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Der Scheik von Aachen (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2016 | 2. Auflage
399 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-10036-5 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
12,99 inkl. MwSt
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Für ihre große Liebe Mario setzt Anita Jannemann alles auf eine Karte. Sie gibt ihren Job in Zürich auf und zieht zurück in ihre Heimatstadt Aachen. Dort besucht sie regelmäßig die alte Emmi. Anita ist schockiert, als ihre Tante barsch behauptet: »Du liebst Mario gar nicht.« Ein kluger und unterhaltsamer Roman darüber, was uns bewegt, wenn wir andere vergöttern oder verteufeln. Der Antiquitätenhändler Marzahn, bei dem Anita nach ihrer Rückkehr eine Anstellung findet, ist ein zutiefst zynischer Mensch. Gerade deshalb ist er so von Anitas schwärmerischer Naivität für den Amateur-Bergsteiger Mario fasziniert. Besessen versucht er ihr die Liebe in all ihren Schattierungen zwischen Tragik und Lächerlichkeit zu erklären. Auch die Geschichten, die Anita in Anlehnung an Wilhelm Hauffs Zyklus »Der Scheik von Alessandria und seine Sklaven« ihrer Tante jeden Samstagnachmittag zu deren Zerstreuung erzählt, kreisen um dasselbe Thema. Meist indirekt, denn Anita verbindet mit Emmi aufgrund eines Todesfalls ein familiäres Schweigegebot ... Ein Buch über das Heimkehren und das Heimatliche, bei dem alles Geschichtenerzählen seinen Anfang hat.

Brigitte Kronauer, 1940 in Essen geboren, lebte als freie Schriftstellerin in Hamburg. Ihr schriftstellerisches Werk wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis der Stadt Berlin, mit dem Heinrich-Böll-Preis, dem Hubert-Fichte-Preis der Stadt Hamburg, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Jean-Paul-Preis ausgezeichnet. 2005 wurde ihr von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung der Büchner-Preis verliehen. Brigitte Kronauer verstarb im Juli 2019.

Brigitte Kronauer, 1940 in Essen geboren, lebte als freie Schriftstellerin in Hamburg. Ihr schriftstellerisches Werk wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis der Stadt Berlin, mit dem Heinrich-Böll-Preis, dem Hubert-Fichte-Preis der Stadt Hamburg, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Jean-Paul-Preis ausgezeichnet. 2005 wurde ihr von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung der Büchner-Preis verliehen. Brigitte Kronauer verstarb im Juli 2019.

2. 
Mordwinien, Baschkortostan, Inguschetien


»Jeden Morgen, auf seinem Weg zur Schule vermutlich, steht ein Mädchen vor dem Schaufenster. Es kuckt nicht die Heiligenbilder an, nur die noch altmodischeren Scherzartikel. Ich beobachte von innen an der Lippenstellung, wie es sich was ausmalt. Zum Beispiel, den Onkeln und Tanten mit den tückischen Angeboten einen Streich zu spielen. Was paßt am besten zu wem? Kennt Ihr so was noch? Jeden Schulmorgen steht das Geschöpfchen da, spindeldürr wie ich damals. Es stimmt sich unter Selbstgesprächen, manchmal Tränen lachend neben dem Dom, in den Vormittag ein, hochgradig entzückt über die ewig gleichen Plastikfliegen in Zuckerstücken und Hundehaufen aus Gips, rüstet sich für die Stunden voller Zahlen, Grammatik und Vokabeln.«

Als Anita das beim Fiaker Gulasch erzählte, teilten sich die paar Gäste in zwei Parteien. Die einen stießen ein joviales »Toll« aus, die anderen sagten schnöde »Alles klar!« Vor einem Sonnenuntergang hätten sie wahrscheinlich ähnlich reagiert. Anita kennt es zur Genüge. Schematik auf seiten der Jubler und der Abwiegler. Also fing sie mit Emmis Geschichte gar nicht erst an. Aber dann, was für ein stolzes Sich-Erheben der Gäste über das Übliche beim Nennen ihrer Reiseziele: »Bei uns ist endlich Grönland an der Reihe, steht seit Jahren ganz oben auf der Liste«, »Wir werden uns Bhutan vorknöpfen!«, »Als Hobbyfotograf reizen mich die Krisengebiete.«

Der Wiener, für den sie eigentlich gekocht hatte, beugte sich währenddessen gutmütig über seinen Teller: »Und wir einfallslosen Gesellen hatten mit ›Zürcher Geschnetzeltem‹ gerechnet. So eine Überraschung!« Gelungen war leider nur die, das Essen nicht. In der Küche hörte sie, wie jemand sagte: »Dafür haben die Fiaker früher ihre ausgedienten Gäule gebraucht. Das viele Traben der greisen Gesellen übers Wiener Pflaster gab dem Fleisch den besonderen, subtil fiesen Geschmack.«

Was waren das eigentlich für Leute gewesen, zwei, drei aus uralten Zeiten eilig zusammengeklaubt, zwei, drei neue Bekannte, und nur dazu da, eine Weile zwischen Anita und den einen, den einzigartigen Mann geschoben zu sein als erwünschte Hindernisse, da die Entfernung Zürich-Aachen geschwunden war. Die beiden kosteten das aus. Die erregende, wechselseitige Annäherung in Gegenwart dieser Fremden schritt im Verlauf des Abends nach außen zögernd, insgeheim zügig voran. Bis die Gäste fortgingen und die Berührungen, endlich der kulinarische Teil, körperlich werden durften, auch da noch nicht gleich drauflos, jeder Hautkontakt zu Anfang einzeln für sich. Obschon sie sich genausogut die Kleider vom Leib hätten reißen mögen, o doch. So oder so, die Sonnenbrille immer zuletzt.

Als Anita am nächsten Morgen allein war, selbst seinen Daumenabdruck in der Ellenbogenbeuge noch spürte, allmählich aber zu Tagesverstand kam, sah sie die Leute wieder vor sich, auch die elegante Innenarchitektin, die an allem bloß nippte, nachdem sie sich vermutlich zu Hause vollgestopft hatte; irgendein Paar, das sie angeblich von früher kannte und das sich dauernd durch geheime Zeichen verständigte, bei dem sich Anita fragte, ob der kümmerliche Mann, mit dem fade geistesabwesenden Gesichtsausdruck eines Jagdhundes im Ruhezustand, der Beherrscher oder Bedienstete der ungeheuren Fleischmassen seiner Begleiterin war; der augenzwinkernde junge Chemiker mit dem feuerwehrroten Kopf, der dreimal behauptet hatte: »Essen, Trinken, Poppen. Damit sind alle Männer unserer Familie über neunzig geworden.« Als allerdings der üppigen Frau ein bißchen Sauce übers Kinn lief, sehr wenig nur, da wischte es ihr der Schmächtige sofort wie nebenbei weg, und die Frau schloß dazu die Augen in der zärtlichsten Hingebung. Es stimmte Anita sofort wieder weich. Ihr gefiel auch, daß er erzählte, in seiner Kindheit hätten sie an den Elektrozäunen der Weiden Sechserketten gebildet. Der Mutigste stand vorn und kriegte den stärksten Schlag ab, der Feigste hinten spürte nur noch ein bißchen. Keiner am Tisch fragte, aus Takt oder Desinteresse, nach seiner eigenen Position dabei.

Jeden Morgen, wenn sie zu ihrem Laden radelt, sieht sie noch einen Moment lang auf dem ersten Streckenabschnitt das Aufglühen der gewölbten Wiesen unter grauem Himmel, dann verlöschen sie im Trüben, dann kommt wieder das Licht. Eine großmütige Beleuchtung spendet den Gegenständen schwarze Schatten, die sie wichtig und wuchtig machen. Manchmal denkt sie, daß es gar nicht schöner werden kann. Und doch stichelt fordernd etwas Unsichtbares, ein Durst, den die schönen Oberflächen nicht stillen. Und schon ist das Gefühl wieder vorbei und war sicher nur ein Einfall.

Sie läßt etwas Zeit vergehen, bis sie Emmi, wie versprochen, ein zweites Mal besucht. Die blühenden Kirschbäume verschwimmen kurzfristig mit dem warmen Nebel. Sie bilden Nebelnester, auch Mehlklümpchen in einer hellen Sauce. Aber sie entdeckt diesmal doch das »Efeuschlößchen« von früher, in dem der Architekt Brammertz mit seiner Frau wohnte und sicher glücklich war. Es steht da, wunderbar berankt und überwuchert und noch verwunschener als früher.

Vor der letzten Biegung wechselt sie die Laufschuhe gegen hochhackige aus. Frau Bartosz, die kolossale Gestalt, richtet sich im Vorgarten aus dem Bücken auf. Sie hat angeblich welkes Laub aus den Hecken entfernt, aber Anita spürt gleich, daß die Polin sie erwartet. Sie wolle sie vor der Tante warnen. Schon seit Ankündigung ihres ersten Besuchs habe sie angefangen, verstärkt von diesem Wolfgang zu sprechen. Heute, am Todestag ihres Sohnes, sei es ganz besonders schlimm mit Frau Geidel, die plötzlich den Stock weggelegt und ein festliches Kleid verlangt habe. Sie selbst, Frau Bartosz, sei eine geduldige Person, aber wie oft sie heute, noch viel öfter als sonst schon, den Namen habe anhören müssen! Das sei wohl ein Wunderkind und obendrein ein Heiliger gewesen? Er hänge ihr zum Hals heraus, dieser Sohn. Ob es ihn überhaupt gegeben habe?

Anita ihrerseits würde dem östlichen Klang ihrer Stimme, sanft trotz der augenblicklich unwirschen Note, noch gern lange lauschen.

Sie, die Nichte, solle sich da auf was gefaßt machen. Bestimmt habe sie es schon letztes Mal deswegen kaum ausgehalten. Ihre eigene Mutter, so alt wie die Tante, in Polen, in der alten Weichsel-Stadt Torun, auch Torunia, hier sage man Thorn dazu, lebe noch hundertprozentig in der Gegenwart und arbeite zehn Stunden täglich als Krankenschwester. Da sei gar keine Zeit übrig zum Trauern um irgendwas. Grund dafür, haha, gebe es immer. Frau Bartosz schnaubt vor Mißbilligung durch die ungeheure Nase.

Wie konnte Anita das passieren! Sie hat nicht aufs Datum geachtet. Ausgerechnet am 15. April geht sie nun in dieses aus der »Perle der Eifel« in den Eberburgweg versetzte Trauerhaus. Etwas wird ihr auf einen Schlag klar: Wenn Emmi so freigiebig mit der Namensnennung gegenüber Frau Bartosz ist, dann gönnt sie sich diese Herzenserleichterung nur, weil die Haushälterin nicht unter dem Bann der Vergangenheit steht. Emmis Strategie würde ins Leere laufen. Bei Anita weiß sie zu gut, daß die Gewalt und das Gesetz des unerbittlichen Schweigens den Vetter mehr verherrlicht als jede Redseligkeit. Ein bißchen tückisch wird Anita zumute in der Neugier, ob sich Emmi von ihr heute aufs Glatteis führen läßt.

Sie steht schon oben im Türrahmen. Durch das Treppchen, für Anita deutlicher als beim ersten Besuch, wirkt sie diesmal größer. An Emmis unerwartete Zartheit ist die Nichte inzwischen gewöhnt, aber nicht an eine so aufgedonnerte und aufgekratzte Tante.

»Da bist du also wiedergekommen. Und nicht nur das. Du hast auch, wie versprochen, Schuhe mit Absätzen an! Brich dir nicht die Knochen. Und ich? Ebenfalls todchic? In gesunden Turnschuhen, immerhin nicht in Pantoffeln. Wir haben leckere ›Donauwellen‹ und frische Veilchen auf dem Tisch. Dir zu Ehren, Larita, ich meine: Ranita, Anita natürlich.«

Emmi trägt ein schwarzes Spitzenkostüm. Durch die Jacke schimmert eine feuerrote Satinbluse im Ton des mit theatralischem Schwung über die Schultern geworfenen Fransentuchs. Anita hat die kleinen Diamantohrringe diesmal vergessen, dafür blitzen viel größere an Emmis Ohren. »Der helle Wahnsinn!« lacht die Tante. Über die Augen hat sie die eulenhafte Nickhaut gezogen.

Was liegt statt der Servietten auf den Kuchentellern? Zwei Todesanzeigen aus der Zeitung. »Lies dir das durch. Ich habe mich königlich amüsiert«, befiehlt Emmi.

»Hil Michael Ropalli.« Anita spricht die fettgedruckte Überschrift zum Vergnügen der Tante laut aus. Darunter in Anführungsstrichen: »›Mike‹, ›Pali‹.«

»Siehst du, Liebes, die Kosenamen oder...

Erscheint lt. Verlag 3.11.2016
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Aachen • Frauen • Heimat • heimkehren • Liebesroman • Roman • Zürich
ISBN-10 3-608-10036-9 / 3608100369
ISBN-13 978-3-608-10036-5 / 9783608100365
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