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Marschmusik (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
288 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-18668-5 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
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Tief unter der Erde hält der junge Mann aufgeregt und fiebrig ein warmes Stück Kohle in der Hand. Zum ersten Mal. Hier im Streb, wo Generationen von Bergleuten malocht haben. Bald endet die Kohleförderung in Deutschland. Und damit das Leben unter Tage. Dann ist im Ruhrpott Schicht im Schacht. Und es bleiben nur noch Erinnerungen: an den wortkargen Vater und die Abende mit Bier, Schnaps und Marschmusik aus dem Küchenradio. An ein Milieu, das für immer verschwinden wird.

In den frühen Sechzigern lernen sich die Eltern des jungen Mannes kennen: Sie ist Näherin, er ist Kohlenhauer. Viele Jahrzehnte später will der erwachsene Sohn endlich Licht ins Dunkel der eigenen Familiengeschichte bringen: Wie hat die Familie gelebt inmitten von Zechentürmen, Taubenschlägen und Schrebergärten? Und was ist eigentlich noch übrig vom bescheidenen Reihenhaus, das dem erwachsenen Sohn doch früher vorkam wie ein Palast? Wie lange wird seine Mutter noch rauchend im Sessel sitzen und sich an den verstorbenen Vater erinnern? Und was bleibt, wenn es das alles wirklich bald nicht mehr gibt? Martin Becker erzählt vom Aufwachsen in einer proletarischen Familie am Rande des Ruhrgebiets. Vom Außenseitertum der kleinen Leute, aber auch von Momenten großen Glücks, die in einer vermeintlich tristen Kleinstadtkindheit doch immer wieder aufblitzen. »Marschmusik« ist eine Geschichte vom Erwachsenwerden, ein Buch über die magische Welt des Kohlebergbaus und über die verführerische Kraft der Finsternis unter Tage - allem Verschwinden zum Trotz immer wieder erzählt mit Leichtigkeit und Witz.

Martin Becker wurde 1982 geboren und wuchs in der sauerländischen Kleinstadt Plettenberg auf. Er kommt aus einer Arbeiterfamilie aus dem Ruhrgebiet, sein Vater war Bergmann und seine Mutter Schneiderin. Er ist freier Autor für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und berichtet in Features und Reportagen unter anderem aus Tschechien, Frankreich, Kanada und Brasilien. 2007 erschien sein mehrfach ausgezeichneter Erzählband »Ein schönes Leben«, 2014 sein Roman »Der Rest der Nacht«, 2017 sein Roman »Marschmusik« und 2021 »Kleinstadtfarben«. 2024 wurde Martin Becker mit dem Margarete-Schrader-Preises für Literatur ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Familie in Halle (Saale).

Ich taumele mehr aus dem Hotel, als dass ich gehe. Meine Nacht war kurz. Am Morgen hätte ich mein T-Shirt auswringen können, so sehr hatte ich geschwitzt. Bis zur Zeche ist es eine Dreiviertelstunde mit dem Taxi, ich will nur aus dem Fenster schauen und auf die Landschaft. Ich muss Wasser trinken, Schluck für Schluck, ich muss mich konzentrieren, sonst stehe ich das alles nicht durch. Das Fieber wegschieben. Nichts davon sagen, sonst lassen sie mich nicht runter. Weißbus, steht auf einem Schild auf der Beifahrerseite. Das habe ich vorher schon gelesen: Es gibt Weißbusse, in die darf man nur in Straßenkleidung. Und dann gibt es Schwarzbusse, die bringen die Kumpels direkt nach der Schicht noch in voller Montur von A nach B. Du bist der zur Zeche, fragt der Fahrer. Ja, sage ich. Der Fahrer spricht Kölsch, obwohl wir im tiefsten Ruhrpott sind.

Kamst du aus Köln, sagt der Fahrer, als wir schon unterwegs sind zur Autobahn, bist du nach Krupp gegangen oder auf den Pütt. Brauchtest nur den Hauptschulabschluss. Mein Bruder ist unter Tage, ich bin oben geblieben. Auf Anthrazit. Ibbenbüren, kennst du doch. Ich war im Büro für die Laufkundschaft zuständig. Die LKW-Fahrer aus Benelux und Frankreich sind zu mir und haben sich die Kohle direkt abgeholt. Ich muss nicht viel reden, er erzählt mir sein Leben. Er vertraut es mir an. Ich bin gerührt, jetzt schon, aber vielleicht kommt das vom Fieber. Hoffentlich stecke ich den Fahrer nicht an.

Er erzählt mir von seinem Berufsleben: eine Tour durchs gesamte westfälische Steinkohlerevier. Erst langsam in Richtung Norden, dann wieder zurück in den Süden. Schließt eine Zeche, geht man zur nächsten. Bis irgendwann keine mehr übrig ist. Die Zeche, zu der wir fahren, ist für die Kumpel im Ruhrpott die letzte Station. Und bald ist endgültig Schicht im Schacht. Wäre mein Vater noch am Leben, hätte er die Maloche unter Tage länger durchgezogen, dann wäre er jetzt natürlich längst in Rente. Ob er noch Kontakt zu seinen Kollegen hätte? Ob er jetzt vielleicht mitkommen würde, um noch einmal zu sehen, wie es da unten ist? Würden sie ihn überhaupt noch einfahren lassen, in seinem Alter? Wahrscheinlich nicht.

Wir nehmen die Autobahn. Unmöglich, ohne eigenes Auto zur Zeche zu gelangen. Oder nur mit sehr komplizierten Umstiegen und Fußwegen, zu denen ich heute nicht in der Lage bin. Zwischen dem Fahrer und mir auf der Vorderbank liegen eine Plastikschale mit Salatresten und aufgerissene Obstpackungen. Willst du vielleicht einen Plattpfirsich, fragt er. Danke, sage ich, das ist nett, aber gerade nicht. Mir ist flau, ich schwitze vor mich hin und will nicht, dass er was merkt. Mittwoch ist Obsttag, sagt er. Mittwochs fahre ich zum Großhandel, mittwochs kaufe ich Früchte für die Jungs. Ich vergesse zu fragen, ob die Jungs seine Kollegen vom Fahrdienst und aus dem Büro sind oder die noch übrigen Bergleute. Wie viel Obst passt in so einen Kleintransporter? Und wie viel in einen Bergmann? Malochen macht hungrig. Sechs Stunden auf dem Trimmrad in der Sauna, so ist so eine Schicht unter Tage, sagt der Fahrer. Bergleute brauchen 7000 bis 8000 Kalorien täglich. Mit Plattpfirsichen kriegt man das nicht hin.

Die letzten Kilometer fahren wir durch ländliches Gebiet. Felder, einige Häuser hier und da, eine Hundeschule, die Heide. Unter uns, stelle ich mir vor, werde ich bald sein. Da ist jetzt schon die Frühschicht und schuftet. Könnte mein Vater jetzt schon sein, einige Jahrzehnte früher, andere Zeit, gleicher Ort.

Meine Eltern kommen von hier, sage ich zum Fahrer. Mein Vater war auch Bergmann. Erst als Kohlenhauer, dann hat er die Zeche gewechselt und war im Querschlag. Woher kommt er, fragt der Fahrer, Bochum, sage ich. War auf Robert Müser. Viel mehr weiß ich nicht.

Ehrlich gesagt, und das sage ich dem Fahrer nicht, verstehe ich immer noch nicht, was das eigentlich heißt, Querschlag. Hartmann hat es mir erklärt, mit allen Mitteln. Und ich habe genickt, wie ich so oft genickt habe, als er mir immer mehr Schaubilder, kopierte Buchseiten und Fotos zeigte. Ich habe Lexikoneinträge gelesen, mir technische Zeichnungen angesehen, selbst Skizzen gemacht, aber es hilft nichts. Dieser Teil des Lebens meines Vaters bleibt ein einziges Fremdwort für mich, sosehr ich mich auch bemühe, seine Arbeit unter Tage zu verstehen. Alles zu abstrakt, um ein Bild zu entwickeln, das ich seit Jahren suche: ein Kerl namens Jupp als junger Mann unter Tage, mit Hoffnungen und Wünschen und Ideen, meist ruhig, manchmal jähzornig, so oder so, Jahrzehnte von dem Typen entfernt, den ich als meinen Vater kennengelernt habe und nur als das. Auf dem Zechengelände, Schacht 10, übergibt mich der Fahrer in die Obhut meines Betreuers. Michael. Ich bin übrigens auch Michael, sagt der Fahrer zum Abschied.

Glück auf, ruft er. Und ich rufe, bis bald, ich kann den Gruß nicht erwidern, ich kann es einfach nicht.

Hier heißt übrigens jeder Zweite so, sagt Michael später in der Lampenstube. Ruft unten einer nach Michael, drehen sich zehn Mann um.

Oder keiner, sagt der Aufsichtshauer, der an seinem freien Tag mitkommt, auch er heißt Michael. Oder träume ich das, bilde ich mir das ein, hat das Fieber da schon von mir Besitz ergriffen, stimmen womöglich auch die folgenden Erlebnisse nicht? War ich wirklich jemals da unten, frage ich mich später, als ich wieder gesund bin. Das Stück Kohle in meiner Hand ist der Beweis, abgebürstet und dann mit Klarlack konserviert: Ich muss doch dort gewesen sein.

Alle sind etwa eine Generation. Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger geboren. Groß geworden, als man so gerade noch an die Steinkohle glaubte, als die Hochzeit zwar schon vorbei war, aber als es noch hieß: Wir fördern noch hundert Jahre. Mindestens. Dieser Michael arbeitet erst seit kurzer Zeit in der Öffentlichkeitsarbeit. Um fiebrige Gesichter wie meines vor sich zu haben. Vorher war er dreißig Jahre lang Bergmann. Er stammt aus einer Bergbausiedlung in einer Stadt, die achtzig Kilometer entfernt ist, schon sein Vater und dessen Vater waren Kumpel. Sein Vater wollte etwas Besseres für seinen jüngsten Sohn: Er sollte Arzt werden. Weiß, nicht schwarz. Nach der Mittleren Reife aber fing auch Michael unter Tage an, wie die meisten seiner Klassenkameraden. Zwei Jahrzehnte lang knüppelte er auf seiner Heimatzeche, da war vor einigen Jahren Schluss. Zuletzt war er Steiger auf einer anderen Zeche, bis auch die dichtmachte. Jetzt fährt er jeden Tag mit dem Auto die achtzig Kilometer hin und die achtzig Kilometer zurück. Und Ende nächsten Jahres, dann ist auch damit Schluss. Dann geht er in den Vorruhestand, ob er will oder nicht. Dann ist er neunundvierzig Jahre alt. Hätte ich auch nur eine einzige Schicht durchgehalten? Hätte das auch mein Leben sein können? Kohlen statt Marschmusik?

Wer in die Grube fährt, muss sein altes Ich über Tage zurücklassen. Auf jeden Fall seine alten Klamotten. Welche Größe haben Sie, fragt der Kauenwärter. 54, sage ich. Er taxiert mich. Nein, nein, nein, höchstens 52. Dann verschwindet er, um die Grubengarnitur für mich zu holen. Die private Kleidung kommt vor Schichtbeginn in der Weißkaue an den Püngelhaken. Die Arbeitskleidung kommt nach Schichtende in der Schwarzkaue an den Püngelhaken. Das Wäschebündel der Bergleute heißt Püngel.

Ich kenne die Worte, ich kann sie aussprechen und aufschreiben, aber eine Bedeutung haben sie nicht für mich. Noch nicht. Ohne jeden Zweifel bin ich ein Bergfremder. Was würde mein Vater sagen, wenn er mich jetzt so sehen könnte? Wie unbeholfen ich bin mit meinem Bündel Sachen auf dem Arm, wie ich nicht weiß, was wie herum und was zuerst. Wahrscheinlich würde mein Vater lächeln und den Kopf schütteln, mehr nicht. Auf dem Pütt duzt man einander. Ich werde von fast allen hier gesiezt. Ein nackter Mann geht vor mir gemächlich über den Flur zwischen Schwarz- und Weißkaue. Bergleute buckeln sich, sie waschen einander unter der Dusche den Kohlenstaub vom Rücken, das habe ich auch irgendwo gelesen. Auf dem Pütt sind alle gleich, und niemand ist allein. So klingt die Folklore.

Mit meinem Püngel im Arm folge ich dem Kauenwärter in die Besucherkaue. Alles ausziehen, sagt er, und dann alles anziehen. Alles, das sind im zweiten Fall Unterhose, Unterhemd und Socken aus grober Wolle. Ein Hemd, eine Hose, eine Jacke, ein Halstuch. Ein Gürtel aus transparentem Kunststoff. Kauenlatschen. Ich setze auch schon die Schutzbrille auf, zur Sicherheit, nur die Handschuhe stecke ich in die Jackentasche. Fast alles hier ist gräulich, bräunlich, bis hin zum frischen graubraunen Handtuch, das in der Dusche meiner Umkleidekabine hängt, doch es gibt auch farbliche Kapriolen: Das Grubenhemd ist dunkelblau mit feinen weißen Streifen, die Grubengrobrippunterwäsche taubenblau, und die Kauenlatschen leuchten Mintgrün. Ich lege meine Armbanduhr ab und schließe sie mit den anderen potentiellen Zündquellen, einem Feuerzeug und meinem Mobiltelefon, im Spind ein. Unter Tage kann alles lebensgefährlich sein, was mit Batterien betrieben wird, sich elektrostatisch aufladen und Funken schlagen kann, auch die Synthetikfasern meiner Alltagskleidung. Mit den Schlagwettern, dieser bösen Mischung aus Luft und brennbaren Gasen, die der Berg ständig freisetzt, sollte man sich nicht anlegen. Ein einziger Funke genügt, und alles fliegt einem um die Ohren. Vereinfacht gesagt.

Meine Güte, denke ich beim Wechseln der Klamotten, ich muss noch so viel lernen. Bergmannsblut hin oder her. Ich könnte es auf mein Fieber schieben, aber das wäre zu einfach. Ich bin nicht für diese Arbeit gemacht, das fängt schon beim Umziehen an. Das Hemd in die Hose, sagt der Kauenwart, und wo haben Sie Ihren Gürtel? Bevor wir die Besucherkaue...

Erscheint lt. Verlag 13.3.2017
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Arbeiterkind • Aufwachsen • Bergbau • Coming of Age • eBooks • Familie • Kindheit • Roman • Romane • Ruhrgebiet • Ruhrpott • wahre Begebenheiten
ISBN-10 3-641-18668-4 / 3641186684
ISBN-13 978-3-641-18668-5 / 9783641186685
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
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