Der Laden (eBook)
496 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-1207-8 (ISBN)
'Ein Zufall? Das Leben kennt keine Zufälle.'
In der Souterrainwohnung der Pensionseltern sehnt sich Esau Matt die Woche über nach seinem Niederlausitzer Heidedorf. Der ewige Familienstreit um den Laden kommt in seinen Träumen nicht vor. Nun gehört Esau nicht richtig zu Bossdom und nicht richtig zu Grodk - bis das Motorrad kommt, mit dem er in die verlottertste Zeit seines Lebens hineinbraust.
Zweiter Teil der Trilogie.
Erwin Strittmatter wurde 1912 in Spremberg als Sohn eines Bäckers und Kleinbauern geboren. Mit 17 Jahren verließ er das Realgymnasium, begann eine Bäckerlehre und arbeitete danach in verschiedenen Berufen. Von 1941 bis 1945 gehörte er der Ordnungspolizei an. Nach dem Kriegsende arbeitete er als Bäcker, Volkskorrespondent und Amtsvorsteher, später als Zeitungsredakteur in Senftenberg. Seit 1951 lebte er als freier Autor zunächst in Spremberg, später in Berlin, bis er seinen Hauptwohnsitz nach Schulzenhof bei Gransee verlegte. Dort starb er am 31. Januar 1994.
Zu seinen bekanntesten Werken zählen sein Debüt »Ochsenkutscher« (1950), der Roman »Tinko« (1954), für den er den Nationalpreis erhielt, sowie die Trilogien »Der Laden« (1983/1987/1992) und »Der Wundertäter« (1957/1973/1980).
Nach Grodk bin ich mehrstenteils geworden, weil mir zu Hause das Gezänk um Geschäfte, Geld und Zinsen das Leben vergällte. Auf die hoche Jungsenschule bin ich raufgemacht, weil es geheißen hat, ich kann dort mehr lernen als bei Rumposchen in Bossdom.
Nun wohne ich bis zum Hals unter der Erde in Baltins Kellerwohnung. Die Baltins sind die Freundschaft meiner Mutter und sind die Hausmeisters-Leute von der niederen und der hochen Mädchenschule. Sie nennen sich meine Pensions-Eltern. Er heißt Juro, und sie heißt Mina. Seit ich hier bin, ist Heimweh in mir. Es macht mich ganz krumm. Ich bin seit gestern hier.
Daß ich nicht Esau Matt bin, weiß ich, aber die alte Pobloschen, die Mutter von Mina Baltin, hat beim Tabakschleißen geknurrt, ich soll ein nebenhinausgeheckter Sohn von Juro Baltin sein. Das will sich mir nicht.
Freilich weiß man nicht, was alles geschehen ist, ehe man in die Welt der sichtbaren Dinge hinein strampelte. Wenn Juro Baltin mich wirklich seitlich hinausgeheckt hat, muß er meine Mutter in der Tuchfabrik umgarnt und bezwirnt haben, als sie dort zusammen arbeiteten.
Ich beobachte Juro für und für, um zu erluchsen, ob etwas von mir in ihm ist oder umgekehrt. Juro ist ein Mann mit klassischer Frühglatze, und noch ehe die Resthaare an seinem Unterkopf anzeigen können, von welcher Farbe sie sind, läßt er sie sich abrasieren, und ich kann nicht erkennen, ob sie rot sind wie die meinen.
Als Dienstuniform trägt Juro zu einer dunkelgrauen Tuchhose eine blaue Arbeitsjacke. Aus der rechten Jackentasche lugt der Schweif eines karierten Taschentuchs, und in der linken Jackentasche führt ein Putzlappen sein verschmiertes Leben. Juro geht mit schaukelndem Gang durch die Schulräume und wischt sich Staub und Schweiß von der Glatze, aber zuweilen vertut er sich und bringt mit dem Putzlappen Schmieröl auf sein enthaartes Haupt, dann kommt er stinkend zu Tisch und wird von seiner Mina getadelt. Sie nennt ihren Mann nicht Juro, sie ist eine Deutsche, sie sagt: Aba Geo-rig!
Juro ist findig, versteht von allem ein wenig und dreht an allem ein bißchen. In der Turnhalle gastiert eine Wandertierschau. Der Fliegende Hund wird vorgestellt, pteropus vampyrus, auch Kalong genannt, liebe Kinder. Die Erklärung, die er sich jeden Tag anhören muß, langweilt den Fliegenden Hund, er reißt aus, er macht sich selbständig. Juro muß heran, holt einen Regenschirm, spannt ihn auf und täuscht dem Flughund eine kleine Finsternis vor. Der Vampir fliegt in die Finsternis.
Woher weiß Baltin, daß man einem Flughund mit einem aufgespannten Regenschirm kommen muß?
Wir hatten die Biester in Deutsch-Südwest als Wachhunde, sagt Juro.
Der Kalong in Deutsch-Südwest? Gehört er nicht nach Indien? Freilich, für Leute, die alles genau nehmen.
Juros Lebenserfahrungen sind zwitterig, inländisch und ausländisch; die inländischen sind überprüfbar, die ausländischen sind Glaubensangelegenheiten.
Mit Deutsch-Südwest ist, wie ihr wißt, eine der Kolonien in Afrika gemeint, die sich die braven Deutschen einst aneigneten. Nach dem Weltkrieg Numero eins verloren sie die Kolonien bekanntlich, weil ihnen die Heimat einen Dolchstoß versetzte. Deutsch-Südwest, behauptet Juro, wäre zu retten gewesen, wenn sich die Deutschen in Versailles nich so tumm angestellt hätten.
Juro war Hottentottenaufseher beim Bau der Eisenbahnlinie nach Windhuk. Jetzt ist er Sozialdemokrat, und Deutsch-Südwest liegt als ein hehrer Lebensabschnitt in seinen Erinnerungen. Deshalb empfindet er sein Nachkriegsleben in Grodk zuweilen als fad und versucht, ein wenig Unordnung hineinzubringen. Er tauscht an einem Regentag den Schirm des Lyzeumsdirektors gegen den vom Rektor der Mädchen-Volksschule aus. Die beiden Schul-Hauptleute sind einander nicht gewogen. Sie begegnen sich mit den vertauschten Schirmen auf der Straße und verdächtigen einander, und einer erträgt das Vergehen des anderen mit knirschender Vornehmheit.
Beim nächsten Regen tauscht Juro die Schirme zurück, und die beiden Schul-Öbersten schütteln, wenn sie sich treffen, mit stummer Mißbilligung die Köpfe, wie heutigentags die Autofahrer, wenn einer vom anderen meint, er habe gegen die Straßenverkehrsordnung verstoßen.
Um Juros Nase spielt sich eine Art niederer Gehirntätigkeit ab. Es zuckt dort zu beiden Seiten, wenn er mit jemand spricht, dem er einen Schabernack zu spielen gedenkt.
Er bestreicht die Reckstange in der Turnhalle mit Ofenruß. Fräulein Westerwald, die stramme Turnlehrerin, kommt zebriert in die Kellerwohnung und bittet Juro um Hilfe. Juro reinigt beflissen und grinsend die Reckstange mit Sandpapier und kassiert Dank für seine Alfanzerei.
Juro füllt mein Tintenfaß mit Wasser. Ich hole mir ein Tintenfaß aus einem Klassenraum des Lyzeums. Juro muß sich bekennen. Er bekennt, daß ich nicht so dämlich bin, wie ich aussehe.
Man versteht, daß die Baltins afrikanisch eingerichtet sind, und daß Tier-Reste, deren Heimat Afrika sein soll, die Wohnung verunzieren.
In der Flur-Garderobe hängen die Kleidungsstücke an Gehörnen von Springböcken, der Schirm-Ständer ist aus gebleichten Kamelknochen; die Haken des Handtuchhalters sind präparierte Krabbenscheren; in der Wohnstube ragen Spießgehörne von Säbel-Antilopen in die Kellerluft; an der Gaslampe über dem Stubentisch baumeln drei ausgeblasene Straußen-Eier; auf der Kommode liegen die gefleckten Gehäuse von Muscheln und die Panzer von Wollhandkrabben.
Mina Baltin weiß nicht, wer ihr Vater war. Sie fragt ihre Mutter, die alte Pobloschen. Die alte Pobloschen sagt: Halts Maul, dein Vater war ein feiner Mann!
Mina fühlt sich verpflichtet, eine feine Frau zu sein. Sie läßt sich Frau Hausmeisterin titulieren, und wer Frau Schuldiener zu ihr sagt, ist ein Prolet. Wenn es Gerechtigkeit gäbte, sagt sie, müßten wir Oberhausmeisters sein, weil wir zwei Institute, die Mädchen-Volksschule und die hoche Mädchenschule, das Lyzeum, bemeistern.
Mina weist mir in der Wohnung den Platz an, an dem ich meine Schularbeiten machen soll. Sie unterweist mich auch anderweitig, zum Beispiel, daß ich nicht die Berliner Morgenpost, sondern Klosettpapier nehmen soll. Ich als deine Pensionsmutter, sagt sie, könnte, müßte, dürfte, sollte, hätte … Zwischen ihr und mir ist Fremde, weil sie mich nur unter der Bedingung in Pension nahm, daß meine Hemdsärmel nach dem Ärmelmuster der Rektorssöhne gekürzt werden, daß von meinen Hosenbeinen je ein Stück abgeschnitten wird, daß ich nicht mehr zwei rechts, zwei links gestrickte Wollstrümpfe tragen darf, daß ich meinen Pony, den Haarklecks über der Stirn, zu einer Frisur mit Scheitel anwachsen lasse, daß ich mit Bitte und Danke rischer bei der Hand bin.
Meine Schularbeiten soll ich am Tisch in der Wohnstube machen, aber ich soll nicht Wohnstube, sondern Wohnzimmer sagen, sagt sie.
Auf dem Wohnstubentisch liegt eine dicke Plüschdecke, und auf der Plüschdecke liegt quer von der linken unteren zur rechten oberen Tisch-Ecke eine Häkeldecke.
Es heißt diagonal und Tischläufer, belehrt mich die Baltin.
Ja bitte, sage ich eingeschüchtert.
Läufer und Decke müssen so liegenbleiben, wie sie liegen, sagt die Baltin, weil Lehrer und feine Leute hier aus- und eingehen, die nicht vom Anblick eines nackten Tisches erschreckt werden dürfen. Du bist alt genung und kannst sehr wohl Obacht geben, daß beim Schreiben nischt auf die Decke kommt.
Ja bitte, sage ich.
Ja danke, muß es heißen, sagt sie.
Ja danke, sage ich.
Mina Baltin hat nur eine Tochter. Einen Jungen hat sie nicht in die Welt gedrückt, deshalb will sie mich so haben, wie ihr Junge hätte sein sollen. Sie will mich umarbeiten. Auch auf der hochen Schule werde ich umgearbeitet. Sie sagen, ich wäre jetzt ein Sextaner.
Mina Baltin geht mit mir eine Schülermütze kaufen. Sextanermützen sind dunkelgrün und haben überm unteren Rand eine goldene Borte.
Ich wollte mir die Schülermütze selbsttätig kaufen gehen, aber Mina Baltin wollte mit. Du hast so schont abstehende Ohren, sagt sie, und wenn die Mütze, falls du sie zu groß käufst, noch auf diesen ruht, werden sie so seitlich werden wie Ziegen-Ohren.
Wir gehen zu Mützenhändler Rau, und ich gewahre, daß Mina nicht meiner abstehenden Ohren wegen mit zum Mützenkauf ging. Sie will sich aufspielen. Es handelt sich bei diesem Jungen um meinen Pensionär, sagt sie zum Mützenhändler, und ich als seine Pensionsmutter möchte, daß er in einer anständigen Verfassung herumlöft. Vor fremden Leuten drechselt Mina Baltin ungeheuer an dem, was sie sagt, aber zuweilen entrutschen ihr Worte ins Grodkische, und ihre Sätze sind wie schöne Pferde mit abfallenden Kruppen.
Der Mützenhändler tut uns eine Mütze her. Die ist mir zu dunkelgrün, sagt die Baltin, ich hätte gern eine olivere.
Sehr wohl, gnädige Frau, eine oliv-farbene, sagt Mützenhändler Rau. Er weiß, die Sextanermützen der ganzen Sendung gleichen einander in der Farbe, nur die Kunden gleichen einander nicht. Er weiß auch, daß er die Frau vom Schuldiener Baltin vor sich hat, aber er tituliert sie gnädige Frau. Mina schüttelt sich vor Wohligkeit wie ein Sperlingsweibchen nach dem Hahnentritt.
Die nächste Sextanermütze ist der Baltin in der Paspelierung zu glänzig.
Jawohl, gnädige Frau. Mina Baltin scheint für Mützenhändler Rau von Beanstandung zu...
Erscheint lt. Verlag | 17.10.2016 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 1. Weltkrieg • 2. Weltkrieg • Bäckerei • Biografischer Roman • Chronik • Colonialwarenladen • DDR • DDR Literatur • DDR Schriftsteller • Deutschland • Dorfleben • Erster Weltkrieg • Erwin Strittmatter • Familie • Klassiker • Laden • Lausitz • Pubertät • Roman • Sorben • sorbische Literatur • Strittmatter • Trilogie • Zeitgeschichte • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-8412-1207-7 / 3841212077 |
ISBN-13 | 978-3-8412-1207-8 / 9783841212078 |
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