London (eBook)

Ein Uralte Metropole Roman
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2016 | 1. Auflage
704 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-18428-5 (ISBN)

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London -  Christoph Marzi
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Schwere Schneeflocken tanzen in der Dämmerung, als Emily Laing das erste Mal London nicht mehr findet. Doch wie kann das sein? Eine ganze Stadt verschwindet doch nicht einfach so. Mitsamt all ihren Schornsteinen, Bewohnern und Geheimnissen. Hat das vielleicht etwas mit den beiden seltsamen alten Damen zu tun, die Emily entführen? Oder hängt es mit dem Waisenmädchen zusammen, das plötzlich auf den Stufen einer U-Bahn-Rolltreppe auftaucht? Noch einmal müssen Emily und ihre Gefährten, der Alchemist Wittgenstein, Maurice Micklewhite und die kluge Ratte Minna, in die Tiefen der Uralten Metropole hinabsteigen. Denn hier, in der magischen Stadt unter der Stadt, liegt die Antwort. Und die Gefahr ...

Christoph Marzi,1970 geboren, wuchs in Obermendig nahe der Eifel auf, studierte in Mainz und lebt heute mit seiner Familie im Saarland. Seit dem großen Erfolg seiner Saga um die Uralte Metropole, die mit »Lycidas« begann und in »Lilith«, »Lumen« und »London« fortgesetzt wird, ist Christoph Marzi einer der erfolgreichsten deutschen Phantastik-Autoren. »Lycidas«, sein Debütroman, wurde mit dem Deutschen Phantastik-Preis ausgezeichnet.

 

2. Kapitel

Piccadilly Mayfair

Das Geräusch der einfahrenden U-Bahn weckte Emily. Schwülwarme Luft wehte aus dem Tunnel, dann blinzelte sie und sah in die Scheinwerfer des Triebwagens wie in zwei große runde Augen, die auf sie zukamen. Das schrille Quietschen der Bremsen vermischte sich mit der Ansage aus den Lautsprechern, die vor der Lücke zwischen U-Bahn und Bahnsteig warnten. Emily wusste nicht, wo sie war, doch ein einziger Blick genügte ihr, um sich Klarheit zu verschaffen. Tottenham Court Road. Dies war die Northern Line, Richtung Morden, im Süden. Vor wenigen Monaten erst waren die Renovierungsarbeiten in diesem Teil der Station abgeschlossen worden.

»London«, murmelte sie benommen.

Wie war sie hierhergekommen?

Die Melodie, die Mrs. Pumblechook und Mrs. Pecksniff gesummt hatten, ging ihr nicht aus dem Kopf.

I’m Called Little Buttercup.

Aber von den beiden kleinen alten Damen war nichts zu sehen.

Emily seufzte leise.

Ihre Gedanken schälten sich nur langsam aus dem Nebel dessen, was die beiden ihr in Cambridge verabreicht hatten. Emily fasste sich an den Hals, und die Einstichstelle der Nadel schmerzte noch immer ein wenig.

»London.«

Okay, sie hatte das nicht geträumt. Es war passiert. In Cambridge. Man hatte ihr gesagt, es gebe keine Stadt namens London. Doch dann hatten sich die beiden alten Damen mit ihr auf den Weg dorthin machen wollen, und das, obwohl Emily sich nicht mehr hatte rühren können.

»London«, murmelte sie und schüttelte ungläubig den Kopf. Die Stadt, an die sich niemand hatte erinnern können, die Stadt, die, wie sie geglaubt hatte, verschwunden war, getilgt aus allen Landkarten und sogar aus dem Internet – hier war sie also wieder.

Sie betrachtete ihre Umgebung und stellte fest, dass ihre Sinneswahrnehmungen und ihr Denken noch nicht ganz zueinandergefunden hatten.

Du bist gerade erst aufgewacht, rief sie sich ins Gedächtnis zurück. Sie haben dich betäubt und jetzt …

Sie schüttelte den Kopf.

Noch immer hatte sie den schwachen Geruch des Ladens in der Nase, das Kaminfeuer, die alten Bücher. Das heulende Geräusch des Windes in den Ohren, der die dicken Schneeflocken gegen die Ladentür und das Schaufenster wehte. Cambridge. Das Quincunx. Die beiden alten Damen. Das Geheimnis der verschwundenen Stadt.

»London«, wiederholte sie. Sie war hier, kein Zweifel.

Die U-Bahn hielt an, die roten Türen öffneten sich, und die Fahrgäste quollen aus dem Inneren, strömten lärmend und eilig wie immer zu den beiden Ausgängen – von denen einer nach oben führte und einer rüber zur Northern Line, die dort tatsächlich in Richtung Norden fuhr –, und dann waren sie so schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht waren.

Die U-Bahn hatte die neuen Fahrgäste geschluckt, die Station verlassen, und es herrschte Stille.

Abgesehen von den normalen U-Bahn-Geräuschen, die so gängig und allgegenwärtig waren, dass man sie schon gar nicht mehr beachtete.

Emily seufzte und streckte die Glieder, fühlte die Benommenheit, die ihren Körper noch immer im Griff hatte. Sie war müde. Ansonsten schien alles in Ordnung zu sein. Sie trug ihren Mantel. Irgendjemand musste ihn ihr übergezogen haben. Sie griff in die Manteltaschen. Handschuhe, Taschentücher, Lippenfettstift, alles war noch da.

Dann schaute sie auf die Uhr.

21:24.

Sie stutzte.

Nein, das war nicht möglich. Sie war vor kaum mehr als einer dreiviertel Stunde noch in Cambridge gewesen. Dann hatte sie, dank der beiden alten Damen, das Bewusstsein verloren. Und nun war sie in der Tottenham Court Road? Ausgeschlossen! Niemand hätte es schaffen können, sie in so kurzer Zeit nach London zu bringen.

Setz das als nächsten Punkt auf die Liste der Rätsel des Tages, sagte sie sich.

Nun war der Bahnsteig menschenleer. Emily registrierte die gähnenden Schlünde der engen Tunnel zu beiden Seiten des schmalen Bahnsteigs. Die Plakate an den Fliesen der Wände, die diverse Musicals im West End ankündigten. Einen Cola-Automaten, der schmutzig aussah und mit Graffiti übersät war. Sie fühlte sich an die Welt erinnert, die jenseits der Tunnel lag. An jene Regionen, die von denen, die dort wandelten, als die uralte Metropole bezeichnet und teils geliebt, teils gefürchtet wurden.

Als Emily merkte, wie ihre Gedanken abdrifteten, versuchte sie sich zusammenzunehmen. Inzwischen ärgerte sie sich, dass sie den alten Damen so grenzenlos naiv auf den Leim gegangen war. In einer Situation wie der ihren hätte sie besser aufpassen müssen. Unachtsamkeit war nie gut, und selten bekam man die Gelegenheit, den einmal gemachten Fehler wieder zu beheben. Hätten die beiden alten Damen Gift verwendet, dann würde sie jetzt nicht einmal mehr diesen Gedanken nachhängen, die neuerlich durcheinanderwirbelten wie die Schneeflocken, die sie noch vorhin, wie sie glaubte, draußen vor dem Quincunx gesehen hatte.

Wer waren die alten Damen gewesen? Mysteriöse Zwillinge mit geheimnisvollen Absichten? Emily hatte sich an zwei andere Personen erinnert gefühlt, aber die beiden waren keine alten Damen gewesen, sondern … jemand – oder etwas – anderes.

Sie rieb sich erschöpft die Augen. Drehte den Kopf.

Neben ihr auf der Bank stand ihre Tasche. Na, immerhin! Sie überprüfte den Inhalt. Geldbörse, Telefon, Schlüssel – alles, was da sein sollte, befand sich noch in der Tasche. Nichts fehlte. Auch das Buch, das sie für Wittgenstein erstanden hatte, war noch da. Sie schaute an sich hinab, bemerkte einen kleinen Spritzer heller Soße auf ihrem Pullover.

Gemüsecurry.

Sie war also tatsächlich in Cambridge gewesen, sollte sie jemals daran gezweifelt haben. Nickleby und Tiny Tim waren keine Illusion gewesen, natürlich nicht. Doch wenn dem so war, welche Bewandtnis hatte es dann mit der verschwundenen Stadt? London existierte und war nicht im Mindesten verweht. Alles war hier, alles war genau so, wie es sein sollte. Aber in Cambridge hatte niemand die Stadt der Schornsteine gekannt. Dort war einfach alles anders gewesen. Das hatte sie sich nicht eingebildet. Nein, nie und nimmer hatte sie sich das eingebildet.

Was war bloß passiert? Sie hängte sich die Tasche über die Schulter, hielt sich fast ein wenig an ihr fest und schaute sich um.

Sie hatte das Gefühl, auf der Hut sein zu müssen. Alles hier sah so aus wie immer, aber das konnte täuschen. Sie war allein auf dem Bahnsteig, aber der nächste Zug würde in wenigen Minuten eintreffen, und wer weiß, was dann geschehen würde.

Ja, es war Zeit zu gehen!

Sie verließ den Bahnsteig und bewegte sich mit schnellen Schritten durch die langen, sich windenden Gänge mit den knalligen Mosaikbildern, die wenigstens etwas Farbe in den tristen Untergrund zauberten. Es roch nach Abfall und abgestandener Luft, in den Ecken nach warmer Pisse, Müll und Moder. Das stetige Brummen der Luftzufuhr war die einzige Musik, die zu so später Stunde hier unten spielte – die fahrenden Straßenmusiker waren anderswohin weitergezogen.

Die Fußgängertunnel erschienen ihr endlos. Außer ihren eigenen Schritten hörte sie keine anderen, doch das war gut so. Wittgenstein hatte sie in der Hinsicht Wachsamkeit gelehrt. Man wusste nie, was hier unten die Nacht durchstreifte.

Als sie an dem Knotenpunkt mit der langen Rolltreppe, die nach oben führte, ankam, wurde sie eines Mädchens gewahr. Die Kleine kauerte auf dem Boden und weinte. Emily hatte das Gefühl eines Déjà-vu. Nein, diesmal war es sogar eine richtige Erinnerung. Ihre eigene Erinnerung an damals, als sie ein kleines Mädchen und auf der Flucht gewesen war. Hier, an eben dieser Stelle, hatte Mortimer Wittgenstein sie damals gefunden. Er hatte sich ihrer angenommen, und von da an war ihr Leben ein anderes geworden. Wie lange war das jetzt her? Ewigkeiten, so schien es.

Umso verwunderlicher war es, nun diese Kleine zu sehen.

Sie trug eine Daunenjacke mit kunstfellverbrämter Kapuze. Darunter ein geblümtes Cordkleid, dazu schwere helle Boots, Jeans, einen hellrosa Schal, sehr Hippie, sowie eine selbst gestrickte grüne Mütze. Es sah aus, als habe sie sich diese Kleidungsstücke, die alle nicht wirklich zueinanderpassten und ihr darüber hinaus auch ein wenig zu groß zu sein schienen, wahllos geschnappt und in aller Eile übergezogen.

Jetzt kauerte sie erschöpft auf dem Boden zwischen der Rolltreppe und einer Bank, als fürchtete sie, dass jemand sie entdecken könnte. Ihr helles Haar lugte unter der Mütze hervor, die Augen waren wie die einer kleinen Katze auf der Flucht.

»Hab keine Angst«, sagte Emily leise, als das Mädchen sie bemerkte. Die Kleine musterte sie wachsam, ihr Körper wirkte angespannt, als wolle sie jeden Augenblick davonlaufen. »Ich tue dir nichts«, fügte Emily hinzu und blieb stehen, wo sie war. »Wenn du Hilfe brauchst, dann sag es mir.«

Die Kleine betrachtete sie argwöhnisch. »Er wird kommen«, stellte sie schließlich fest. »Er ist unterwegs.«

Emily ahnte nicht, was sie damit meinte. »Es ist niemand hier.«

»Er wird mit dem nächsten Zug kommen.«

»Ich komme gerade vom Bahnsteig«, sagte Emily. »Es ist alles in Ordnung.«

»Sie verstehen das nicht.« Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Er ist unterwegs. Er ist hinter mir her.«

Emily trat behutsam auf das Mädchen zu. »Du hast vermutlich recht, ich verstehe das nicht.« Ich verstehe im...

Erscheint lt. Verlag 12.9.2016
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
Literatur Fantasy / Science Fiction Science Fiction
Schlagworte Christoph Marzi • dunkle Geheimnisse • eBooks • Emily Laing • Fantasy • London • Lycidas • Magie • Uralte Metropole • Urban Fantasy
ISBN-10 3-641-18428-2 / 3641184282
ISBN-13 978-3-641-18428-5 / 9783641184285
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