Suizidhandlungen von Kindern und Jugendlichen -  Wilhelm Rotthaus

Suizidhandlungen von Kindern und Jugendlichen (eBook)

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2023 | 2. Auflage
246 Seiten
Carl-Auer Verlag
978-3-8497-8053-1 (ISBN)
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Jugendliche und Heranwachsende sind eine Gruppe mit erhöhtem Risiko für suizidales Verhalten. Suizide sind in dieser Altersgruppe seit Jahren die zweithäufigste Todesursache nach Verkehrsunfällen. In jugendpsychiatrischen Kliniken stellen Suizidabsichten bzw. Suiziddrohungen einen der häufigsten Aufnahmeanlässe dar. Angesichts dieser Situation überrascht die Tatsache, dass die Fachliteratur zum therapeutischen Umgang bei Suizidabsichten von Kindern und Jugendlichen bedrückend gering ist. Das Buch gibt einen umfassenden Überblick zum Thema. Es regt Therapeuten an, sich mit ihren eigenen Ängsten und Wertvorstellungen im Hinblick auf Suizidhandlungen auseinanderzusetzen, mit dem Ziel, Zugang zu den Kindern und Jugendlichen in suizidalen Krisen zu gewinnen und ihnen Halt vermitteln zu können. Ausführlich werden das Erkennen und Einschätzen der Suizidalität behandelt und sehr konkret die möglichen Vorgehensweisen erörtert. Tabellarische Übersichten helfen dabei, alle wichtigen Gesichtspunkte zu erfassen. In dem ausführlichen Kapitel zur Therapie werden zunächst vier Leitgedanken formuliert und anschließend mit vielen Fallbeispielen eine Fülle konkreter Vorgehensweisen dargestellt, die sich in der therapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in suizidalen Krisen bewährt haben.

Wilhelm Rotthaus, Dr. med.; Studium der Medizin und der Musik; Ausbildungen in klientenzentrierter Gesprächstherapie, klientenzentrierter Spieltherapie und Systemtherapie. 1983-2004 Ärztlicher Leiter des Fachbereichs Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Rheinischen Kliniken Viersen. Buchveröffentlichungen u. a.: 'Wozu erziehen' (8. Aufl. 2017), 'Systemische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie' (5. Aufl. 2021), 'Ängste von Kindern und Jugendlichen' (2. Aufl. 2021), 'Suizidhandlungen von Kindern und Jugendlichen' (2. Aufl. 2023) 'Schulprobleme und Schulabsentismus' (2. Aufl. 2022), 'Ängste von Kindern und Jugendlichen. Erkennen, verstehen, lösen' (2. Aufl. 2021), 'Suizidhandlungen von Kindern und Jugendlichen. Erkennen, verstehen, vorbeugen' (2020), 'Fallbuch der Systemischen Therapie mit Kindern und Jugendlichen' (2020).

Wilhelm Rotthaus, Dr. med., hat neben dem Studium der Medizin in Freiburg, Paris und Bonn und dem der Musik in Köln Ausbildungen in klientenzentrierter Gesprächstherapie, klientenzentrierter Spieltherapie und Systemtherapie absolviert. Von 1983 bis 2003 war er Ärztlicher Leiter des Fachbereichs Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Rheinischen Kliniken Viersen. Buchveröffentlichungen u. a.: "Wozu erziehen" (7. Aufl. 2010), "Systemische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie" (4. Aufl. 2013) und "Ängste von Kindern und Jugendlichen" (2015).

Vorwort der Herausgeber 10
1Einleitung 12
2Suizid 15
2.1Suizid – eine Herausforderung an die Gesellschaft und jeden Einzelnen 15
2.2Die Geschichte des Suizids 17
2.2.1Die Bewertung des Suizids im Laufe von zweieinhalb Jahrtausenden 17
2.2.2Die Häufigkeit des Suizids im Verlauf der Geschichte 20
3Suizidverhalten von Kindern und Jugendlichen 23
3.1Begriffliche Klärung 23
3.2Todeswunsch und Wunsch nach Veränderung der Umwelt 27
3.3Häufigkeit 29
3.4Geschlecht und Suizid 31
3.5Abschiedsbriefe 33
4Risiko- und Schutzfaktoren für das Auftreten von Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen 37
4.1Ein ökologisches Risikofaktorenmodell 37
4.2Selbstverletzung und Suizidalität 38
4.3Homosexualität und Suizidalität 41
4.4Sucht und Suizidalität 43
4.5Der Einfluss von Suggestion und Nachahmung 45
4.5.1 Der sogenannte Werther-Effekt 45
4.5.2Lernen am Modell und Nachahmung 48
4.5.3Doppelsuizide und Mehrfachsuizide 50
4.5.4Die Bedeutung von Suizidforen im Internet 51
4.6Schutzfaktoren bei widerstandsfähigen Kindern und Jugendlichen 53
5Anregungen für eine hilfreiche Haltung der Therapeutin gegenüber Kindern und Jugendlichen in einer suizidalen Krise 59
5.1Ein Bewusstsein für eigene Ängste vor Tod und Selbsttötung 59
5.2Die eigene Entschiedenheit für das Leben 61
5.3Ein Wissen um die eigene Kompetenz 62
5.4Eine bescheidene Selbstgewissheit der Therapeutin 62
5.5Sensibilität für Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse 63
5.6Eine Haltung der Allparteilichkeit gegenüber dem Kind oder Jugendlichen und seinen Angehörigen 64
5.7Moralische und rechtliche Überzeugungen der Therapeutin 65
5.8Die Bedeutung des eigenen Arbeitskontextes 67
5.9Folgen einer Entscheidung zur stationären Einweisung 68
5.10Selbstvergewisserung nach Suizid eines Kindes oder Jugendlichen 69
6Störungsverständnisse auf der Basis von Soziologie, Psychoanalyse und Lerntheorie 70
6.1Soziologisches Störungsverständnis 70
6.2Psychoanalytisches Störungsverständnis 72
6.3Das Konzept der »erlernten Hilflosigkeit« 73
7Exkurs: Eine kleine Geschichte des Individuums 76
7.1Das Menschenbild bis zum Ende des Mittelalters 77
7.2Die Erfindung des Individuums 78
7.3Der Mensch als Maß aller Dinge 82
7.4Perspektiven eines neuen Menschenbildes 84
8Systemtherapeutisches Störungsverständnis 86
8.1Die Verortung suizidalen Denkens und Handelns im familiären Beziehungsgefüge 86
8.2Die Suizidhandlung als »cry for change« 89
8.3Familiäre Konstellationen und Suizidalität 90
8.3.1Rigidität und Erstarrung 90
8.3.2Familiengeheimnisse 92
8.3.3Symbiotische Verstrickung 93
8.3.4Chaos und emotionale Instabilität 96
8.3.5Diffusität von Zuständigkeit und Verantwortung 97
8.3.6Die tödliche Botschaft 98
8.3.7Die Alles-oder-nichts-Idee 101
8.3.8Schuld- und Verdienstkonten in Familien 102
8.4Die Bedeutung der Kompetenz- und Kontrollüberzeugung 104
8.5Krankheit als untauglicher Erklärungsansatz 106
8.6Suizid ist keine Impulshandlung 109
9Erkennen und Einschätzen der Suizidalität 111
9.1Anzeichen einer Entwicklung zur Suizidalität 111
9.1.1Das präsuizidale Syndrom 111
9.1.2Stadienmodell der präsuizidalen Entwicklung 113
9.1.3Warnhinweise in der Zusammenfassung 114
9.1.4Der Teufelskreis der Kommunikation 114
9.2Merkmale akuter Suizidalität 116
9.3Therapeutisches Vorgehen in der suizidalen Krise 118
9.3.1Notfallpläne 118
9.3.2Non-Suizid-Vereinbarungen 121
9.3.3Jugendliche, die ihre Suizidwünsche und Suizidpläne nicht aufgeben 127
9.4Aussichtslosigkeit 127
9.5Unrecht und Ungerechtigkeit in der Welt 129
9.6Der Sinn des Lebens 130
9.7Suizid als Bestrafung 130
9.8Äußerung persönlicher Betroffenheit seitens der Therapeutin 132
9.10Inkompetenz-Erklärung der Therapeutin 133
9.11Indikation zur stationären Aufnahme 133
10Systemische Therapie der Suizidhandlungen von Kindern und Jugendlichen 135
10.1Leitgedanken für die Arbeit der Therapeutin 135
10.2Leitgedanke 1: Der Jugendliche will sterben, zugleich aber auch leben 137
10.3Leitgedanke 2: Die suizidale Handlung ist in ihrem Bezug auf das relevante System zu verstehen 141
10.4Leitgedanke 3: Die suizidale Handlung ist ein »cry for change« 145
10.5Leitgedanke 4: Die Unterscheidung von aktuellem Suizidanlass und der basalen Suizidalität 146
10.6Das Gespräch zur Risikoeinschätzung mit dem Kind oder Jugendlichen 147
10.6.1Ansprechen des Verdachts auf Suizidalität 147
10.6.2Klärung von Anliegen, Ziel und Auftrag 148
10.6.3Rapport herstellen 149
10.6.4Exploration der familiären Situation und des erweiterten Kontextes 153
10.6.5Erfragen der Ambivalenz 154
10.7Das Gespräch mit der Familie 155
10.7.1Die Notwendigkeit des Einbezugs der Familie 155
10.7.2Klärung von Anliegen, Ziel und Auftrag 159
10.7.3Die Frage nach der Ursache 160
10.7.4Die Einschätzung der Wiederholungsgefahr 160
10.7.5Die Ernsthaftigkeit der Suizidhandlung 162
10.8Die überflüssige Frage nach dem Warum 162
10.9Systemische Hypothesenbildung 164
10.10Lösungsorientierung – die wichtige Frage nach dem Wohin 167
10.11Ressourcenorientierung 169
10.12Rekontextualisierung 172
10.13Förderung des Kontrollerlebens 175
10.14Die Frage nach dem Sinn des Lebens 177
10.15Rigidität und Erstarrung 179
10.16Familiengeheimnisse 184
10.17Diffusität von Zuständigkeit und Verantwortung 190
10.18Die tödliche Botschaft 193
10.19Umgang mit Tod und Suizid in der Familiengeschichte 196
10.20Teilearbeit 201
10.21Reflecting Team 205
10.22Genogrammarbeit 207
10.23Narrative Therapie: Das Entwickeln einer neuen, heilsamen Geschichte 209
10.24Dramatisierungen 211
10.25 Gewaltloser Widerstand angesichts der Suiziddrohung 214
10.26Bindungsorientierte Familientherapie als ambulante Nachsorge für Jugendliche nach Suizidversuch 217
10.27Parents-CARE – ein (Präventions-)Programm für Eltern von Jugendlichen in einer suizidalen Krise 221
11Stationäre Therapie 224
12Amok 227
13Medikamentöse Therapie 231
14Schulbasierte Suizidprävention 233
Online-Material 236
Literatur 237
Über den Autor 247

Suizid

Die Möglichkeit des Menschen, sich selbst das Leben zu nehmen, ist zu allen Zeiten als Provokation aufgenommen worden, die vielfältige Reaktionen ausgelöst hat. Seit Platon und Aristoteles haben die meisten Philosophen sich mit diesem Phänomen auseinandergesetzt. Kirche und Staat haben im Laufe der Zeit die unterschiedlichsten Positionen vertreten und in ihre jeweilige Gesetzgebung umgesetzt. Für Therapeutinnen erscheint zumindest ein kurzer Blick in diese Geschichte aufschlussreich, müssen sie doch für sich selbst eine eigene Position finden, wie sie diesem Phänomen begegnen wollen.

2.1 Suizid – eine Herausforderung an die Gesellschaft und jeden Einzelnen

Suizid (von neulateinisch suicidium, aus sui »sich selbst« und caedere, »erschlagen, töten, morden«) ist die vorsätzliche Beendigung des eigenen Lebens, indem man sich selbst aktiv mit Waffen wie Messern, Pistolen, durch Erhängen u. a. oder die Einnahme von Medikamenten und Giften oder aber eher passiv beispielsweise durch Verweigerung der Nahrungsaufnahme Schaden zufügt. Im Verlauf der Geschichte dominierten unterschiedliche Begriffe wie Selbstmord, Selbstentleibung, Selbsttötung, Freitod und Suizid die Diskussion. Mit jedem dieser Begriffe verbindet sich eine spezifische Sicht auf das Geschehen, dass sich eine Person selbst tötet. Im Alltag wird heutzutage meist der Begriff Selbstmord verwendet, der im 17. Jahrhundert als Lehnübersetzung aus suicidium entstand. Doch dieses Wort kann als tabuisierend, stigmatisierend und/oder kriminalisierend aufgefasst werden. Demgegenüber wirkt das Wort Freitod eher heroisierend. Der aus dem englischsprachigen Raum übernommene Begriff Suizid wird erst seit einigen Jahrzehnten genutzt und hat sich als eine neutral eingeschätzte Bezeichnung im wissenschaftlichen Bereich etabliert. Aber auch die als distanziert und wissenschaftlich neutral akzeptierte Sprachformel Suizid kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es diese gesellschaftliche Neutralität gegenüber jemanden, der sich selbst tötet, nicht gibt und dass das Bemühen um einen politisch korrekten Begriff ebenso zeittypisch für das 20. Jahrhundert ist, wie es die Bezeichnung Selbstmord, die ihre Bewertung offenlegt, für frühere Zeiten war.

Selbstmordhandlungen sind – wie es in den aufgeführten Bezeichnungen zum Ausdruck kommt – zu verschiedenen Zeiten unter den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen unterschiedlich bewertet worden. Zu allen Zeiten aber war trotz der jeweils dominanten Strömungen der gesellschaftliche Umgang mit diesem Phänomen von Ambivalenz geprägt. Die Konfrontation mit einem Tod, in den sich jemand vorzeitig und eigenmächtig begibt, rührt an die Grundfragen menschlicher Existenz und provoziert eine Stellungnahme, insbesondere wenn es sich um die Tat von Kindern oder Jugendlichen handelt, die in unseren Augen ihr ganzes Leben noch vor sich haben. Solch ein Geschehen macht betroffen, weil der Selbstmord eine Option ist, die jedem Menschen jederzeit offensteht. Die Selbstverständlichkeit des Lebens wird infrage gestellt. Goethe schrieb dazu in Dichtung und Wahrheit (1985, Münchener Ausgabe 16, herausgegeben von Peter Sprengel, S. 617 – nach Lind 1999, S. 9):

»Der Selbstmord ist ein Ereignis der menschlichen Natur, welches, mag auch darüber schon so viel gesprochen und gehandelt worden sein als da will, doch einen jeden Menschen zur Teilnahme fordert, in jeder Zeitepoche wieder einmal verhandelt werden muss.«

Ein Suizid, mit dem ein Mensch konfrontiert wird, verlangt jedem Menschen eine persönliche Stellungnahme ab. Darüber hinaus ist jede Gesellschaft aufgerufen, sich in dieser Frage zu positionieren.

»Die Gesellschaft jedes Zeitalters ist gezwungen, diese Frage erneut zu thematisieren, d. h. sie muss sich der Einsicht stellen, dass es hier keine absoluten Wahrheiten, keine sichere Erkenntnis zu gewinnen gibt, sondern dass die Bewertung des Selbstmords von zeitlich und geografisch wandelbaren kulturellen Werten bestimmt wird« (Lind 1999, S. 9).

2.2 Die Geschichte des Suizids

2.2.1 Die Bewertung des Suizids im Laufe von zweieinhalb Jahrtausenden

Der Suizid ist eine Handlung, die bereits in der antiken Philosophie debattiert wurde und die für die meisten Autoren unter bestimmten Voraussetzungen durchaus mit einem tugendhaften Leben und einem ehrenwerten Tod zu verbinden war. Die berühmteste und am häufigsten zitierte Schrift zu diesem Thema ist Platons (um 427 v. Chr. bis um 347 v. Chr.) Phaidon. Darin lässt er Sokrates mit seinen Freunden über den Tod, die grundsätzliche Beschaffenheit der Seele und über ihre Unsterblichkeit diskutieren. Über den Selbstmord führt Sokrates aus,

»dass wir Menschen in einer Art von Gewahrsam seien, man sich nicht selbst daraus lösen und davonlaufen solle … dass die Götter unsere Hüter sind und wir Menschen zum Besitz der Götter gehören« (Platon, Phaidon, Griechisch-Deutsch, Philosophische Bibliothek 431. Übersetzt und herausgegeben von Barbara Zehnpfennig. Hamburg 1991 62b 1999, S. 15, nach Lind S. 24).

Der Mensch hat also keine Macht über sich selbst, er ist der Sklave einer höheren Gewalt, woraus folgt,

»dass man sich selbst nicht eher töten soll, als bis Gott irgendeine Notwendigkeit verhängt hat«.

Diese beiden Argumente wurden später immer wieder aufgegriffen und gerieten zur Grundlage des Selbstmordverbots in der christlichen Theologie. An anderer Stelle lässt Platon Selbstmord für diejenigen als Ausnahme gelten, die

»durch ein über die Maßen qualvolles unentrinnbares Unglück«,

durch den Staat oder durch einen das Leben verleidenden Ehrverlust zu diesem Schritt gezwungen wurden. Für alle anderen bestimmt er als Konsequenz ein isoliertes und nicht markiertes Begräbnis.

Nach Aristoteles (384 v. Chr. bis 322 v. Chr.) handelt ein Mensch, der sich selbst tötet, unrechtmäßig und vergeht sich gegen die Polis (den Stadtstaat). In seinen Augen widerspricht der Suizid der natürlichen Bestimmung des Menschen, sich der Gemeinschaft zu verpflichten. Die Verwerflichkeit der Tat liegt in ihrer sozialen Verantwortungslosigkeit, d. h. in der Pflichtverletzung gegenüber dem Staat (vgl. u. a. Schmitt 1976 u. Minois 1996).

Seneca (4 v. Chr./1 n. Chr. bis 65 n. Chr.) als Vertreter der römischen Stoa setzte sich von dieser Sichtweise ab und gestand dem Menschen grundsätzliche Verfügungsgewalt über sein Leben zu. Nichts Besseres habe uns das ewige Gesetz geschenkt, als dass es uns einen einzigen Eingang ins Leben gegeben habe, doch viele Ausgänge. Aber diese Wahlfreiheit ist für ihn keine willkürliche, sondern gründet auf der ethischen Abwägung, ob das eigene Leben weiterhin sittlich gelebt werden kann oder nicht. Entscheidende Kriterien sind die tugendhafte Tätigkeit und die Würde des Lebens. Im Einzelfall sei der Mensch berechtigt, wenn nicht sogar verpflichtet, sich selbst zu töten, um durch die Wahrnehmung dieser Freiheit über das eigene Leben die Bewahrung der menschlichen Würde zu sichern. Falls beispielsweise eine Person überzeugt sei, ewig unter Schmerzen leiden zu müssen, dann werde sie die Welt nicht wegen dieses Schmerzes verlassen, sondern weil der Schmerz sie von einem lebenswerten Leben ausschließe. Leben an sich besitzt für die Stoiker keinen Wert; entscheidend für die nachträgliche Beurteilung eines individuellen Lebenslaufes ist die Art des Todes. Sieht sich ein Mensch durch bestimmte Lebensumstände gezwungen, moralische Grundsätze zu verleugnen, kann der Selbstmord seine Berechtigung haben und wird selbst zur guten Tat.

In der Folgezeit bezog das Christentum mit einer Rigorosität, wie sie bis dahin bei keiner philosophischen Schule vertreten wurde, eine entschiedene Gegenposition zu den Stoikern, obwohl weder im Alten noch im Neuen Testament eine eindeutige Verurteilung des Suizids zu finden ist. Augustinus (354–430) legte die Grundlagen für diese Entwicklung, indem er Mord und Selbstmord gleichstellte. Für ihn war der Selbstmord ein Verstoß gegen das fünfte Gebot »Du sollst nicht töten!«. Nur knapp 100 Jahre später bestimmte dann 533 n. Chr. das Konzil von Orléans, dass Selbstmörder – wie Mörder – ohne Gesang und ohne Fürbitten beerdigt werden sollten. Die Konzile von Braka (563) und von Auxerre (578) verschärften nochmals die Strafen, sodass – laut Minois (1996, S. 52) – der Selbstmord nun schärfer geahndet wurde als der Mord an einem anderen, der lediglich eine Geldbuße zur Folge hatte. Minois (a. a. O., S. 53 f.) führt dies darauf zurück, dass in dieser Epoche die weltlichen Herren einschließlich der Kirche ähnlich wie Gott als Herrscher über das Leben ihrer Untertanen angesehen wurden. Die Interessen Gottes ähnelten denen der Eigentümer ihrer Leibeigenen:

»Wer über sein eigenes Leben verfügt, greift in die Rechte des einen wie der anderen ein. Die zivilen und religiösen Autoritäten führen denselben Kampf gegen den Selbstmord, und ihre Abschreckungsmaßnahmen ergänzen einander: Konfiszierung der Güter und ewige Verdammnis.«

Im 13. Jahrhundert formulierte Thomas von Aquin (1224/1225 —1274) dann nochmals die drei Hauptargumentationsstränge, die in den folgenden 500 Jahren den theologischen Diskurs bestimmen sollten. Erstens: Sich selbst zu töten, verstößt gegen das Naturgesetz, das besagt, dass jedes Wesen sich selbst von Natur aus liebt und sich zu erhalten sucht. Zweitens: Ein Selbstmörder fügt nicht nur sich selbst, sondern als Teil der Gesellschaft auch der Gemeinschaft ein Unrecht zu. Drittens: Das menschliche Leben ist ein...

Erscheint lt. Verlag 13.10.2023
Reihe/Serie Störungen systemisch behandeln
Verlagsort Heidelberg
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
Schlagworte Kinder- und Jugendlichentherapie • suizidabsicht • suizidhandlungen
ISBN-10 3-8497-8053-8 / 3849780538
ISBN-13 978-3-8497-8053-1 / 9783849780531
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