Das Erbe von Carreg Cottage (eBook)
480 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-18556-5 (ISBN)
Constanze Wilken, geboren 1968 in St. Peter-Ording, studierte Kunstgeschichte, Politologie und Literaturwissenschaften in Kiel und promovierte an der University of Wales in Aberystwyth. Als Autorin ist sie sowohl mit großen Frauen- als auch mit historischen Romanen erfolgreich.
I
Cop y Goleuni, Nordwales, Anno Domini 614
Hear the voice of the Bard
Who present, past and future sees
Whose ears have heard
The holy Word
That walked among the ancient trees …
William Blake, first »Song of Experience«
Der Morgennebel lag über Wald und Hügeln. Knorrige Eichen wanden ihre Zweige im Zwielicht des anbrechenden Tages. Auf den uralten Bäumen wuchsen die heiligen Misteln. Die junge Frau stand am Fuße des Hügels, kalte, feuchte Luft haftete schwer an ihrem Umhang, doch sie hing ihren Gedanken nach und sog den Duft von Gras, Erde und Wald ein. Sie war eine Tochter der Muttergöttin, eine Gefährtin des Windes, ein Geschöpf des Meeres. Langsam breitete sie die Arme aus und ließ die Kräfte der Elemente durch sich hindurchströmen. Heute Nacht begann die dunkle Zeit des Jahres, der Winter löste die Herrschaft des Sommers ab.
Eine prickelnde Vorfreude floss durch ihre Adern. Heute Nacht lösten sich Zeit und Raum auf und öffneten die Tore zur Zwischenwelt. In dieser einen Nacht gab es weder Sommer noch Winter, die Oberwelt kam mit der Anderwelt in Berührung, die Geister der Toten mischten sich unter die Lebenden. Sie feierten Nos Calan Gaeaf, die Nacht des Winteranfangs, die erste der drei Geisternächte.
In der Ferne erwachte der Weiler. Die Bewohner entzündeten die Torffeuer, deren Qualm aus den Hütten stieg, ein Hund bellte, und Schafe blökten. Die Menschen fürchteten die Geisternächte, denn sie hatten Angst vor dem Tod, der doch nur ein Übergang in eine andere Welt war.
Die junge Frau warf die Kapuze zurück und strich sich lange rotbraune Haarsträhnen aus dem Gesicht. Der Blick ihrer dunklen Augen heftete sich auf den heiligen Hügel, glitt über den Wald, kehrte sich nach innen, und sie sah die Felder, das Moor und endlich die Klippen, hinter denen das Meer toste. Ihre Lider senkten sich, und während das Meer in ihren Ohren rauschte, roch sie Salz und Seetang und spürte die Gischt auf dem Gesicht.
Ein heiseres Krächzen riss sie aus ihren träumerischen Gedanken. Vor ihr hatte sich auf dem Ast einer Eibe ein Rabe niedergelassen und beäugte sie.
»Was bringt uns dieser Winter?« Sie zog den wollenen Umhang enger um sich. An ihren Oberarmen wanden sich frisch gestochene Schlangen, die ihre Zugehörigkeit zur Druidenkaste symbolisierten.
»Krah!«, rief der Rabe, schüttelte den Kopf und schwang sich in die Luft. Zweimal kreiste er über der jungen Frau, bis er über den Hügel Richtung Küste davonflog.
»Lileas!«, ertönte eine helle Stimme, die ihrer kleinen Schwester Beca gehörte.
Zwei Mal war er über ihr gekreist, zwei Mal von rechts nach links. Das bedeutete Unglück. Lileas schlug die Kapuze wieder über die Haare, auf die sich bereits ein feuchter Nebelfilm gelegt hatte. Ihre ledernen Stiefel waren ebenfalls durchnässt, doch sie war es gewohnt, bei jeder Witterung in der Natur zu sein. Ihr Vater war ein Druide, der letzte einer langen Reihe von gelehrten Männern. Seit die fremden Priester die neue Religion verbreiteten, hatte sich alles verändert. Furcht ersetzte das Vertrauen in die alten Götter, die eins waren mit der Natur, aus deren Schoß sie alle stammten. Die Priester betrachteten das alte Wissen als Bedrohung, und die Menschen waren ängstlich und wandten sich den neuen Heilsbringern zu.
Es raschelte im Unterholz, und dann kam ein kleines Mädchen durch das hohe Gras gerannt. Ein Lächeln huschte über Lileas’ Gesicht. Ihre Schwester war zart wie ein Reh. Mit ihren goldblonden Locken war Beca wie ein Sonnenstrahl, der die Herzen wärmt, und ihre blauen Augen schauten voller Vertrauen in eine Welt, die im Umbruch begriffen war. Wenn es eine Verkörperung des Guten geben konnte, einen Ausdruck reiner Liebe, dann war Beca das Gefäß dafür.
Kleine Füße trampelten die Halme nieder, und mit einem Jauchzer warf Beca sich Lileas in die Arme. Lileas hielt den warmen Körper fest und begann sich zu drehen.
»Ja!«, quietschte Beca und bog den Kopf nach hinten, um ihre Schwester anzusehen. »Schneller!«
Die Mädchen drehten sich, bis sie lachend ineinander verknäult zu Boden taumelten. Bevor Beca sich losmachen konnte, drückte Lileas ihre Nase in die nach Honig und Äpfeln duftenden Haare. Ihre kleine Schwester würde einmal eine wundervolle Ehefrau abgeben. Aber bevor es dazu kam, würde sie mit ihrem Liebreiz und ihrer Schönheit viele Männerherzen brechen. Im Gegensatz zu mir, dachte Lileas und nahm die Hand ihrer Schwester, um sich auf den Weg zum Haus zu machen. Wir sind wie Licht und Schatten, wie Sonne und Mond. Ich bin die dunkle Seite, die stets Fragende, die Rastlose, deren Geist immer auf der Suche ist.
Sie war die Tochter ihres Vaters und Beca das Ebenbild ihrer Mutter – der sanften Nimne, einer Fürstentochter, die gegen den Willen ihres Vaters einen Druiden geheiratet hatte. Nimne hatte ihre Familie und ein Leben in Wohlstand aufgegeben und war dem Barden, der an ihrem Hof gesungen hatte, in eine ungewisse Zukunft gefolgt. Der gutaussehende Ruan war einer der obersten Druiden des alten Glaubens. Es gab nicht viele Orte in Wales, in denen sie unbehelligt leben konnten.
Nach dem Abzug der Römer vor zweihundert Jahren war das alte Britannien in eine Zeit der Dunkelheit und des Chaos gestürzt. Die Königreiche auf der Insel waren miteinander verfeindet und boten allzu leichte Beute für die Invasoren vom Kontinent. Die Völker der Angeln und Sachsen eroberten vom Süden her die Territorien, die einstmals von den Römern verwaltet worden waren. In Northumbria, den nördlichen Territorien, herrschte der kriegerische König Æthelfrith. Die Menschen in den westlichen Königreichen nannten sich Cymry, und immer öfter hörte man, dass das Land Cymru, Wales, genannt wurde.
Lileas schnaufte, und ihre Schwester sah sie fragend an. »Was ist? Du ziehst wieder eine krause Stirn. Mam sagt, das gibt hässliche Linien, und dann kriegst du überhaupt keinen Mann mehr.«
»Das ist mir egal. Ich heirate nicht, sondern werde eine Druidin. Außerdem mache ich mir Sorgen um unser Land.«
»Hast du ein Zeichen gesehen?« Becas Stimme zitterte. »Müssen wir wieder weiterziehen?«
Der Pfad führte sie durch einen Birkenhain, hinter dem ein Flussarm des vom Clwyd gespeisten, weit verzweigten Wassersystems lag.
»Der Rabe hat mir gezeigt, dass Unheil zu erwarten ist«, sagte Lileas unbestimmt. Schon tauchten die ersten Hütten der kleinen Siedlung unterhalb des heiligen Hügels, Cop y Goleuni, auf. Hier oben im unwirtlichen, kargen Norden, nur einen Fußmarsch von der Küste entfernt, hatten sie nach langer Wanderschaft ein Dorf gefunden, das sie willkommen geheißen hatte.
Das Gefühl drohenden Unheils wurde stärker, doch Lileas konnte nichts sehen. Manchmal trafen die Bilder sie mit voller Wucht, und sie wünschte sich, sie hätte die Zukunft nicht gesehen. Aber sie konnte die Visionen nicht kontrollieren, noch nicht. Und jetzt, da sie wissen wollte, was der Tag bringen würde, hob sich der Vorhang nicht. Aber etwas würde geschehen. Sie zitterte – und es waren nicht die Geister der Toten, vor denen sie sich fürchtete.
»Lileas!« Beca zerrte an ihrem Umhang. »Was denn? Sag mir, was du gesehen hast!«
Die junge Frau schüttelte die düsteren Ahnungen ab und tippte sich vielsagend an die Stirn. »Der Festbraten wird verbrennen, dein Festkleid wird zerreißen, und die Milch ist sauer …«
Beca lachte. »Du redest Unsinn! Mam!« Das Mädchen winkte und hüpfte auf die erste Hütte am Rande des Weilers zu.
Eine schlanke Frau mit weizenblonden Haaren kam mit zwei Händen voller Hühnereier vom Verschlag herüber. Nimne hatte die stolze Haltung einer Königin und trug das Gewand einer einfachen Frau. »Wo hast du nur gesteckt, Lileas? Ich brauche dich bei den Vorbereitungen für das Essen.«
Ziegen meckerten, zwei struppige Hunde sprangen um sie herum, und ein Huhn stob gackernd davon. Sie waren nicht reich, aber sie hatten alles, was man zum Leben benötigte. Nach mittlerweile zehn Jahren war Ruan ein geehrtes Mitglied der Gemeinschaft geworden. Seine Kenntnisse in der Heilkunst hatten sich herumgesprochen, und man dankte ihm seine Hilfe mit Geschenken.
»Ha, gleich bist du tot!« Ein kleiner Junge kam mit einem Holzschwert aus dem Haus und hätte beinahe seine Mutter zu Fall gebracht, welche die Hände mit den Eiern gerade noch fortziehen konnte. »Loel, Fioled, spielt draußen weiter!«
Ihre jüngeren Geschwister grinsten und rannten davon. Lileas trat hinter der Mutter in die schlichte Behausung, die aus einem zweigeteilten Raum im Untergeschoss und einem Schlafboden bestand. Eine Wand war mit Regalen bestückt, in denen ihr Vater seine Tinkturen, Pulver, Kräuter und Messer verwahrte. Über der Feuerstelle hing ein Kessel, und auf einem Rost stand ein Topf, in dem Lileas die morgendliche Graupengrütze zubereiten würde. Während sie ihren Umhang ablegte und die Ärmel aufschlug, fragte sie: »Wo ist Dafydd?«
Vorsichtig legte Nimne die Eier in einen Weidenkorb. »Beim Fischen.«
»Also mit Arven Schwertkampf üben.« Arven war der Sohn des Schmieds und Dafydds bester Freund.
Gemäß der Tradition hätte Dafydd bei Ruan in die Lehre gehen sollen. Die geheimen Lehren der Druiden wurden nur von Druidenmund zu Druidenohr weitergegeben, schriftliche Aufzeichnungen waren verboten. Nur so war es...
Erscheint lt. Verlag | 13.2.2017 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Aberdaron • Bardsey • eBooks • Familiengeheimnis • Familiensaga • Frauenroman • Frauenromane • Greenock • Keltische Mythen • Liebesromane • Llyn • Märchenbuch • Mittelalter • Romane für Frauen • Schatten der Vergangenheit • Wales |
ISBN-10 | 3-641-18556-4 / 3641185564 |
ISBN-13 | 978-3-641-18556-5 / 9783641185565 |
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