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Tinko (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
388 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-1204-7 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
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Die Wirren und Hoffnungen der Nachkriegszeit. Mit tiefem Misstrauen betrachtet Tinko den fremden Mann, der eines Tages als 'Heimkehrer' im Dorf auftaucht und zu dem er Vater sagen soll. Tinko ist hin- und hergerissen zwischen den Geboten seines eigensinnigen Großvaters und den Träumen von einer neuen Zeit, die der Heimkehrer mitbrachte.

Erwin Strittmatter wurde 1912 in Spremberg als Sohn eines Bäckers und Kleinbauern geboren. Mit 17 Jahren verließ er das Realgymnasium, begann eine Bäckerlehre und arbeitete danach in verschiedenen Berufen. Von 1941 bis 1945 gehörte er der Ordnungspolizei an. Nach dem Kriegsende arbeitete er als Bäcker, Volkskorrespondent und Amtsvorsteher, später als Zeitungsredakteur in Senftenberg. Seit 1951 lebte er als freier Autor zunächst in Spremberg, später in Berlin, bis er seinen Hauptwohnsitz nach Schulzenhof bei Gransee verlegte. Dort starb er am 31. Januar 1994.

Zu seinen bekanntesten Werken zählen sein Debüt »Ochsenkutscher« (1950), der Roman »Tinko« (1954), für den er den Nationalpreis erhielt, sowie die Trilogien »Der Laden« (1983/1987/1992) und »Der Wundertäter« (1957/1973/1980).

I


Schon am Morgen ist es wie Frühling. Ich reiße das vortägige Blatt vom Kalenderblock. Eine fette schwarze Zehn wird sichtbar. Unter der Zehn steht »Oktober«. Schon den zweiten Tag bin ich nicht in der Schule. Die Kartoffeln und Großvater sind daran schuld.

Morgen werden sie in der Schule den Hausaufsatz abliefern: »Worüber ich glücklich wäre.« Von mir wird der Lehrer Kern keinen Hausaufsatz sehen. Ich wäre glücklich, wenn ich wieder in die Schule gehen könnte. Man braucht sich dort nicht zu bücken, bis der Rücken starr und steif wird.

Ich schlendere aufs Feld. Die Sonne wärmt. Die Luft ist lau. Am Feldrain hascht ein Wiesel nach einer Maus. »Du Räuber, laß die Maus leben!« Das Wiesel stutzt. Es starrt mich ein Weilchen mit seinen Punktaugen an und fährt dann in sein Loch. Die Maus ist gerettet. Ich trete das Wieselloch mit dem Holzpantoffel zu. »Wühl dich aus und arbeite, wenn du fressen willst.«

Großvater läßt Bläker, den Brandfuchs, am Rain verschnaufen und schaut mich verdrießlich an. Ich habe Arbeitszeit vertrödelt und muß den Großvater versöhnen.

»Ich möchte wetten, die Kalendermacher haben sich vertan, Großvater.« Großvater nickt nachdenklich und macht einen Knoten in seine Peitschenknalle. Bläker fühlt sich unbeobachtet. Er zockelt Schritt bei Schritt zum Rain. Den umgekippten Pflug zieht er hinter sich her. Am Rain rupft Bläker das taugraue Gras. Großvater wischt sich mit seinem roten Schnupftuch Tröpfchen aus dem Schnurrbart. Die Tröpfchen sind aus niedergegangenem Nebel. »Wie Frühjahr«, sagt er. »Wetten will ich nicht mit dir. Die Kalendermacher sitzen in ihren Stuben und schmurgeln dreihundertfünfundsechzig Tage herunter. Sie sollen für jeden einen Namen finden, um den Mond müssen sie sich kümmern, hinter jedem Sonntag müssen sie einzeichnen, wie voll oder wie neu der Mond ist. Mühsam, mühsam! Kann sein, ein Kalendermacher hat schlecht gefrühstückt. Er kommt an seine Werkbank und schreibt einfach: ›Trüb‹. Bums, haben wir einen grauen Tag mehr im Kalender. Summa summarum: Das schlechte Essen hat die Prophezeiung getrübt.«

Großvaters schwarze Kautabakzähne lugen am unteren Bartrand aus dem Mund. »Ja, jaaa!« Sein Blick fällt auf den malmenden Bläker. »So ein Freßwanst, so einer; das Moos würd er vom Dach fressen, wenn er’s packen könnte. Hü, hott jetzt!«

Wir lesen Kartoffeln. Der Pflug holt Kartoffelnester ans Licht. Die Kartoffeln duften. Die dunkle Erde duftet. Nicht alle Kartoffeln wollen in unsere Körbe. Sie verstecken sich hinter dem umgefallenen Kraut oder dem Erdwulst, den die Pflugschar aufwirft. Wir versuchen sie zu finden, Großmutter, Frau Clary und ich. Wenn wir nicht alle Kartoffeln aufstöbern, zeigt sie uns Großvater. Er knallt zornig mit der Peitsche und schreit: »Ihr lest hier Kartoffeln und keine Zeitung, ihr Verrecker, ihr! Nehmt, was euch die Erde gibt!«

Frau Clary zuckt zusammen und eilt wie eine Schlupfwespe hin und her. Die Großmutter ächzt. Mir tut der Rücken weh. In meinen Füßen stecken Distelstacheln. Ich habe keine Zeit, sie herauszuziehen.

Wir rackern und zerbücken uns. Hastig wie hungrige Vögel picken wir die runden Erdfrüchte ein. Hinter unseren schmerzenden Rücken zieht die Sonne ruhig ihre Bahn. Ein sanfter Mittagswind führt den Ruch von welkem Laub übers Feld.

Dem Himmel und seiner Sonne sei Dank, daß Bläker um Mittag sein Futter verlangt. Er bleibt stehen. Weder Fluch noch Peitschenschlag bringen ihn weiter. Der Futtersack muß heran. Großvater holt ihn vom Wagen. Auf diese Weise sorgt Bläker auch für unsere Mittagsrast. Wir würgen belegte Brote in uns hinein, schauen ängstlich nach Bläker und wünschen, daß er unsere Mittagszeit nicht durch sein hastiges Schlingen verkürzen möge. Die Erdkrusten an unseren Fingern werden trocken und brüchig. Brot und Erde vermischen sich in unseren Händen. Das Brot ist weich. Die Erde ist hart. Sie knirscht zwischen den Zähnen. Wir spülen sie mit kaltem Gerstenkaffee aus dem Mund.

Eine Bachstelze umhuscht uns. Der warme Tag hat ihren Mittagsfraß mit fetten Fliegen gesegnet. Auf den Feldern flammen Kartoffelfeuer auf. Ihr Qualm zieht halbhoch über die Felderweite und duftet herb.

Ich soll bei Kimpels leere Kartoffelsäcke ausborgen gehen. »Schon ausgemacht«, sagt der Großvater. Ich bin froh, daß ich mich recken und davongehen kann.

Lichter, weiter Nachmittag. Die Grillen raspeln wie irr mit den Hinterläufen an ihren Glitzerflügeln: Swierie, swierie, swierie! Die Hummeln sind noch einmal lebendig geworden. Sie hängen wie Bommeln aus schwarzem Samt an den späten Heidkrautblüten. Die Stare pfeifen und fauchen. Sie singen den Sommer nach Hause.

Bei Kimpels ist niemand daheim. Die Hunde liegen angekettet auf der Sonne und gnubbern ihr Fell nach Flöhen ab. Sie kennen mich, heben nur den Kopf und fächeln mit den halb kahlen Schwänzen über den Sand. Ich will über die Wiesen zurück, da steht das Ausgedingerhäuschen der Kimpelmummel. Die Kimpelmummel stößt ihr Fenster auf. »Was willst du, mein Herzengel?«

»Nichts«, sage ich. Die Kimpelmummel darf mir die Säcke nicht geben. Sie hat auf dem Hofe nichts mehr zu bestellen.

»Wenn du den Fritzel suchst, Schäfchen du, in den Sandlöchern ist er. Rumschreien tut er.«

Ich werde zum Fritz gehen.

»Ist aber heute schön draußen, ist’s nicht, Jungchen?«

»Es ist, Kimpelmummel. Die Bäume werden wieder blühn.«

Dicke Herbstfliegen kleben an der Hauswand. Sie strecken die hintersten Beine und fahren sich damit über die Flügel. Sicher gähnen sie vor Trägheit, aber ich habe keine Zeit, darauf zu achten.

»Kalendermann, Kalendermann,

schau dir doch den Kalender an:

Bist groß genuch, bist alt genuch,

machst Fehler ins Kalenderbuch …«,

singe ich. Ich gehe zu den Sandgruben hinauf.

»Ooorwauch«, macht es aus einem Strauch. Hinter den angeherbsteten Brombeerblättern leuchtet ein heller Haarschopf. Die hellen Zottelhaare gehören Theo Wunsch. Wir sagen Murmelauge zu Theo. Seine Augen sind blank und blau wie neue Murmeln.

»Bist erkannt, kannst dreist hervorkommen, Murmelauge!«

Murmelauge kriecht auf Händen und Füßen aus dem Birkenbusch. Er steckt die Zunge heraus, zieht die Nase kraus und schürzt die Oberlippe. Was hat er? Hat ihn eine Wespe gestochen? Murmelauge läßt seine Zähne sehen, knurrt und jachelt. So kommt er auf mich zugesprungen und will mich in die Wade beißen. Ich trete zur Seite. Er fährt mit dem offenen Mund ins stachlige Heidkraut.

»Ihr spielt wohl Hamsterbruder und Hund?« Ich zieh mir einen Distelstachel aus der Fußsohle. Theo richtet sich auf und knirscht mit den Zähnen. »Ich bin viel was Schlimmeres. Ich bin ein Wolf.«

»Ein Wolf hat keine Zahnlücke, du Krautscheuche, du!«

»Das Rotkäppchen werde ich noch leicht fressen.«

»Ich spiel nicht mehr mit«, ruft ein Mädchen aus dem Birkengehölz.

»Warum nicht, Stefanie?«

»Das will ein Wolf sein? Er schwatzt auf dem Wege mit den Leuten.«

Stefanie Clary kommt mit einem löcherigen Henkelkorb aus den Sträuchern. Im Korb liegt ein Strauß verblichener Grasnelken.

»Der Wolf frißt Kreide, und schwupp, kann er sprechen, so steht’s im Märchenbuch«, grunzt Murmelauge und zieht ein Stück Schulkreide aus der Hosentasche. Er weiß nicht, ob er noch Wolf oder wieder Mensch sein soll. »Und der Kimpel-Fritz ist ein Murkser, das sag ich.«

Kimpel-Fritz hat den Jäger spielen sollen. Er ging sich in den Kieslöchern ein Gewehr holen und kam nicht zurück.

Wir gehen ihn suchen.

»Er ist ein Spielverderber«, schimpft Murmelauge. »Ich krieg den Krampf in die Nase vom Knurren. Die Zunge wird mir steif beim Jappen. Er findet kein Gewehr, der Zumpel, der.«

Aus der ersten Sandgrube steigt uns Tschechensepp entgegen. Er streicht über seinen schwarzen Igelkopf. »Ich hab das Glück gefunden.«

»Das Glück?« Stefanie schüttelt sich. Ihre Zopfschaukel wippt auf dem Rücken. Tschechensepps Finger sind grün vom Grasrupfen. Er streckt uns eine Faust hin und öffnet sie langsam, fast feierlich. Ein sattgelber Feuerstein liegt in der grünen Höhlung seiner Handfläche. Der Stein ist glänzend und glatt. Die Erde hat ihn belutscht und dann ausgespuckt. »Ein Eistein. Er bringt Glück«, versichert Tschechensepp.

»Wirf ihn beim Bäcker ins Fenster, dann läuft dir das Glück mit einer Zaunlatte nach«, hänselt Murmelauge. Sepp lächelt versonnen. »Man muß ihn in die Weite werfen. Wo er niedergeht, findet man etwas.«

»Einen Hundehaufen wirst du finden, Sepp.«

Nach einer Weile rutschen wir alle in die Sandgrube. Wir suchen nach Glückssteinen. Ich vergesse, daß ich Kartoffelsäcke holen sollte. Auch ich finde einen schmutzigweißen Eistein. Mein Stein ist nicht groß. Er wird mir nur ein kleines Glück bringen. Murmelauge stochert nach Grillen. »Wenn ich Glück hab, fang ich eine. Werft ihr nur eure Eier in den Wind!«

Stefanie hat die Strümpfe ausgezogen und um den Hals geschlungen. Sie muß ihre Strümpfe selber stopfen. Tschechensepps Füße sind erdgrau. Am linken Fuß hat er eine breite Kratzwunde. Die Kratzwunde hat er mit Lehm verschmiert.

Jetzt hat jeder einen Glücksstein. Wir erklettern die Sandwand der Kieskuhle. Kleine Steine kullern scheppernd nach unten. Wir hören das Hammergeläut aus der...

Erscheint lt. Verlag 17.10.2016
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Deutschland • Dorf • Hoffnung • Nachkriegszeit • Roman • Wirren
ISBN-10 3-8412-1204-2 / 3841212042
ISBN-13 978-3-8412-1204-7 / 9783841212047
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