Über dem Abgrund (eBook)
296 Seiten
Francke-Buch (Verlag)
978-3-86827-793-7 (ISBN)
Dani Pettrey ist für ihre spannenden Romane mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Sie ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und lebt in Maryland.
Kapitel 2
Kayden hatte einen toten Kletterer auf dem Felsabsatz gefunden. Pipers zittrige Stimme hallte in Jakes Ohren wider, während er sein Satellitentelefon aus der Tasche zog. Seine Finger umschlossen das Metallgehäuse, als genau in diesem Moment das Telefon in seiner Hand vibrierte und das Klingeln ertönte.
„Westin …“ Er blinzelte. „Cavanagh.“ Wie lange würde es wohl dauern, bis er sich wieder an seinen vollen Namen gewöhnt hatte? Er war so lange Jake Westin gewesen, dass es ihm viel schwerer fiel als erwartet, sich wieder Jake Cavanagh zu nennen.
„Landon hier.“
„Perfektes Timing, Sheriff.“
„Hm?“
Nachdem Sheriff Bill Slidell sehr plötzlich den Polizeidienst und Yancey verlassen hatte, war Deputy Sheriff Landon Grainger vom Stadtrat in die Leitungsposition gewählt worden, bis die Wahlen im Herbst ihm den Job zweifellos auf Dauer bescheren würden.
„Kayden hat oben auf dem letzten Absatz der Stoneface-Route einen verunglückten Kletterer gefunden.“
„Tot?“
„Ich fürchte, ja.“
„Sein Kletterkumpel hat gerade von der Rangerstation 4 aus angerufen.“ Der nächste Stützpunkt von ihnen aus.
„Hat er gesagt, was passiert ist?“
„Der Mann hat einen Haltepunkt verpasst und ist abgerutscht.“
Mehr war nicht nötig, nur ein Fehlgriff. Kein Wunder, dass Jake das Herz jedes Mal bis zum Hals schlug, wenn Kayden kletterte. Er war sogar mit ihr zusammen geklettert, weil er das Gefühl hatte, dann wenigstens besser helfen zu können, sollte etwas schiefgehen. Aber das war natürlich Unsinn. Sie hatte so viel mehr Erfahrung als er, dass er höchstens einen Logenplatz hatte, wenn sie abstürzte.
Er verdrängte den schrecklichen Gedanken. „Kommst du hierher?“
„Ja, ich habe Cole und Booth schon angerufen. Wir kommen, sobald wir können.“
„Wir müssen die Bergungsausrüstung hinten raufbringen.“ Die Wagen würden nur einen Teil des Weges zurücklegen können, dann würde die restliche Rettungsmannschaft weiterwandern und auch wieder zu Fuß zurückgehen müssen, wenn sie die Leiche geborgen hatte.
„Wie geht es den Mädchen?“, fragte Landon.
„Wir machen uns jetzt auf den Weg zu ihnen.“
„Sag Piper, dass ich unterwegs bin“, sagte er, offensichtlich besorgt um seine Verlobte.
„Mach ich.“ Jake klappte das Telefon zu und berichtete Gage von dem Gespräch, während sie um das Felsmassiv herum zur Rückseite des Berges gingen. Der Weg – wenn man das so nennen konnte – war schmal und gewunden und mit Baumwurzeln und Moos überwuchert, das vom letzten Regen noch feucht war.
Vielleicht war der Mann deshalb ausgerutscht. Vielleicht war er zu früh losgeklettert, bevor die Sonne die Chance gehabt hatte, den Felsen zu trocknen.
Als sie den letzten Anstieg zurücklegten, stand Jake der Schweiß auf der Stirn, nachdem sie zweihundert Höhenmeter erklommen hatten. Die Luft war hier dünner, füllte aber frisch und kühl seine Lunge. Piper sah die Männer zuerst, sie hatte Tränen in den Augen. Kayden stand mit dem Rücken zu ihnen und Jake ging auf sie zu. Er hätte sie so gerne getröstet, aber er wusste, dass sie das niemals zulassen würde.
„Jake“, begrüßte Piper ihn.
Kayden drehte sich um. Wie erwartet waren ihre Augen trocken, aber ihre Wangen waren gerötet – auch sie war erschüttert. Wie sollte es auch anders sein?
„Gage!“ Piper lief in die Umarmung ihres Bruders.
Er tätschelte ihr den Rücken. „Wie geht’s, Kleines?“
„Mir geht es gut, aber Kayden …“
„Geht es auch gut.“ Ihr Blick traf den von Jake, als sie seine unausgesprochene Frage beantwortete. „Alles in Ordnung.“
Er nickte, auch wenn er wusste, dass es gelogen war.
„Landon ist auf dem Weg hierher“, sagte Gage, woraufhin Pipers Anspannung spürbar nachließ.
„Kommt Booth mit?“
Warum fragte Kayden nach dem Gerichtsmediziner? „Ja.“
„Gut.“ Sie rieb sich die Arme. „Irgendwas kommt mir hier nämlich komisch vor.“
Jake schob sich neben sie und sie versuchte zu ignorieren, wie gut sich seine Anwesenheit anfühlte. Sie sehnte sich danach, in seine Arme zu laufen, so wie Piper sich von Gage hatte umarmen lassen.
„Was meinst du mit komisch?“ Eine Sorgenfalte erschien auf seiner Stirn.
„Es ist nur so ein Gefühl. Super …“ Sie schüttelte den Kopf und lachte. „Jetzt klinge ich schon wie Piper.“ Ihre Schwester hatte einen guten Instinkt. Aber Kayden …?
Er berührte ihren Arm. In dem Moment, in dem sie seine Hand auf ihrer Haut spürte, fühlte sie sich ganz ruhig. „Nichts gegen Gefühle. Sie können eine große Hilfe sein.“
Sie zuckte mit den Schultern. Irgendwas stimmte hier nicht, auch wenn sie nicht darauf kam, was es war.
„Sie sind hier“, sagte Piper und sprang auf, um zu ihrem Verlobten zu laufen. Booth erschien ebenfalls, dicht gefolgt von Cole.
„Hallo, Booth.“ Kayden begrüßte den Gerichtsmediziner von Yancey mit einem Nicken.
Cole trat um Booth herum und ging geradewegs auf sie zu. Wenn sie sich von irgendjemandem trösten ließ, dann von ihrem großen Bruder, dem ältesten der McKenna-Geschwister und seit dem Tod ihrer Eltern das Oberhaupt der Familie.
„Wie geht es dir?“, fragte er und legte eine Hand so fest auf ihre Schulter, dass sie sich nicht umdrehten konnte, sondern ihm in die Augen sehen musste.
Sie warf einen Blick zu ihrer Schwester hinüber, die noch immer ein wenig blass um die Nase war. „Besser als Piper.“
Der Anflug eines müden Lächelns zuckte an Coles Mundwinkeln. „Das ist kein Wettbewerb, Kayden.“
Sie straffte die Schultern und zwang sich, sein Lächeln zu erwidern. „Alles ist ein Wettbewerb.“
Cole schüttelte den Kopf. „Du bist unmöglich.“ Er sah sie prüfend an. „Weißt du, es ist in Ordnung zuzugeben, wenn dich etwas aus der Fassung bringt.“
„Nicht jeder muss heulen, um mit etwas fertig zu werden.“
„Ich weiß.“ Seine grünen Augen wurden sanfter. „Aber ich weiß auch, wenn du erschüttert bist.“
Sie atmete aus, als sie die Ernsthaftigkeit in seinem Blick sah. Er wollte nur helfen. „Ich weiß – und ich weiß es auch zu schätzen.“
Jetzt musste sie sich auf das vorbereiten, was als Nächstes kam. Das Opfer zu finden, war schlimm genug gewesen, aber jetzt folgte die grausigere Aufgabe des Tages – die Leiche zu bergen.
Bei all seinen Verletzungen hatte sie es schlecht beurteilen können – und sie hatte sich nicht überwinden können, sein Gesicht eingehender zu betrachten –, aber wenn der Mann von hier war oder auch aus der Umgebung, dann war es durchaus möglich, dass sie ihn kannte, zumindest dem Namen nach. Die Kletterer auf der Alaska-Halbinsel kannten sich. Alle Kletterer in Alaska kannten sich, wenn man es genau nahm.
„Unser Opfer heißt Conrad Humphries“, sagte Landon, während Kaydens Brüder die Bergungsausrüstung zurechtlegten.
„Conrad?“ Piper schluckte.
„Du kanntest ihn?“
„Wir kannten ihn beide“, sagte Kayden. „Nicht gut, aber er war im letzten Winter ein paarmal im Kletterpark. Ich glaube, er wohnt auf Imnek. Woher weißt du, dass er es ist?“
„Sein Kletterkumpel hat sich gemeldet.“
„Er war mit jemandem zusammen unterwegs?“, fragte Kayden, überrascht, dass sein Freund ihn zurückgelassen hatte.
Landon nickte.
Sie trat näher. „Was hat der Freund berichtet?“
„Er sagte, alles sei gut gelaufen. Conrad war an dem Überhang vorbei und sein Kumpel hat ihn nicht mehr gesehen. Kurz darauf hörte er Conrad schreien und dann …“
„Und dann?“, wiederholte sie.
Landon zog eine Grimasse. „Und dann einen Aufprall.“
Kayden versuchte, nicht zusammenzuzucken. Sie hatte das Ergebnis dieses Aufpralls aus nächster Nähe gesehen. Ihr Magen zog sich zusammen. „Woher hat der Freund angerufen?“
„Von Station 4. Er hatte wohl keinen Handyempfang und wusste, dass Conrad Hilfe brauchte, also ist er runtergeklettert und zu seinem Mietwagen gelaufen. Dann ist er zu der Rangerstation gefahren, an der Conrad und er auf dem Weg vorbeigekommen waren. Er sagte, er hätte nicht gewusst, wie er noch schneller hätte Hilfe holen können.“
„Hat er nachgesehen, ob Conrad bei Bewusstsein war, bevor er gegangen ist?“
„Ich weiß nicht, aber er schien der Meinung zu sein, dass es sich um einen Rettungseinsatz handelt und nicht um eine Bergung.“
„Das heißt, er glaubt, Conrad sei noch am Leben?“, fragte Jake.
Landon nickte. „Den Eindruck hatte ich jedenfalls.“
„Selbst nachdem er den Aufprall gehört hat?“
„Unser Gehirn macht bei Tragödien, was es will.“
„Wo ist der Freund jetzt?“, fragte Kayden.
„Immer noch bei den Rangern. Ich habe ihn gebeten, dort zu bleiben. Ich wollte nicht, dass er hierherkommt, während wir versuchen zu arbeiten. Ich habe Ranger Aikens gesagt, dass ich vorbeischaue, um mit ihm zu reden, wenn wir hier fertig sind.“
„Wie heißt er?“
Landon sah in seinem Notizbuch nach. „Stuart Anderson.“
...Erscheint lt. Verlag | 1.9.2016 |
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Übersetzer | Dorothee Dziewas |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Silenced |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
Schlagworte | Alaska • Christlicher Roman • Extremsport • Klettern • Liebesgeschichte • Liebesroman • Spannung • Vertrauen • Zweite Chance |
ISBN-10 | 3-86827-793-5 / 3868277935 |
ISBN-13 | 978-3-86827-793-7 / 9783868277937 |
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