Das Ende aller Geheimnisse (eBook)
336 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-57151-8 (ISBN)
Stefan Keller, geb. 1967 in Aachen, ist Schriftsteller und Dozent. Nach seinem Studium der Germanistik und Betriebswirtschaft arbeitete er als freier Mitarbeiter für die Wirtschaftsredaktion der Deutschen Welle, als Dramaturg und als Autor und Lektor - vornehmlich für Filmproduktionen und TV-Sender. Daneben lehrt er an der Universität zu Köln kreatives Schreiben. Stefan Keller lebt in Düsseldorf.
Stefan Keller, geb. 1967 in Aachen, ist Schriftsteller und Dozent. Nach seinem Studium der Germanistik und Betriebswirtschaft arbeitete er als freier Mitarbeiter für die Wirtschaftsredaktion der Deutschen Welle, als Dramaturg und als Autor und Lektor – vornehmlich für Filmproduktionen und TV-Sender. Daneben lehrt er an der Universität zu Köln kreatives Schreiben. Stefan Keller lebt in Düsseldorf.
Dienstag, 1. März 2016
1
Der Mann hinter dem Glaskasten blickte ratlos auf das Stück Papier, das er in seinen Händen hielt, drehte es hin und her. Dann blickte er Heidi Kamemba aus verwaschen blau schimmernden Augen an. «Zu wem wollen Sie?»
«Zu Hauptkommissar Westphalen, KK12.» Heidi lächelte freundlich.
«Oh je», murmelte der alte Polizist und stand auf. Sein Stuhl knarzte, als er ihn nach hinten schob. Mit seiner rechten Hand griff der Polizist nach einem Gehstock, der neben ihm am Tisch gelehnt hatte. «Na, dann bringe ich Sie mal zu Hauptkommissar Westphalen …»
Heidi sah dem Mann zu, wie er sich schwerfällig zur Tür seines kleinen Empfangs wandte. «Machen Sie keine Umstände, ich finde den Weg. Welche Büronummer?»
Der Mann hielt inne, blickte auf Heidi, dann auf seinen Stock und schließlich, ein wenig sehnsüchtig, wie es Heidi schien, auf den Stuhl, von dem er sich gerade erhoben hatte. «Meinen Sie?», fragte er. «Ich bringe Sie gerne!» Er lächelte nun ebenfalls – flirtend, wie das nur Männer hinbekamen, deren Alter es ihnen eigentlich verbot. Sie widerstand der Versuchung, ihm zuzuzwinkern, um zu sehen, wie er reagieren würde.
«Das ist sehr, sehr nett von Ihnen, aber wirklich nicht nötig. Ich finde mich schon zurecht.»
Der Mann stützte sich mit beiden Händen auf der Tischplatte ab, ließ sich langsam auf dem Stuhl nieder und hakte den Stock neben sich an der Kante ein. «Okay, Raum 212. Sie müssen durch 211, um reinzukommen. Er mag es nicht, wenn man überraschend in seinem Büro auftaucht.»
«Ich werde ihn schon nicht erschrecken.»
«Da wäre ich mir nicht so sicher.» Er grinste verlegen.
Sie ging weiter. Ihre Schritte hallten, als sie das kreisrunde Foyer des Düsseldorfer Polizeipräsidiums betrat. Kurz las sie im Vorbeilaufen ein paar der zahlreichen Straßennamen auf der umlaufenden Empore im ersten Stock. Ein paar Beamte drehten sich zu ihr um, als sie zum Paternoster lief. Im zweiten Stock stieg sie aus, ging in einen schäbigen Flur hinein, alter, abgewetzter Linoleumboden, weiße Wände mit grauen Abrieben, denen frische Farbe gut getan hätte. Hinter sich hörte sie Schritte, dann rief jemand.
«Kann man dir helfen?»
Sie wandte sich um. Ein Polizeibeamter lief ihr mit schnellen, watschelnden Schritten hinterher. Schon nach wenigen Schritten keuchte er. Sein hellblaues Uniformhemd spannte am Bauch. Sie wusste, was jetzt kam.
Ihre Papiere steckten, jedes Dokument in einer Klarsichthülle geschützt, in einer Ledermappe, die sie mit beiden Armen vor der Brust hielt, darauf bedacht, das Kostüm, das sie sich extra für diesen Tag gekauft hatte, nicht in Mitleidenschaft zu ziehen. Sie musste aussehen, als versuchte sie, sich vor dem Polizeibeamten zu schützen, der sich vor ihr aufbaute. Deshalb ließ sie die Arme sinken und hielt die Mappe in der rechten Hand fest an die Seite gepresst. Der Mann war mindestens 30 Zentimeter größer als sie und sicher doppelt so schwer. Auf seiner Stirn standen kleine Schweißperlen. Misstrauisch blickte er auf sie herab. In den letzten vier Jahren hatte die Uniform sie vor diesem Blick geschützt. Damit war es jetzt vorbei.
«Ich bin auf dem Weg zu Hauptkommissar Westphalen.»
Noch bevor sie erklären konnte, was sie von Westphalen wollte, sprach ihr Gegenüber bereits wieder. Lauter als nötig – als ob sie ihn nicht auch in normaler Lautstärke verstehen würde.
«So, zu Hauptkommissar Westphalen!? Und was willst du von dem?»
Er klang, als spräche er mit einem Kind.
Einem sehr dummen Kind.
«Du kannst nicht einfach hier hereinspazieren und durch die Flure schleichen. Das ist das Polizeipräsidium der Landeshauptstadt Düsseldorf, nicht irgendein …»
«Ich schleiche nicht. Mein Name ist Heidi Kamemba und ich habe um 8 Uhr einen Termin mit Hauptkommissar Westphalen. Dienstantritt.»
Heidi klappte die Ledermappe auf und zog den Brief des Innenministeriums heraus, in dem ihr mitgeteilt worden war, dass sie ab heute als Kriminalkommissarin im Kriminalkommissariat 12 der Düsseldorfer Polizei arbeiten würde. Dienstbeginn 01.03.2016, 8:00 Uhr. ‹Bitte melden Sie sich pünktlich bei Ihrem Dienststellenleiter und Vorgesetzten, HK Bruno Westphalen.› Jetzt war es 7 Uhr 57. Sie reichte die Klarsichthülle mit dem Brief dem Polizisten, der ihn las, sie anschaute und ihn wieder las.
«Haben Sie einen Ausweis?» Er ließ nicht locker.
Genervt zog sie ihn aus der Tasche. Sinnlos, Ärger zu machen. Nicht kurz vor dem großen Ziel: Kriminalkommissarin!
Aufmerksam studierte der Kollege Heidis Ausweis, blickte von dem Namen auf dem Brief zu dem Namen, den ihm Heidi vor die Nase hielt. Sie sah förmlich, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Es musste traurig in einem Kopf zugehen, der von ein bisschen Hautfarbe überfordert war.
«Würden Sie mich jetzt bitte zu meinem Arbeitsplatz bringen, Herr Kollege?»
Sie konnte sich die Aufforderung nicht verkneifen. Ihr Gegenüber gab ihr Ausweis und Brief zurück.
«Raum 211, dritte Tür links», sagte er. «Anklopfen nicht vergessen!» Watschelnd machte er sich auf den Rückweg zum Treppenhaus. Heidi hielt Klarsichthülle und Ausweis in der Hand, als sie weiterging. Vielleicht würde sie sie noch brauchen.
Die Tür zu Raum 211 stand offen. Sie atmete tief durch. Trat ein. In der Mitte des etwa 25 Quadratmeter großen Büros standen vier aneinander geschobene Schreibtische. Darauf Computer, die nicht mehr auf der Höhe der Zeit waren, und am Fenster eine Birkenfeige, die das Schicksal der Computer teilte. Aktenmappen lagen auf den Tischen neben den Tastaturen. Deutsche Bürokultur. Als Kind hatte sie sich vor solchen Räumen gefürchtet. Jetzt würde sie selbst eine Frau in solch einem Raum sein.
Hinter den Tischen halbhohe Regale aus der gleichen Baureihe. Akten reihten sich darin aneinander. Als die Möbel gekauft wurden, hatten sie vermutlich weiß geglänzt. Jetzt waren sie so mattgrau wie die Wände. Farbton: angegraut weiß. Glänzend weiß und fast neu sah allerdings das Whiteboard aus, das in einer Ecke des Raums stand, als warte es darauf, von Heidi mit Gedanken zu Ermittlungen gefüllt zu werden.
Sie wettete mit sich selbst, dass an der Wand neben der Tür, die sie nicht sehen konnte, alte Aufklärungsposter der Polizei hingen, dazu Postkarten und ein paar persönliche Bilder der Kollegen, von denen keiner anwesend zu sein schien.
Das Vibrieren ihres Handys riss sie aus ihren Gedanken. Sie schaute auf das Display. Drei Nachrichten: Guten Start wünscht Papa; Toi, toi, toi – ebenfalls von ihrem Vater – und als Letztes: Alles ok? Papa. Ihr Vater. Lieb, aber anstrengend. Lächelnd schaltete sie den Vibrationsalarm aus. Sie wusste, dass ihr Vater vor Stolz platzte, weil seine Tochter eine deutsche Kriminalkommissarin sein würde. Aber er war manchmal eine Glucke.
Ein zufriedenes Grinsen huschte über ihr Gesicht, als sie sich nach rechts wandte. Neben der Tür warnte ein Plakat vor den Gefahren durch Einbrecher. Daneben hingen Postkarten mit Strandmotiven und viel Blau. Eine Frau im knappen Bikini blickte lasziv in die Kamera. Darunter war mit einem bunten Reißnagel ein Bild befestigt, das vermutlich ihre neuen Kollegen zeigte.
Sie saßen in einer Bar oder Kneipe. Um sie herum Kirschholzfurnier und dreieckige Spiegel, 80er-Jahre-Schick. Heidi betrachtete die fünf Personen auf dem Bild, vier Männer und eine Frau. Sie saßen an einem Tisch, dem Fotografen zugewandt. Während die Männer entspannte Lässigkeit ausstrahlten, sich teilweise im Arm hielten, saß die Frau stocksteif und hoch aufgerichtet mitten in der Gruppe. Das ernste Gesicht starr in die Kamera gerichtet, überragte sie ihre Kollegen um einen halben Kopf. Einer der Männer hielt einen Karton mit einem Spielzeugschiff in die Kamera und lachte noch mehr als die anderen. Seine Augen leuchteten. Er wirkte wie ein Siebenjähriger an Weihnachten.
Unter dem Bild hingen ein Dienstplan und ein Zeitungsartikel. Beide verdeckten einen Ausschnitt, der darunter hing. Die Kommissarin konnte nur sein unteres Eck erkennen, Zeitungspapier mit einem schwarzen, schmalen Streifen am Rand. Mit zwei Fingern schob sie die beiden Zettel beiseite und blickte auf eine ausgeschnittene Todesanzeige.
Rolf Becker, Kriminalkommissar, las sie.
Geboren 10.1.1969, gestorben 27.11.2015. Der Mann, der sie von dem Foto auf der Anzeige anschaute, saß auf dem anderen Bild zwischen den Polizisten in der Bar. Er hielt das Schiffchen in die Kamera.
Die Tür zum hinteren Büro wurde aufgerissen. Ein untersetzter Mann um die fünfzig musterte Heidi von oben bis unten. Sie schätzte ihn auf knapp einsfünfundsiebzig. Die Ärmel seines dunklen Poloshirts spannten über den Oberarmen. Irgendwann früher hatte dieser Mann viel Sport gemacht. Kraft besessen. Jetzt verlor das Fleisch langsam seine Festigkeit. Auf dem Foto hatte er neben Rolf Becker gesessen, ihm die Hand auf die Schulter gelegt. Mehr als Kollegen. Freunde vermutlich. Zur Begrüßung streckte sie ihm die Hand entgegen. Lächelte. Er ignorierte Lächeln und Hand.
«Frau Makemba?»
«Kamemba», korrigierte sie ihn.
«Kommen Sie rein!»
Im zweiten, kleineren Büro stand ein einzelner Schreibtisch so, dass jemand, der dahinter saß, Tür und Fenster im Blick hatte. Hinter dem Tisch ein Regal, ähnlich wie die im Vorraum,...
Erscheint lt. Verlag | 20.1.2017 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Computer • Daten • Düsseldorf • Geheimdienst • Hacker • Internet • Kommissarin • Schwarz |
ISBN-10 | 3-644-57151-1 / 3644571511 |
ISBN-13 | 978-3-644-57151-8 / 9783644571518 |
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