Der dritte Tag (eBook)
302 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-561650-5 (ISBN)
Joseph Hayes wurde 1918 in Indianapolis/Indiana geboren. Er studierte an der Indiana University und arbeitete bis 1943 in einem New Yorker Theaterverlag. Neben dem Welterfolg ?An einem Tag wie jeder andere? (?The Desperate Hours?) veröffentlichte er zahlreiche weitere Romane, Kurzgeschichten, Theaterstücke und Drehbücher. Hayes starb 2006 in St. Albertine/Florida.
Joseph Hayes wurde 1918 in Indianapolis/Indiana geboren. Er studierte an der Indiana University und arbeitete bis 1943 in einem New Yorker Theaterverlag. Neben dem Welterfolg ›An einem Tag wie jeder andere‹ (›The Desperate Hours‹) veröffentlichte er zahlreiche weitere Romane, Kurzgeschichten, Theaterstücke und Drehbücher. Hayes starb 2006 in St. Albertine/Florida.
2
Der stampfende Rhythmus von Rädern und Schienen, fern und doch vertraut, wiegte ihn zur Ruhe, nicht aber in Schlaf. Erst als er in die Polster gesunken war, hatte er gemerkt, wie müde er war, wie todmüde. Nun, nach ungefähr drei Stunden, schaute er zum Fenster hinaus auf die vorüberziehende Landschaft. Die Intensität der Farben, das merkwürdig goldene Licht, das sich über allem ausbreitete, nachdem sich die Nachmittagssonne eine Stunde zuvor eine Bahn durch die Wolken gebrochen hatte, die sanft geschwungenen Hügel mit herausragenden Felsbrocken, die Bauernhöfe, umgeben von den geometrischen Mustern ihrer Steinmauern – die ganze Lieblichkeit der Landschaft von Neuengland entspannten und beruhigten ihn, nichts aber erreichte oder dämpfte diese zitternde Erwartung, dieses Vorgefühl und diese Verzagtheit, die so tief in ihn gedrungen war, daß die äußerliche Ruhe nur auf geheimnisvolle Weise ihr Schutzwall zu sein schien.
Was ihn wirklich verblüffte, war, wie seine Mitreisenden sitzen und schlafen oder lesen konnten – und sich die wilde Schönheit der Herbstlandschaft entgehen ließen. Er fragte sich, ob Charles Bancroft, der andere Charles, dies alles bewußt erlebt, oder ob er, wie die anderen, es als selbstverständlich hingenommen hatte, in blinder Ignoranz all dessen, was hier zu genießen und mit Lust in sich aufzunehmen war. Eigentlich ein merkwürdiger Gedanke: war ein Teil seiner Sinne durch ein seltsames Wunder oder einen Unfall gelähmt, ein anderer erschlossen worden? Die ungelöste Frage erhöhte, zusammen mit den vielen anderen, nur noch seine Freude.
Vom Zugschaffner hatte er erfahren – obwohl er noch immer kein Zeitempfinden hatte –, daß die Fahrt von New York nach Shepperton zwei Stunden und fünfundvierzig Minuten dauerte. Da er die lakonische Ankündigung vom folgenden Waggon her hörte: »Lancaster Falls, nächste Haltestelle Lancaster Falls«, richtete er sich auf und schaute zum Fenster hinaus. Vielleicht jetzt. Vielleicht schon so bald –
Als aber das kleine, blaßrote Bahnhofsgebäude in Sicht kam und der Zug hielt, konnte er es nur grübelnd anstarren: war er gestern oder heute morgen hier in einen Zug gestiegen? Er sah saubere Straßen mit kalkweißen Häusern, einigen altmodischen Läden, und eine hölzerne Brücke, die sich über den Fluß spannte. Er hätte schwören können, obwohl er es besser wußte, daß er noch nie in seinem Leben in Lancaster Falls gewesen war.
Einige Meilen weiter nördlich liefen die Bahngeleise am rechten Ufer neben dem Fluß her. Er ging auf die andere Wagenseite. Und da sah er die Wasserfälle, von denen die Stadt zweifellos ihren Namen hatte: ein tosendes Gefälle sprühenden Wassers, das in Windungen nach Süden weiterfloß. Auf der jenseits liegenden Seite des Flusses – der reißender und enger zu werden schien, die Ufer steil aufragende Klippen – führte eine Straße, auf der nur wenige Wagen dahinkrochen oder rasten.
Wäre Shepperton die nächste Bahnstation, war es zwar nicht sicher, aber doch wahrscheinlich, daß Charles Bancroft die fünfunddreißig Jahre seines Lebens hier in dieser Gegend verbracht hatte. Und doch –
Da sah er im Hintergrund, wo sich das Flußbett verengte, die Schlucht. Spannung ergriff ihn. Die Straße machte hier eine scharfe Kurve, nahe am Abhang; er sah, wie ein Lastwagen sie nahm und dann, dem Zug der Straße folgend, sich nach Norden hin von der Klippe entfernte. Einen Augenblick hatte es ausgesehen, als ob das Fahrzeug von der Straße abkommen und in die Schlucht stürzen würde. Er konnte den tiefsten Punkt nicht sehen, aber anscheinend hatte sich das Wasser einen steilen, reißenden Graben durch die Enge gespült. Als der Zug die Szenerie hinter sich ließ, hatte er den flüchtigen und undeutlichen Eindruck von etwas Bekanntem – als erkenne er diese Stelle, die Klippe, die Straße und den Fluß wieder.
Dann wurde der Fluß breiter und träger, die Straße führte vom Berg herunter, wand sich und verlor sich hinter Baumgruppen. Und der Eindruck wich.
Er lehnte sich zurück. Eben hatte er es fast mit Händen greifen können – aber nur fast, fast. Und er wußte, daß der Augenblick oder Blitz des Erkennens ähnlich sein würde: plötzlich, unerwartet, aus heiterem Himmel. War er nicht eigentlich diesem Augenblick gerade ein wenig, ein quälend winziges bißchen näher gekommen?
Als sich der Zug Shepperton näherte, ratternd in ein zwischen zwei Hügelketten gelegenes Tal fuhr, wehrte er sich nicht länger dagegen: mochte es nun geschehen, sollte es kommen. Vielleicht war er deshalb so gelassen, weil diese Gegend, im Gegensatz zu New York, auf eine seinem Bewußtsein verborgene Weise tief Vertrautes in ihm zum Klingen brachte.
Shepperton selbst war größer, als er es sich die paar Male während der Fahrt vorgestellt hatte, da er sich im Geist ein Bild zu entwerfen versuchte: eine Industriestadt, mit Rauchschwaden, die in der beginnenden Dämmerung wie eine Wolke darüber hingen. Der Zug fuhr noch immer am Fluß entlang, an häßlichen, engen Häusern und Wohnungen, grau und eckig und lieblos, vorbei, schob sich bremsend und pfeifend auf einer Eisenbahnbrücke über den Fluß. Vom Fenster aus konnte er eine parallellaufende Brücke sehen, auf der Autos fuhren, die Fabriken auf dem einen Ufer des Gewässers, und dann, weit flußaufwärts nach Norden, die schwache Silhouette von Landschaft und Hügeln, zu weit entfernt, als daß durch die graue, düstere Industrieatmosphäre hindurch noch Herbstfarben zu unterscheiden gewesen wären.
Ein trauriges Nest hatte Adele Barachois es genannt. In gewissem Sinne war es das sicher. Trotzdem verliehen ihm der Fluß und die Hügellandschaft im verschwimmenden Licht der Dämmerung auch einen gewissen Charme. Und von seinem Aussichtspunkt auf der Eisenbahnbrücke entdeckte er auf dem gegenüberliegenden Hügel, jenseits der Innenstadt, weiße Häuser und baumbestandene Straßen.
Er war schon fast vorbeigefahren, ehe er das Schild lesen konnte. Er drehte sich im Sitzen um. PARSONS COMPANY – QUALITÄTSHÜTE SEIT 1877. Das Schild stand auf dem First eines Klinkerhauses, dessen altes und verwittertes Aussehen durch Ranken grünen Efeus gemildert wurde. Neben dem Fabrikgebäude stand ein flaches, modernes Haus, mit viel Glas und hellen Ziegelsteinen, und weiter flußabwärts spien andere Fabriken dunkle Rauchwolken in den Himmel. Dann hatte der Zug das andere Ufer erreicht, und Schild und Gebäude waren aus seinem Gesichtskreis verschwunden.
Der Bahnhof war aus Holz gebaut, wie er schon einige gesehen hatte, und es standen nur ein paar Leute wartend herum, als er ausstieg. Was nun? Ein Mann ging an ihm vorbei zu einem anderen Waggon und nickte. Es dauerte einen Augenblick, bevor er begriff, daß der Mann ihm zugenickt hatte, doch da war es schon zu spät. Er beobachtete, wie der Mann, mit dem Rücken zu ihm, einer älteren Dame aus dem Zug half. Und er wandte sich ab: er wollte eine beiläufige Begegnung mit einem Fremden vorerst vermeiden.
»Taxi?«
Hatte er erwartet, abgeholt zu werden? Er war sich nicht sicher – der Gedanke war weit hergeholt, selbst wenn es nur einen Nachmittagszug von New York aus geben sollte – doch nun nickte er dem Taxifahrer zu und wartete auf ein Stichwort von ihm.
»Haben Sie Gepäck, Mr. Bancroft?«
Er stockte einen Augenblick – nicht nur, weil er ohne Gepäck ankam, sondern weil ihn bereits jemand, den er nicht mit sich in Beziehung bringen konnte, mit Namen ansprach. Er schüttelte den Kopf und folgte dem Fahrer zum Taxi, einem alten Cadillac mit einem komfortablen Fond, wie sich herausstellte. War der Fahrer überrascht? Bancroft sank in die Polster und wartete ab, bis der Wagen sich langsam in die dämmerigen Straßen in Bewegung setzte.
»Sie kennen mich nicht mehr, stimmt’s?« fragte der Fahrer, und es lag der leise Anflug eines spöttischen Grinsens in seinen Worten, obwohl er den Kopf nicht umwandte.
Das war natürlich genau die Frage, die er erwartete, brüsk ausgesprochen, und er mußte sich schnell entscheiden, ob er lügen sollte. »Natürlich kenne ich Sie«, sagte er.
»Nö, nö, das merkt man doch.« Der Mann hatte einen schmalen Schädel, eine Schirmmütze salopp in den Nacken geschoben. »Warum sollten Sie auch. Ich habe früher in der Lyndhurststraße gewohnt, als Sie noch in der Euklidstraße waren. Als Kind, natürlich.«
Er seufzte erleichtert auf und betrachtete aufmerksam die Stadt durch das Fenster, versuchte, sich zu konzentrieren, wunderte sich, in seiner völligen Unkenntnis des Ortes, daß er schon einmal hier gewesen sein sollte. Von dem Fahrer hatte er gottlob nichts zu befürchten: er nahm ohnehin an, daß sich Charles Bancroft nicht an ihn erinnerte, also hatte sein Versagen hier nichts mit seinem derzeitigen Zustand zu tun.
»… Ihren Namen in der Oberschule. Alle versuchten, ebenso gut zu sein wie Sie, aber keiner hat es geschafft. Sie waren wirklich für die meisten von uns ein Vorbild. Ich glaube, daß niemand seither so viele Tore geschossen hat wie Sie im letzten Schuljahr. Interessieren Sie sich noch immer für Fußball?«
»Gelegentlich«, sagte er. Das Taxi hatte sich in eine Kolonne eingeordnet, hielt an jeder Ecke bei rotem Licht. Die Straßen wirkten geschäftig, und in den Schaufenstern wurde die Beleuchtung eingeschaltet. Es wirkte nicht anders als die Geschäftsstraßen jeder beliebigen Kleinstadt.
»Seither ist viel Wasser den Damm hinuntergeflossen«, sagte der Fahrer gerade. »Und Sie fahren ja kaum einmal mit dem Taxi. Aber« – hier war wieder ein leichtes, den Groll milderndes Grinsen zu spüren – »Sie und ich, wir verkehren heutzutage ja nicht...
Erscheint lt. Verlag | 24.2.2017 |
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Übersetzer | Jo Klein |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Amnesie • Gedächtnisverlust • Identität • New York • Roman • Thriller |
ISBN-10 | 3-10-561650-0 / 3105616500 |
ISBN-13 | 978-3-10-561650-5 / 9783105616505 |
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