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Der Laden (eBook)

Roman. Erster Teil
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
536 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-1206-1 (ISBN)
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'Die Welt ist voller Geheimnisse. Wenn ich älter bin, werde ich sie ergründen.'

Ein folgenschwerer Tag ist jener 15. Juni 1919 für Esau Matt: Die Familie zieht um, von einem Niederlausitzer Heidedorf in ein anderes, nach Bossdom. 'Brod-, Weissbäckerei, auch Colonialwarenhandlung' steht über dem Laden, den die Eltern mit nichts als Geborgtem erworben haben. Von nun an wird Esau Bäckersch Esau sein und bleiben, und der Laden wird tyrannisch in den Familienfrieden eingreifen.

Erster Teil der Trilogie.



Erwin Strittmatter wurde 1912 in Spremberg als Sohn eines Bäckers und Kleinbauern geboren. Mit 17 Jahren verließ er das Realgymnasium, begann eine Bäckerlehre und arbeitete danach in verschiedenen Berufen. Von 1941 bis 1945 gehörte er der Ordnungspolizei an. Nach dem Kriegsende arbeitete er als Bäcker, Volkskorrespondent und Amtsvorsteher, später als Zeitungsredakteur in Senftenberg. Seit 1951 lebte er als freier Autor zunächst in Spremberg, später in Berlin, bis er seinen Hauptwohnsitz nach Schulzenhof bei Gransee verlegte. Dort starb er am 31. Januar 1994.

Zu seinen bekanntesten Werken zählen sein Debüt »Ochsenkutscher« (1950), der Roman »Tinko« (1954), für den er den Nationalpreis erhielt, sowie die Trilogien »Der Laden« (1983/1987/1992) und »Der Wundertäter« (1957/1973/1980).

Es muß schrecklich sein, immer zu denken: Zwanzig Liter, zwanzig Liter. Ich will mich lieber irren.

Auch der Petroleumkutscher hat eine Geiernase. Ein Netz von Hautgräben, ein kleiner Spreewald, durchzieht sein Gesicht. Für mich ist der Petroleumkutscher mit den Schutzmarken-Cowboys verwandt.

Nee, der heeßt Brando und stammt von Terppe, sagt der Großvater. Er kennt alle sorbischen Kutscher aus Grodk. Aber für mich bleibt der Petroleumkutscher, ob er Brando heißt oder nicht, mit den Cowboys verwandt. Er hat den großen Hut nur daheim gelassen und die wendische Kito-Mütze aufgesetzt, damit die Leute ihn nicht verhöhnen.

Ich habe mir mein eigenes Amerika erbaut, erbaut aus den Erzählungen der Vater-Mutter, aus den Erinnerungen von Tante Magy, aus den Empfindungen, die mir der amerikanische Schaukelstuhl der Großmutter vermittelte, aus Gerüchen, die die alten Schulbücher und die Briefe von Onkel Stefan ausströmen, und ich ordne Brando in mein Amerika ein, von dem ich niemand etwas erzähle. Ich lasse meine Träume wachsen, es sind Pilze im Heide-Moos, die erst groß genug sein müssen, um gefunden zu werden.

Meine Mutter meint, wir sollen feine Kinder werden. Bissel so wie Stadtkinder. Vor allem das Deitsche sollen wir besser reden lernen.

Warum solln wa nich reden wie alle, Mama?

Damit ihr besser furtkommt im Leben.

Ganzes und ganzes das Furtkommen! Wo sollen wir denn hinkommen, Mama?

Das werd ihr denn schon sehn!

Wir haben es gesehen, wirklich, oh je, oh ja.

Sagt nicht immer nee, wenn es nein heißt, sagt die Mutter. Sagt nicht kleene, wenn es klein heißt, sagt nicht Beene, wenn es sich um eire Beine handelt!

Wir sind gehorsam, für eine Weile wenigstens. Wir sagen nicht mehr Schnee, sondern Schnei, und wir sagen auch Chaussei, und die bommligen Blüten des Rotklees werden Kleiblüten. Meine Schwester kommt vom Spielen herein und sagt: Mama, Leihmanns Richard hat mir berotzt!

Es heeßt Lehmanns Richard, verbessert die Mutter.

Ich denke, es heißt nicht heeßt, sagt die Schwester.

Die ertappte Mutter geht drüber hinweg und sagt: Es heißt nicht berotzt, sondern es heißt: Lehmanns Richard hat mir mit Nasenschmutz beworfen. Rotzen ist ein dreckiges Wort, sagt sie, sie weiß nicht, daß auch der Herr Luther solche dreckigen Wörter benutzte. Doktor Martin Luther – die Mutter verehrt ihn, zumindest am Reformationstage im Oktober, verehrt ihn, weil der so mehr fürs Moderne war und sich nicht hat abhalten lassen, die liebe Katharina von Bora von ihren Nonnenleiden zu erlösen und zu heiraten.

Die Mutter ist nicht nur fürs Moderne, sie ist auch fürs Adrette. Sie exerziert mit meiner Schwester, wie sich eine adrette Frau die Schürzenbänder auf dem Rücken zu einem Schmetterling aufbindet, ohne in einen Spiegel zu sehen. Sie belehrt auch uns Jungen. Wenn wir uns eine Frau nehmen, sagt sie uns, sollen wir der nicht nur ins Gesicht sehen, sondern auch auf den Rücken und drauf achten, daß die Flügel ihres Schürzenband-Schmetterlings gleich lang und schön breitgezupft sind. Wenn das nicht is, denn laßt eich uff nischt ein, warnt sie uns.

Menschen, die ihre Tannenbaumkugeln mit Nußdrähten an die Baumzweige hängen, sind für meine Mutter geschmacklich unterbildet. Sie hängt Glaskugeln und Zuckerzeug an weißen Wollfäden auf.

Und Jungs, sagt sie, wenn ihr euch eene nehmt, achtet druff, daß se nähen kann, und wenn se soagt, se kann, dann beseht eich, was se genäht hat, ooch von hinten. Sind die Nähte von links hui pfui und ausgefranst, wird se eich ooch die Strümpe so stoppen, daß ihr hinkt, wenn ihr drin läuft. In Spremberg sagt man nicht lauft.

Unsere Mutter baut uns die Frauen zurecht, die wir einst nehmen sollen. Das Mädchenhaar darf nicht angeklatscht liegen und ranzig riechen, es muß locker sein und duften, und die Unterwäsche der Frauen muß sauber sein wie deren Sonntagsgewand.

Ja, wern se uns denn ihr Untergewand zeigen, Mama?

Se wern schon!

Meine ausgezeichnete Mutter senkt mir ein Vorurteil nach dem anderen in den Sinn, und dieses oder jenes ist sogar von Nutzen, zum Beispiel, daß ich niemand die Hand geben soll, von dem ich weiß, daß er sich die Nase mit Daumen und Zeigefinger schneuzt. Doch die meisten der Vorurteile gereichen mir nicht zum Segen. Sie brechen hervor, wenn ihnen Motive geliefert werden, und verführen mich zu Fehlurteilen über Mitmenschen, und erst in den Mannsjahren erkenne ich das und rotte die Vorurteile aus, und ich muß Langmut und ich muß Geduld und ich muß Willenskraft aufbringen, und ich rotte die Vorurteile aus.

Und dann die groben Ausdrücke! Die Mutter achtet darauf, daß wir sie nicht benutzen, daß wir keine groben Ausdrücke aus uns drücken, nicht rötzen und nicht förzen, aber sie hat gut reden, sie geht nicht mit uns in die Dorfschule, und sie läuft nicht auf, wie wir auflaufen, wenn wir dort von Hinterwind, Nasenschmutz und körperlicher Vereinigung reden.

Bei Gelegenheit, kündigt die Mutter an, wird sie uns Anstand beibringen und mit uns einüben, wie man sich in vornehmen Kreisen benimmt.

Bei Gelegenheit, das war für mich eine Redewendung mit der Bedeutung irgendwann einmal, vielleicht auch gar nicht. Aber die Mutter hatte es in diesem Falle eilig, und schon am nächsten Tag, da ich vom Spielen Unter Eechen hereinkomme, übt sie im Hofe unter dem Taubenschlag mit meiner Schwester und meinem Bruder Heinjak Anständiges-Kind-Sein. Sie hat die Ladenschürze abgetan, um vornehmer auszusehen, und hat ihren weißen Sonnenschirm bei sich, trägt den großen Strohhut aus ihrer Jungmädchenzeit und weiße Handschuhe, und sie schreitet damenhaft (bei uns sagt man, sie macht sich stolz) über den steinsandigen Hof dahin; sie meint, daß sie schreitet; sie weiß nicht, daß sie, ihrer Hühner-Augen wegen, hinkt. Die Dame, die meine Mutter zu sein glaubt, verliert, wie unabsichtlich, ihr Taschentuch und erwartet, daß meine Schwester oder mein Bruder es aufheben und es ihr zureichen. Aber Schwester und Bruder nehmen das Taschentuch nicht auf; sie haben gemerkt, daß die Mutter es absichtlich wegwarf. Die Mutter stützt sich enttäuscht auf ihren Sonnenschirm und erklärt, ein Kind müsse aufheben, was eine Dame verliert, und ein Kind, welches das Taschentuch aufgehoben habe, müsse es der Dame mit einem Knicks oder einem Diener hingeben.

Meine Schwester hebt das Taschentuch auf und bringt es der Mutter. Na? sagt die Mutter, na, ein Bittschön möcht ich hören! Meine Schwester lacht los, lacht und lacht, und es ist eine ihrer Gaben, daß sie so ausdauernd lachen kann, wie ein Kettenhund bellt.

Meine Mutter wütet sich, geht weiter und läßt ihren Schirm fallen, und da fängt mein Bruder an zu lachen; er denkt nicht dran, den Schirm aufzuheben. Die Mutter muß sich selber nach dem Schirm bücken, und es fällt ihr der Blumenhut vom Kopf, und da muß auch ich lachen, der ich dazukomme. Unsere Erziehung zu vornehmen Kindern wird abgebrochen. Meine Mutter geht wütend ins Haus.

Bisher traf ich keine Dame, der der Sonnenschirm entfiel, aber es ist ja möglich, daß weiße Sonnenschirme und blumenbepackte Strohhüte wieder in Mode kommen, dann werde ich den Sonnenschirm, der einer Dame entfallen sollte, aufheben, denn irgendwo muß ich gelernt haben, daß man das tut.

Es kriecht eine Raupe in meinem Vater umher. Im Kopfe? Im Herzen? Er geht hinter dem Rücken der Mutter auf das Anerbieten des Onkels ein und übernimmt den Morgen Pachtland von ihm und pachtet überdies dem Gutsherrn einen Morgen Feld am Rande einer Schonung ab. In der Schonung wimmelt es von Wildkaninchen. Für Wildschaden kommt der Gutsherr nicht auf, steht im Pachtvertrag. Der Vater will Landwirt werden, und daß er das, was er werden will, Landwirt nennt, wird begrinst. Für die Bossdomer kommen Landwirte nur in der Zeitung vor. Sie nennen sich Pauern. In Bossdom gibts nur Kleenpauern, im Nachbardorf Gulitzscha gibts Großpauern. Das behaupten jedenfalls die Bossdomer Kleenpauern, obwohl die Pauern von Gulitzscha knapp Mittelpauern sind, und der Vater nun Landwirt!

Sowas Gespreeztes! sagt Mannweib Pauline, die sich für eine Muster-Bossdomerin hält. Dabei stammt sie aus Gulitzscha. Wer een Weib aus Gulitzscha hat, braucht keen Hund, heißt es.

Tante Magy erzählt der Mutter, daß ihr Brüderchen, also mein Vater, früher auf den Feldern seines Stiefvaters Jurischka mehr so künstlerisch mitgearbeitet hat: Tut mal scheene wieten, sagte er zu seinen Schwestern, und damit ist bei uns jäten gemeint, tut wieten, und ich wer eich was vorsingen, sagte er, und er sang die Lieder der Amerikanischen: Sleep my Any, I don’t know … und sowas.

Zum Pauern biste doch goar nich geschaffen, wie ich heere, sagt die Mutter zum Vater, weil sie fürchtet, sich eines Tages mit ihren Hühneroogen, Quecken hackend, auf dem Pachtland wiederzufinden. Das is mir nich gesungen geworden!

In meinem Vater rollt sich die Landwirtschaftsraupe vorübergehend zusammen. Er sucht zu ermitteln, wozu er geschaffen ist, wenn er nicht für die Landwirtschaft geschaffen sein soll. Wo kann ein Mensch erfahren, wozu er geschaffen ist? denkt er. Und er will und will Landwirt werden.

Meine Eltern übertreffen einander zuweilen beim unlogischen Denken und Handeln. Sie blieben je an einer Stelle ihres Wesens Kinder. Ein Glück, daß, wenn die Kinderei bei meiner Mutter ausbricht, sich beim Vater eine feste...

Erscheint lt. Verlag 17.10.2016
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1. Weltkrieg • 2. Weltkrieg • Bäckerei • Biografischer Roman • Chronik • Colonialwarenladen • DDR • DDR Literatur • DDR Schriftsteller • Deutschland • Dorfleben • Erster Weltkrieg • Erwin Strittmatter • Familie • Klassiker • Laden • Lausitz • Pubertät • Roman • Sorben • sorbische Literatur • Strittmatter • Trilogie • Zeitgeschichte • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-8412-1206-9 / 3841212069
ISBN-13 978-3-8412-1206-1 / 9783841212061
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