Werke (eBook)

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2016 | 1. Auflage
196 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74764-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Werke -  Nescio
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Sie haben große Pläne, sie wollen raus, wollen es ganz anders machen als die etablierten Bürger, sie schwadronieren, trinken, rauchen und lesen Bücher. Irgendwann werden sie klüger. Nur Bavink nicht. Bavink dreht durch. Die Helden in diesem Band sind junge Bohemiens im Amsterdam des beginnenden 20. Jahrhunderts, unbezähmbare Idealisten, die die Welt des Geldes und der Ordnung verachten und ihren eigenen Weg suchen. Der führt nicht immer zum Erfolg - »doch bevor wir ein Leichentuch des Pessimismus über diesen verfehlten Elan werfen, sollten wir bedenken, dass aus ihm großartige Erzählungen entstanden sind, in denen sowohl der Enthusiasmus als auch das Scheitern ... auf wundersame Weise lebendig geblieben sind.« (Cees Nooteboom) Keiner hat lakonischer und schöner über Draufgängertum und Sehnsüchte junger Menschen, über ihre wilden Träume und ihre Verletzlichkeit geschrieben als Nescio. Von ihm, dem seriösen Geschäftsmann, dem genauen Gegenteil seiner Figuren, wurden zu seinen Lebzeiten nur eine Handvoll Erzählungen veröffentlicht, die bis heute von ihrer Kraft nichts verloren haben.

<p>Nescio, eigentlich J. H. F. Gr&ouml;nloh (1882-1961), war einer der Direktoren der Holland-Bombay-Handelsgesellschaft. 1918 erschien sein erstes und lange Zeit einziges Buch unter dem Pseudonym Nescio, das er erst l&uuml;ftete, als das Werk hartn&auml;ckig einem anderen zugesprochen wurde. 1996 wurde die lang erwartete Neuausgabe seiner Erz&auml;hlungen enthusiastisch gefeiert.</p>

Der Schnorrer


 

I


Außer dem Mann, der die Sarphatistraat für den schönsten Ort in Europa hielt, habe ich nie jemanden gekannt, der wunderlicher war als der Schnorrer.

Der Schnorrer, den du mit seinen dreckigen Schuhen in deinem Bett vorfandst, wenn du abends spät nach Hause kamst. Der Schnorrer, der dir die Zigarren wegrauchte und sich mit deinem Tabak die Pfeife stopfte und deine Kohlen verfeuerte, in deine Schränke guckte und dich um Geld anpumpte und deine Schuhe auftrug und sich deinen Mantel anzog, wenn er durch den Regen nach Hause musste. Der Schnorrer, der sich immer auf anderer Leute Rechnung etwas kommen ließ; der auf der Terrasse des »Hollandais« auf Kosten anderer wie ein Fürst Genever trank; der sich Regenschirme auslieh und nie zurückbrachte; der Bavinks gebrauchten Ofen so einheizte, dass er einen Riss bekam; der die gestärkten Kragen seines Bruders trug, und Appis Bücher verlieh und Auslandsreisen machte, wenn er seinen alten Herrn mal wieder geschröpft hatte, und Anzüge trug, die er nie bezahlte.

 

Er hieß Japi. Seinen Nachnamen habe ich nie erfahren. Bavink brachte ihn eines Tages mit, als er aus Veere zurückkam.

Einen ganzen Sommer lang hatte Bavink in Zeeland gemalt. In Veere war ihm Japi zum ersten Mal aufgefallen. Der hatte dort immer nur rumgehockt. Bavink hatte schon ein paarmal gedacht: Was ist das bloß für ein Kerl? Niemand wusste es, immer traf man ihn irgendwo am Wasser an. Da saß er, stundenlang, und rührte sich nicht. Um zwölf und um sechs ging er für eine Stunde hinein, um etwas zu essen; den restlichen Tag hockte er herum. Drei Wochen ging das so, dann war er verschwunden.

Ein paar Tage später kam Bavink aus Rotterdam zurück. Ab und zu hatte er das Bedürfnis, unter Leuten zu sein. Er war den Hafen rauf und runter geschlendert, bis es ihm zum Hals raushing. Und an Bord der Fähre zwischen Numansdorp und Zijpe, da hockte der Kerl wieder. Es wehte an dem Morgen ziemlich; eine kräftige kühle Brise ging, und die Wellen hatten weiße Schaumköpfe. Ab und zu spritzte am Bug die Gischt über die Reling. Die Glastüren auf dem Vorderdeck waren geschlossen; draußen war kein Mensch. Nur Japi hockte da, starrte über die Reling und wurde erbärmlich nass. »Schau einer an«, dachte Bavink, »da sitzt doch wahrhaftig dieser Kerl wieder.« Er stellte sich zu ihm. Das Schiff rollte und stampfte. Japi saß auf der Bank, hielt seine Mütze fest und ließ sich nass spritzen. Es dauerte eine ziemliche Weile, bis er merkte, dass jemand neben ihm stand. »Hübsches Wetter, was«, sagte Bavink. Japi sah ihn mit seinen großen blauen Augen an und hielt immerfort seine Mütze fest. In dem Moment schwappte ein Wasserschwall über die Reling, die Tropfen perlten ihm übers Gesicht.

»Durchaus«, sagte Japi. Mit einem Satz klatschte der Bug aufs Wasser und bäumte sich wieder auf. Ein Herr bemühte sich vergebens, die Glastür des Salons zu öffnen; der Wind war zu stark. »Wir liegen gut in der Zeit«, sagte Bavink, nur um etwas zu sagen. »So?«, sagte Japi. »Zeit existiert für mich nicht.«

Das Gespräch stockte. Japi blickte in die Wellen. Bavink betrachtete Japis graue Mütze und fragte sich, was das doch für ein Kerl sei. Auf einmal sagte der: »Schaun Sie mal, ein Regenbogen im Wasser.« Tatsächlich war im Wasser ein Stück Regenbogen zu sehen, aber am Himmel nichts. Noch einmal sah Japi Bavink mit seinen großen blauen Augen an und wurde dann plötzlich gesprächig.

»Mir gefällt es hier verdammt gut«, sagte er, »nur schade, dass es nicht immer so bleibt.« »In einer Stunde legen wir an«, sagte Bavink.

»Wollen Sie nach Zierikzee?«, fragte Japi.

»Das heißt«, sagte Bavink, »heute Abend fahre ich weiter nach Veere.« »Ach ja«, sagte Japi, »haben Sie sich da einquartiert?«

»Ja, da habe ich mich einquartiert, und sind Sie nicht der Herr aus Amsterdam, der immer am Wasser sitzt?« Da musste Japi lachen und sagte: »Ich sitze ziemlich oft am Wasser, immer ist ein bisschen übertrieben. Nachts liege ich im Bett, eine Stunde brauche ich zum Anziehen und Frühstücken, eine halbe Stunde sitze ich am Mittagstisch, und um sechs muss ich wieder etwas essen. Aber ich sitze schon ziemlich oft am Wasser. Deshalb komme ich ja nach Zeeland. Ich mache mir noch viel zu viel Gedanken. Letzte Woche war ich in Amsterdam. Ließ sich nicht vermeiden, mein Geld war alle.«

»Sind Sie Amsterdamer?«, fragte Bavink. »Ja, Gott sei Dank«, sagte Japi. »Ich auch«, sagte Bavink. »Malen tun Sie nicht?«, fragte er weiter. Eine etwas spießige Frage, aber Bavink hatte die ganze Zeit überlegt, was das doch bloß für ein Kerl sei? »Nein, Gott sei Dank«, sagte Japi, »und dichten tue ich auch nicht und bin weder Naturfreund noch Anarchist. Ich bin Gott sei Dank gar nichts.«

Das gefiel Bavink nicht schlecht.

Das Schiff bäumte sich auf, fiel zurück, rollte und schlingerte; das Wasser sprühte hoch auf und ergoss sich über die Reling; außer ihnen war niemand an Deck. Vor ihnen war das Meer unabsehbar, voller weißer Schaumkronen, der Schatten einer großen Wolke war eine treibende Insel; in der Ferne stampfte ein schwarzer Frachter vor ihnen. »Da«, sagte Japi, »die ›Stad Gent‹.« Man sah die Gischt zu beiden Seiten des Bugs hoch aufspritzen; rund um die Schraube wirbelte, brauste und schäumte es. Hohl rollten die Wogen mit scharfen Kämmen, grün und blau und gelb und grau und weiß, je nach der Tiefe und der Spiegelung der Wolken, nirgends und nie einen Moment gleich. Ein kleiner Schlepper zog einen Lastkahn und zwei Tjalken.

»Nein«, sagte Japi, »ich bin nichts und ich tu nichts. Eigentlich tue ich noch viel zu viel. Ich übe mich im Verlöschen. Am besten ist es, wenn ich ganz still sitze, bewegen und denken ist was für dumme Menschen. Ich denke auch nicht. Essen und schlafen muss ich leider. Am liebsten würde ich mich Tag und Nacht nicht von der Stelle rühren.«

Das Ganze fing allmählich an, Bavink zu interessieren. Doch er nickte nur. Noch immer umklammerte Japi seine Mütze mit der rechten Hand, mit dem Arm stützte er sich auf die Reling. Der Wind war so stark, dass Bavink sich die Hand an die Nase halten musste, um atmen zu können. Aber Japi hockte da, als wäre er hier zu Hause. Dann sagte er, er habe die Absicht, noch ein paar Wochen in Veere zu versitzen, bis sein Geld alle sei.

Malen war ja ganz patent, wenn man es gut konnte. Er konnte nichts und deshalb tat er auch nichts. Man konnte die Dinge ja doch nicht so wiedergeben, wie man sie erlebte. Er hatte nur einen einzigen Wunsch: zu verlöschen, unempfindlich zu werden gegen Hunger und Müdigkeit, gegen Kälte und Nässe. Das waren die großen Feinde. Ewig musste man essen und schlafen, sich vor Kälte schützen, man wurde nass und fühlte sich elend oder müde. Das Wasser, das hat es gut, das wiegt sich und spiegelt die Wolken wieder, ist immer anders und bleibt sich doch immer gleich. Braucht sich um nichts Sorgen zu machen.

Die ganze Zeit stemmte sich Bavink gegen den Wind, auf seinen Stock gestützt, und nickte. So verrückt ist das gar nicht, dachte er. Und fragte beiläufig, ob Japi auch nach Veere weiterfahre. Und so kam das Gespräch auf Zierikzee, auf Middelburg, auf Arnemuiden und all die Orte, wo beide unzählige Male herumgeschlendert, -gestanden und -gesessen hatten. Denn Japi hatte in seinem Leben doch auch noch anderes getan als nur in Veere am Wasser zu sitzen. Und Bavink merkte schon bald, dass Japi nicht nur schlendern, stehen und sitzen konnte, sondern auch gucken. Und klönen ohne Ende. Und als sie bei Zijpe an Land gingen, zeigte Japi nach Südwesten, zum dicken Turm von Zierikzee, der sich schemenhaft am Horizont abzeichnete, und sagte: »Der dicke Jan, der olle geduldige dicke Jan, der steht noch da. Dacht ich mir's doch. Ja, er steht noch da.« Und Bavink fragte, ob er sich immer so amüsiere, und Japi sagte: »Ja.« Mehr nicht. Und als sie in Zierikzee ankamen und aus der Elektrischen stiegen, ließ Japi seine Schuhsohlen über die heißen Pflastersteine einer schattenlosen Gasse klappern, die in der Sonne vor sich hin brutzelte, streckte und reckte sich und sagte, das Leben sei doch verteufelt amüsant. Und dann drohte er der Sonne mit seinem Spazierstock und sagte: »Diese Sonne, immer scheint sie, aber sie sinkt, steigen tut sie nicht mehr, es ist nach zwölf, runter muss sie: heut Abend wird es wieder kühl. Die Leute würden komisch gucken, wenn sie oben bliebe. Schön warm, was? Die Sachen kleben mir am Körper. Die Seeluft dampft mir aus dem Kragen.«

Und da zeigte sich, dass man das Verlöschen nicht gar so wörtlich nehmen durfte.

Bei Tisch war Japi besonders gesprächig. Er redete für drei und aß für sechs. »Die Seeluft zehrt«, sagt man in Veere. Er trank für sechs weitere und sang das ganze Lied von der Nancy Brick. Kurzum, er war sehr rührig und ausgelassen, und Bavink dachte, so ein Kerl ist doch Gold wert.

Und das war er. Mittags nahm er Bavink mit auf den Ringgraben und ließ ihn dreimal um Zierikzee herumlaufen. Sein Mund stand nicht still, und sein Spazierstock zeigte ständig hierhin und dorthin, und wenn die Zierikzeer stehen blieben und gafften, dann marschierte er auf sie zu und redete sie mit »junger Herr« an und erkundigte sich, ob sie gesund seien, und klopfte ihnen auf die Schulter, so dass Bavink sich vor Lachen die Seiten hielt. Darauf verstand Japi sich: die wohlmeinenden, zivilisierten Holländer in ihre Schranken zu weisen, die keinen akzeptieren, der nicht genauso dumm und geschmacklos aussieht wie sie, und spotten und laut über andere herziehen, als hätten sich nicht seit Jahrhunderten...

Erscheint lt. Verlag 11.9.2016
Übersetzer Christiane Kuby
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Mene Tekel, de uitvreter, Titantjees, Dichtertje
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Amsterdam • Bibliothek Suhrkamp 1497 • bohemiens • BS 1497 • BS1497 • Establishment • Gastland Buchmesse • Jan Hendrik Frederik Grönloh • Jugend • Literatur • Niederlande • Sinnsuche
ISBN-10 3-518-74764-9 / 3518747649
ISBN-13 978-3-518-74764-3 / 9783518747643
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