frankfurt/Main, Berlin und Marburg. Er lehrte viele Jahre Sprach- und Literaturwissenschaften an den Universitäten Marburg und Hannover. Jetzt lebt Manfred Geier als freier Publizist in Hamburg.       Buchpublikationen, u.a.: Das Sprachspiel der Philosophen. Reinbek 1989; Der Wiener Kreis. Reinbek 1992; Karl Popper. Reinbek 1994; Das Glück der Gleichgültigen. Reinbek 1997; Orientierung Linguistik. Reinbek 1998; Fake. Leben in künstlichen Welten. Reinbek 1999; Kants Welt. Reinbek 2003; Martin Heidegger. Reinbek 2005; Worüber kluge Menschen lachen. Reinbek 2006; Was konnte Kant, was ich nicht kann? Reinbek 2006; Die Brüder Humboldt. Reinbek 2009; Aufklärung. Das europäische Projekt. Reinbek 2012; Geistesblitze. Eine andere Geschichte der Philosophie. Reinbek 2013; Leibniz oder Die beste der möglichen Welten. Reinbek 2016 (als E-Book); Wittgenstein und Heidegger. Die letzten Philosophen. Reinbek 2017.  

Manfred Geier, geboren 1943 in Troppau, studierte Germanistik, Philosophie und Politik in Frankfurt/Main, Berlin und Marburg. Er lehrte viele Jahre Sprach- und Literaturwissenschaften an den Universitäten Marburg und Hannover. Jetzt lebt Manfred Geier als freier Publizist in Hamburg.       Buchpublikationen, u.a.: Das Sprachspiel der Philosophen. Reinbek 1989; Der Wiener Kreis. Reinbek 1992; Karl Popper. Reinbek 1994; Das Glück der Gleichgültigen. Reinbek 1997; Orientierung Linguistik. Reinbek 1998; Fake. Leben in künstlichen Welten. Reinbek 1999; Kants Welt. Reinbek 2003; Martin Heidegger. Reinbek 2005; Worüber kluge Menschen lachen. Reinbek 2006; Was konnte Kant, was ich nicht kann? Reinbek 2006; Die Brüder Humboldt. Reinbek 2009; Aufklärung. Das europäische Projekt. Reinbek 2012; Geistesblitze. Eine andere Geschichte der Philosophie. Reinbek 2013; Leibniz oder Die beste der möglichen Welten. Reinbek 2016 (als E-Book); Wittgenstein und Heidegger. Die letzten Philosophen. Reinbek 2017.  

Über «Alles»


Ingeborg Bachmanns Porträt eines Gleichgültigen

Es war auch mir gewiß, daß wir in der Ordnung bleiben müssen, daß es den Austritt aus der Gesellschaft nicht gibt und wir uns aneinander prüfen müssen. Innerhalb der Grenzen aber haben wir den Blick gerichtet auf das Vollkommene, das Unmögliche, Unerreichbare, sei es der Liebe, der Freiheit oder jeder reinen Größe. Im Widerspiel des Unmöglichen mit dem Möglichen erweitern wir unsere Möglichkeiten.[1]

 

Ingeborg Bachmann

«Alles beginnt mit einer scharfsichtigen Gleichgültigkeit.»[2] In seinem Mythos von Sisyphos hat Albert Camus immer wieder eine Gleichgültigkeit beschworen, deren Provokation sich niemand entziehen kann, dem es um die Wahrheit der menschlichen Existenz geht. Alles – das meint nicht die Welt als Gesamtheit aller Tatsachen, die es wissenschaftlich festzustellen und zu erklären gilt. Intendiert wird statt dessen auf die dringlichste aller Fragen, der gegenüber sich alle wissenschaftlichen Problemlösungen als nichtig erweisen: Ist das Leben lebenswert? Ob die Erde sich um die Sonne dreht oder die Sonne um die Erde, was alles wie im mikrophysikalischen Teilchenzoo herumgeistert, wie kognitive Prozesse durch Computerprogramme simulierbar sind, all das mögen schwerwiegende Fragen sein, die es wissenschaftlich zu beantworten gilt. Aber wir fühlen doch auch, daß, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Probleme gelöst sind, unsere Lebensrätsel noch gar nicht berührt sind, jene fundamentalen Fragen, welche die Entscheidung fordern, ob sich das Leben lohnt oder nicht. Alles, das zielt bei Camus auf das All des menschlichen Daseins, die verwirrenden Beunruhigungen der menschlichen Existenz, für die kein wissenschaftlicher Verstand eine Lösung anzubieten vermag.

Warum aber sollen wir, wenn es um die Grundfrage nach dem Sinn und Wert des Lebens geht, mit einer scharfsichtigen Gleichgültigkeit beginnen? Wir müssen es, weil wir nur so klar sehen können. Denn es handelt sich bei dieser geforderten Gleichgültigkeit um keine dumpfe Stimmung eines Mir-ist-alles-egal, um die Schwammigkeit eines blinden Gefühls, das der dringlichsten aller Fragen nur ausweicht, ohne sich ihr zu stellen. Scharfsichtigkeit (clairvoyance) ist eine Forderung moralischer Wahrhaftigkeit, die der Mensch zu wagen hat, auch wenn er daran zu zerbrechen droht. Sie will nicht beruhigend erklären, sondern enthüllen. Dazu aber ist es notwendig, mit einem ersten Schritt zu beginnen, der zunächst gleichgültig ist gegenüber allen Täuschungen und Unwahrhaftigkeiten, die dem Menschen nur scheinbare Sicherheiten und illusionäre Fiktionen vorspiegeln.

Wann und wo dieser anfängliche Schritt tatsächlich beginnt, ist dabei belanglos. Es kann ein verstörender Augenblick sein, in dem plötzlich die Kulissen des eingespielten Alltags einstürzen und sich Überdruß an einem mechanischen Leben breitmacht. Eines Tages steht das «Warum?» da, «und mit diesem Überdruß, in den sich Erstaunen mischt, fängt alles an. ‹Fängt an› – das ist wichtig. Der Überdruß ist das Ende eines mechanischen Lebens, gleichzeitig aber auch der Anfang einer Bewußtseinsregung.» (S. 16) Es kann ein grausamer Schockmoment sein, in dem sich dem Menschen die lächerliche Bedeutungslosigkeit und Vergänglichkeit aller weltlichen Dinge aufdrängt, oder das Ereignis einer heilsamen Enttäuschung, die sich durch keine propagierten Wahnideen und täuschenden Ideologien mehr bluffen lassen will und nicht mehr bereit ist, einem neuen Wahn zu folgen, nur weil ein alter verflogen ist. Und es kann ebenso die hochkultivierte Anstrengung eines geistigen Abenteuers sein, in dem ein radikaler Wahrhaftigkeitswille alle überkommenen höheren Werte in Frage stellt, von denen in Ethik, Metaphysik oder Theologie so oft nur geschwafelt worden ist. Immer kämpft die Moralität der Scharfsichtigen gegen die Blindheit derjenigen, die sich in den gewohnten Fassaden heimisch fühlen, seien sie gebaut aus alltäglicher Routine, gesellschaftlich konditionierten Werten oder transzendenter Gottgläubigkeit. Das Bedürfnis nach Klarheit fordert eine Haltung aktiver Indifferenz, die nicht notgedrungen zu der Einsicht führt, das Leben lohne sich nicht und der Selbstmord sei eine Lösung. Statt dessen erhalten alle Probleme ihre Schärfe wieder. Nichts ist entschieden. Aber alles ist jetzt verwandelt. Nicht ohne religiöses Pathos hat Camus diese Gleichgültigkeit beschworen mit dem Hinweis: «Der Mensch wird hier endlich den Wein des Absurden finden und das Brot der Gleichgültigkeit, mit der er seine Größe speist.» (S. 48)

Mag für diesen gleichgültigen Menschen das eingespielte profane Verhalten nur ein maßloses Possenspiel unter der Maske des Absurden sein, so braucht auch er seinen Ölberg, auf dem er nicht einschlafen darf. Denn die Gleichgültigkeit, die seine «Größe» speist, ist kein trübes Abstumpfen, sondern ein Erwachen. Sie weckt ein Bewußtsein, das schließlich alles affiziert. Wer von ihm ergriffen ist, will nichts als aufrichtig sein. Gefordert ist eine Haltung, welche die Mechanik des Alltags nicht akzeptieren will, sich auf wissenschaftliche Welterklärungen nicht verläßt und auch nicht mehr bereit ist, in die Transzendenz eines Glaubens zu springen. Doch wohin führt diese gleichgültige Klarsichtigkeit, die dem Sicherheitsbedürfnis des Menschen widerspricht, seinen Illusionen und Konstruktionen, in denen er sich zu Hause wähnt?

Halten wir zunächst fest, daß es hier nicht um Erklärungen geht, sondern um Lebenserfahrungen und -beschreibungen. Beschreiben ist der Ehrgeiz eines Menschen, der klar sehen möchte, was die menschliche Existenz betrifft. In jenen Situationen, in denen alles beginnt, haben vor allem Kunstwerke ihren Ursprung und ihre Legitimation. Es geschah nicht aus Nachlässigkeit, daß «Gleichgültigkeit» keine zentrale Kategorie des philosophischen Diskurses wurde. Denn so schwer es ist, diese Haltung dauernd auszuhalten, so sehr entzieht sie sich einer rein geistigen Reflexion, die ihre systematischen Gedankengebäude errichtet. Es sind vor allem literarische Werke, welche uns enthüllen, was es mit scharfsichtiger Gleichgültigkeit zu sehen gilt: wer wir selbst sind und wie wir uns zu anderen verhalten können. Das rechtfertigt die Stellung, die Romane und Erzählungen in dieser Untersuchung spielen. Dostojewski, Moravia, Sartre, Camus, Benn, Beckett, Pynchon, um nur einige von ihnen anzuführen, haben den philosophischen Drang zum Theoretisieren so gut verstanden, daß sie von ihm frei wurden und dort zu schreiben begannen, wo es eine neue Möglichkeit des Menschen zu entwerfen gilt. Immer ist es eine besondere Form von Gleichgültigkeit, die ihren Beschreibungen wie ein Sprengstoff den ersten Anstoß gab.

 

Alles ist eine Erzählung von Ingeborg Bachmann.[3] Auf engstem Raum sind hier alle Ambivalenzen verdichtet, die sich ergeben, wenn Gleichgültigkeit und Enthüllung die gewohnheitsmäßige Maskerade beenden wollen. Beschrieben wird die absurde Hoffnung eines Menschen, der klarsichtig die «reine Größe» einer Indifferenz zu erreichen versucht, die von allen gesellschaftlich und geschichtlich eingespielten Wertigkeiten befreit ist. Nichts bleibt dabei unberührt, alles wird infiziert durch den Impuls eines gleichgültigen Wollens, das in seinem Herzen rumort und sein ganzes Denken zunehmend beherrscht. Erzählt aber wird auch von seinem Scheitern, von einer Schuld und einem Tod, von einer inneren Kälte, die macht, daß das Nächste und Fernste gleich entrückt sind und alles nur noch im hellen Licht einer unerträglichen Indifferenz erscheint, die menschliches Zusammenleben der härtesten Probe aussetzt.

Wenn der Held dieser Geschichte wie ein Mann ohne Eigenschaften erscheint, so wird daran zugleich deutlich, daß es sich bei jener Gleichgültigkeit, die ihn immer stärker beherrscht, um keinen bloßen Affekt handelt, sind Affekte wie Liebe und Haß, Neid oder Mitleid doch stets noch auf bestimmte Personen oder Sachverhalte bezogen und motivieren eine bestimmte Handlungsweise. Affekte implizieren noch immer ein urteilsmäßiges, kognitives Moment, das eine Bewertung der Sachverhalte, auf die sie bezogen sind, hinsichtlich eines eigenen Wohls ausdrückt. Hier aber geht es um eine Stimmung, die zu keinen bestimmten Handlungen mehr motiviert, sondern nur eine unbestimmte Disposition ausdrückt, die sich auf «alles» bezieht. Woher diese Stimmung kommt, bleibt unbestimmt. Sie überfällt das Subjekt. Die Stimmung der Gleichgültigkeit kann einen beliebigen Menschen an einer beliebigen Straßenecke anspringen. Sie kommt weder von «Außen» noch von «Innen». Vor jeder Soziologie und Psychologie lenkt Ingeborg Bachmann die Aufmerksamkeit auf das fundamentale Phänomen einer existenzialen Grundbefindlichkeit, von der das Leben im ganzen betroffen ist, eingebunden zwischen Geburt und Tod, Zur-Welt-Kommen und Daseinsverlust.

Alles ist die Beschreibung eines Widerstreits, der vor allen Konflikten steht, die uns aus Romanen vertraut sind und uns in ihre dramatisierten Handlungsverläufe verstricken. Nicht zufällig scheinen dem Helden dieser Erzählung die Voraussetzungen zu fehlen, handeln zu können und einen geläufigen Romankonflikt auszutragen. Er haßt niemanden und liebt keinen. Entfesselt und freigesetzt von den Affekten und Werten, an denen sich die Gesellschaft orientiert, läßt er sich statt dessen auf ein geistiges und existenziales Abenteuer ein und gerät dabei auf das gefährliche Minenfeld einer geschärften Gleichgültigkeit, die unvorhersehbare Gedanken explodieren läßt und schließlich alles zu vernichten droht, was den Menschen in der Gesellschaft zu halten...

Erscheint lt. Verlag 24.3.2017
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie
Schlagworte Desinteresse • Gleichgültigkeit • Indifferenz • Nihilismus • Teilnahmslosigkeit
ISBN-10 3-688-10214-2 / 3688102142
ISBN-13 978-3-688-10214-3 / 9783688102143
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