Faber oder Die verlorenen Jahre (eBook)

Roman. Mit einem Nachwort von Insa Wilke
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
416 Seiten
Manesse (Verlag)
978-3-641-19674-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Faber oder Die verlorenen Jahre -  Jakob Wassermann
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Deutschland in den 1920er-Jahren
Als Eugen Faber nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in seine Heimatstadt zurückkehrt, liegt seine Welt in Trümmern: Er ist zum Außenseiter geworden, zum Fremden in seiner eigenen Familie. Jakob Wassermanns wiederentdeckter Roman ist ein erschütterndes und bewegendes Zeugnis der Entwurzelung einer ganzen Generation.

Sechs Jahre hat sich der junge Architekt Eugen Faber in russischer Gefangenschaft nach seiner Frau, seiner großen Liebe und Seelenverwandten, gesehnt und schließlich eine gefährliche Flucht auf sich genommen. Doch das Leben ist inzwischen weitergegangen. Seine Frau erkennt er kaum wieder, sein kleiner Sohn kann sich nicht an ihn erinnern. In seinem Beruf wird er nicht mehr gebraucht, und auch Ideologien bieten ihm keinen Halt. Zunehmend verzweifelt versucht er, sich in eine Welt einzufügen, die nicht mehr die seine ist.

Mit außerordentlichem Einfühlungsvermögen erkundet Jakob Wassermann das quälende Ringen um Nähe und Verständnis. In den 1920er-Jahren war er einer der meistgelesenen deutschen Schriftsteller. 1933 sollten seine Werke den Bücherverbrennungen der Nationalsozialisten zum Opfer fallen, doch schon 1924, als er den vorliegenden Roman veröffentlichte, ahnte er das nahende Unheil voraus. In einer Zeit des brüchigen Friedens und des drohenden Zerfalls Europas stellt der Roman existenzielle Fragen, die uns auch heute noch beschäftigen: nach dem Wert von Menschlichkeit, Respekt und gegenseitiger Achtung.

Jakob Wassermann (1873-1934), als Sohn eines jüdischen Gemischtwarenhändlers in Fürth geboren, gelangte Ende der 1920er-Jahre zu Weltruhm: Seine von der Psychoanalyse beeinflussten Romane waren Bestseller und wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Die Verbrennung seiner Bücher 1933 in Deutschland bedeutete seinen materiellen wie auch psychischen Ruin.

13

Geschichte der Fides

«Ich bin in einer norddeutschen Mittelstadt geboren; einen Teil meiner Kindheit und Mädchenjahre habe ich im deutschen Süden verlebt, auf einem Gut, das einem Bruder meiner Mutter gehörte. Ein großes schönes Gut, in weiter Wald- und Hügellandschaft. Mein Vater stammte aus einer Junkerfamilie, aus kleinem Adel also; sein Rang als Offizier erhob ihn in die herrschende Kaste. Er konnte sich als Gebieter der Stadt fühlen, und die Stellung, die er beanspruchte, wurde ihm auch eingeräumt. Ich sah immer nur Menschen, die sich vor ihm demütigten oder ihm schmeichelten. Insofern er keinen Widerspruch erfuhr, war er ein umgänglicher und höflicher Mann, wenn auch kühl und formelhaft.

Meine Mutter war von viel vornehmerer Geburt als er. Keinen Augenblick des Lebens verleugnete sich ihre Abkunft aus uraltem Hause und historisch-berühmtem Geschlecht, das in den Ostprovinzen, in der Vorzeit schon, für den Glauben gekämpft und Männer von unvergänglichem Ruhm hervorgebracht hatte. Mein Vater würdigte diesen Familienstolz durchaus an ihr und behandelte sie auch im häuslichen Kreis mit einer etwas steifen Auszeichnung. Ich erwähnte vorhin, dass meine Beziehung zur Fürstin weit zurückreicht; die Fürstin ist eine Verwandte meiner Mutter im zweiten Grad, und meine Mutter hat es ihr nie verziehen, dass sie aus ihrer Exklusivität heraustrat und sich, wie sie es ausdrückte, mit dem Volk gemein machte. Ich hörte in meiner Kindheit sehr viel von der Fürstin sprechen, aber nur Nachteiliges, auch bei den Verwandten in Süddeutschland; als es sich einmal fügte, dass ich sie sah, um mein fünfzehntes Jahr herum, war ich sehr betroffen von ihrer Schönheit und Milde, und ich begann an manchem irrezuwerden, freilich nur schüchtern und kaum bewusst. Sie war gekommen, weil die Mutter nach ihr verlangt hatte. Die Mutter wollte sie noch einmal sehen. Sie war krank und fühlte ihren Tod voraus.

Ich glaube nicht, dass wir arm waren. Reich waren wir keinesfalls. Schmuck und edles Mobiliar hatte sich von Jahrhunderten her vererbt. Die Lebensführung war, was man als standesgemäß bezeichnete. Das hatte seine unverrückbaren Formen und Gesetze. Es war für jeden Einzelnen geregelt, in dem, was er sprach, und in dem, was er tat. Keiner konnte etwas tun oder sagen, was man nicht von ihm erwartete. Geselligkeit entwickelte sich nach einem Programm. Urteile über Menschen und Ereignisse waren immer wie aus höherem Mund diktiert. Sich dagegen aufzulehnen war unmöglich. Eine Meinung zu äußern, die nicht die Meinung von allen war, hätte die größte Bestürzung erregt. Bei den Verwandten im Süden war man ein wenig liberaler, aber doch eigentlich nur in Worten, in der Ausdrucksweise und dem rascheren Temperament zuliebe; der Grundton, wenn ich’s recht bedenke, war auf die nämliche Starrheit gestimmt. Die Laune war besser, man lachte leichter. Aber für mich war’s schon ein Unterschied wie Tag und Nacht.

Natürlich, wenn man in solcher Luft erzogen ist, kommt der Geist schwer zum Bewusstsein, dass es andere Art und anderes Leben überhaupt gibt. Wie sollte man’s denn erfahren haben; nicht einmal zum Bilde reicht’s; der Wille ist noch ganz erstickt. Heute weiß ich’s. Heute weiß ich, dass ich bis zu meinem zwanzigsten Jahre eine Marionette gewesen bin; dann erst sickerten Begriffe in mich hinein, und das alte Uhrwerk wollte nicht mehr laufen. Das heißt, es kam einer, der die Räder auseinandernahm und die Drähte zerschnitt und nachschaute, ob eine Menschenseele da war. Bis dahin war mein ganzes Dasein, wie soll ich sagen, erzwungene Äußerung gewesen. Jeder Wunsch stand unter Zwang. Die Gedanken waren befohlen, Umgang war befohlen, jedes Gespräch war ein Zeremoniell. Wenn man allein war, war man in einem unergründlich leeren Raume, grausig geradezu, und unter Menschen war man in einem eisernen Käfig. Immer ohne es zu wissen, und das macht alles so gespenstisch, trotzdem man Bälle und Theater besucht und Sport treibt und von der Zukunft und von Hoffnungen redet. Man dreht sich immer auf demselben Fleck, und die Leute sagen etwa: Schau hin, da ist eine schöne Aussicht, und man sagt Ja und macht eine entzückte Miene, und der hinter einem, der die Drähte in der Hand hält, passt schon auf, dass man keinen Schritt zu viel tut und das Entzücken nicht das gebührliche Maß überschreitet. Ich erinnere mich, dass ich einen Schreck bekam, wenn mir jemand zum Beispiel von einem neuen Buch erzählte oder nur den Titel nannte, ja, einen sonderbaren Schreck, wie wenn man gewohnt ist, im verriegelten Zimmer zu schlafen und man hört, wie der Riegel zurückgeschoben wird. Immerfort spürt man schaudernd: Wo ich gehe, ist rechts und links Geländer; jenseits ist das Unbekannte, das Gefährliche, das Zwanglose. Da erlebt man nicht und ergreift nichts; sieht und hört nicht einmal; alle Sinne sind im Gefängnis, und so existieren Tausende und existieren noch immer so. Mit der Zeit, ganz, ganz langsam wurde der Gedanke zur Unruhe in mir: Ich bin gar nicht ich, ich bin eines andern Ich, vielleicht keines Menschen, sondern eines Schattens oder eines Götzen Ich. Und ich fragte mich logischerweise: ‹Wo bin ich denn dann und wer bin ich, wenn mir mein Ich nicht gehört, wenn ich meines Vaters und meiner Mutter und meiner Verwandten und meiner Vorfahren Ich bin?› Das war also schon der Anfang von Verwirrung oder auch von Abtrennung, wenn Sie wollen.

Es war kurz nachdem ich zwanzig Jahre alt geworden war, dass ich wieder zu meinen Verwandten auf das Gut reiste, um dort Sommer und Herbst zu verbringen. Diesen Sommer zu vergessen, ist nicht gut möglich, denn es war der, in dem der Krieg ausbrach. Aber von Ahnen oder Aufmerken darauf war keine Spur in mir und von den Weltzuständen wusst’ ich nichts; ich freute mich nur auf das ungebundenere Landleben. Gleich in den ersten Tagen machte ich mit meinen Kusinen vielerlei Pläne; es waren drei Schwestern zwischen sechzehn und zwanzig, ich war sonach die Älteste. Alle drei waren hübsche und aufgeweckte Mädchen, obwohl ungemein hochmütig; ein Bürgerlicher war für sie ein Mensch zweiter Ordnung, und ich hörte einmal einen alten Handwerksmeister, dessen Gruß sie kaum erwidert hatten, hinter ihnen hersagen: ‹Du gutes Gottchen, mir scheint, unsereinen hast du erst am achten Tag erschaffen.› Ich vertrug mich aber vortrefflich mit ihnen, schon deshalb, weil ich nie das Talent hatte, mich zu einer Partei zu schlagen und mich immer nur aufnehmend verhielt.

Unser Lieblingsgang war zu einem Pächter, der etwa eine halbe Stunde vom Herrenhaus entfernt wohnte und der eine Zucht von Rassehunden angelegt hatte, lauter riesigen Doggen. Mit den Tieren, es mochten im letzten Jahr sechs oder acht sein, waren wir Mädchen vertraut, kannten wir doch fast alle seit der Geburt, und jede hatte eins, das sie bevorzugte und das ihr besonders anhänglich war. Oft zogen wir mit der ganzen Meute durch die Landschaft, und das war ein prächtiger Anblick; die stolzen Hunde, gehorsam auf den Wink, und die Fräuleins in weißen Kleidern; dann lagerten wir uns, die Hunde ringsumher, der eine zu Füßen der Herrin, der andere den Kopf auf ihrem Schoß, der dritte in majestätischer Positur vor ihr. Ich sehe sie noch, die Tiere, mit den finster aufmerksamen Augen und den kraftvoll geschmeidigen Leibern; manchmal verspürte ich beinahe Furcht, wenn sie reizbar aufzuckten und ein grollendes Geknurr hören ließen, wobei die Lefzen zitterten. Der Pächter unterließ nie, uns zu ermahnen, dass wir achthaben und namentlich zwei der Hunde, deren er nicht sicher war, an die Leine nehmen sollten; trotzdem wir uns auf eingezäuntem Gebiet bewegten, käme es doch bisweilen vor, dass sich Fremde hereinverirrten; dann könne ein Unglück leicht passieren. Aber hierin waren wir nach und nach völlig sorglos geworden. Eines Tages, als wir wieder plaudernd unter den Weiden am Fluss kampierten, gab meine Dogge drohend Laut. Ich rief sie zur Ruhe, da springt sie auf, macht ein paar furchtbare Sätze gegen das nahe Gehölz, zwei, drei der andern Hunde folgen bellend; eh wir uns recht besinnen, ertönt ein grässlicher Schrei; wir laufen hinüber; da liegt ein Mann; das Tier hat ihn zu Boden gerissen und bereits Schulter und Oberarm zerfleischt. Wir waren vor Schrecken gelähmt. Ich war die Erste, die den Hund packte und zurückzerrte; die jüngste Kusine läuft ans Wasser und nässt ihr Taschentuch; die andere versucht, das strömende Blut mit Moos zu stillen; die dritte eilt ins Pächterhaus, um Hilfe zu holen, denn der Mann ist ohne Besinnung. Es kommen Knechte mit der Tragbahre; der Verletzte wird zu den Pächtersleuten geschafft; man ruft den Arzt, der die Dogge zur Untersuchung verweist und den übel zugerichteten Menschen verbindet. Die Wunde sei nicht lebensgefährlich, ist sein Urteil, aber zur Heilung seien Wochen erforderlich, vorausgesetzt immer, dass der Hund nicht an der Wut leide. Das war nicht anzunehmen; es zeigte sich auch später, dass die Dogge gesund war. Den Verletzten in die Stadt zu transportieren, war schwierig und nicht ratsam; bei den Pächtersleuten fehlte es an aller Bequemlichkeit, so wurde er auf Geheiß des Onkels am andern Tag ins Herrenhaus gebracht, um dort verpflegt und pasteurisiert zu werden. Die Kusinen und ich, wir besuchten ihn abwechselnd, fühlten wir uns doch ihm gegenüber schuldig, ich noch mehr als die andern; wir erfuhren, dass er Kapruner hieß und Privatgelehrter sei, seit einigen Monaten in der nahen Stadt ansässig; es war ein Mann Mitte der dreißig, und als ich ihn zum ersten Mal sah und sein durchdringender Blick auf mir ruhte, während er unbefangen und freundlich ein paar Fragen an mich richtete, fühlte ich mich sonderbar verwirrt und muss mich wie ein recht dummes Ding benommen haben, denn er lächelte fortwährend, trotzdem er...

Erscheint lt. Verlag 26.9.2016
Nachwort Insa Wilke
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1920er Jahre • Babylon Berlin • Deutschland • eBooks • Erich Kästner • Kriegsheimkehrer • Liebesgeschichte • Neue Sachlichkeit • Roman • Romane • Verbrannte Bücher • Zwischenkriegszeit
ISBN-10 3-641-19674-4 / 3641196744
ISBN-13 978-3-641-19674-5 / 9783641196745
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