Seltene Affären (eBook)
192 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-97571-1 (ISBN)
Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei und war Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte und Romane zu schreiben. Neben anderen erschienen von ihm die Romane »Das Glück meiner Mutter«, »Das innere Ausland« und der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman »Eine kurze Geschichte vom Glück«.und zuletzt »Einer fehlt«. Thommie Bayer lebt mit seiner Frau in Staufen bei Freiburg.
Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei und war Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte und Romane zu schreiben. Neben anderen erschienen von ihm "Die gefährliche Frau", "Singvogel", der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman "Eine kurze Geschichte vom Glück" und zuletzt "Das innere Ausland".
3
Als mir am Donnerstagabend meine Hecktür auf Knopfdruck entgegensprang und ich die Tasche in den Wagen stellte, war noch ein Rest Röte am westlichen Himmel, und ich freute mich darauf, in die abendliche Farblosigkeit hineinzufahren. Ich sah die CDs durch, die ich im Handschuhfach aufbewahrte, aber ich fand keine, die mir in diesem Augenblick gepasst hätte.
Die letzten Gäste waren schon gegen neun Uhr gegangen, und Javier dirigierte wie immer das Aufräumen und Herrichten des Gastraums. Später, wenn alle anderen schon aus dem Haus wären, würde er sich in einer halbstündigen Séance im Waschraum in Camilla verwandeln, die sich auf High Heels und im schwarzen Kleid ins Nachtleben von Luxeuil werfen und im eigenen Glamour sonnen würde.
Luxeuil ist ein Badeort und deshalb voller alter Menschen, aber im Service arbeiten genügend Schwule und Lesben, um eine Bar rentabel zu halten, die sich als deren Wohnzimmer versteht. Nighthawk. Hin und wieder verirrt sich auch mal ein Kurgast dorthin und wendet sich entweder mit Grausen ab oder seufzt erleichtert auf, weil er endlich die richtigen Leute um sich hat und sein tagtägliches Versteckspiel für ein paar Stunden hinter sich lassen kann.
Javier war Flugbegleiter bei der Air France gewesen, aber hatte es eines Tages sattgehabt, ständig seine Perücken, Schuhe und Fummel erklären zu müssen, wenn die Flughafensecurity bei ihren gelegentlichen Kontrollen der Crews seinen Trolley durchsucht hatte. Das hatte er mir, ein paar Monate nachdem er bei uns angefangen hatte, nachts im Büro erzählt und mich gebeten, es den Kellnern nicht zu sagen und vor allem nicht Melih und den Küchenleuten. »Die sind noch ziemlich von gestern«, erklärte er mir, »die denken noch binär.«
~
Ich konnte doch über einen Transsexuellen schreiben, der seine letzten Tage als Mann verbringt. Auf meiner Liste für Paul standen die Themen Abschied, Form und Sechzigerjahre. Die Abgabetermine waren noch ein bisschen hin, aber ich musste ja nicht auf den letzten Drücker drangehen. Für Abschied wäre jemand wie Javier eine tolle Hauptfigur, fand ich. Allerdings wusste ich nicht, ob er eine Frau sein oder nur spielen wollte. Den Unterschied zwischen Transvestit und transsexuell kannte ich immerhin, obwohl mir diese Welt ansonsten eher fern war. Aber wenn man schreibt, sollte einem nichts fern bleiben. Jedenfalls nicht auf Dauer.
Ich hatte die Straße wieder so ziemlich für mich, nur bis Hericourt traf ich auf den einen oder anderen Heimkehrer von einer späten Schicht, einer Geliebten oder einem Restaurantbesuch. Auf der Autobahn ab Belfort konnte ich wieder fliegen.
Und die letzten paar Kilometer Landstraße fuhr ich mit offenem Fenster, weil die Nacht warm und sternenklar war und der Fahrtwind sich anfühlte wie der in Volterra vor Jahren.
~
Sie hatte die Schokolade nicht angerührt. Und ich musste wieder keins meiner Figürchen anrühren. Ich versuchte, etwas von ihr im Geruch der Wohnung zu finden, aber es gelang mir nicht. Natürlich nicht. Sie hatte bei meinem kurzen Blick auf sie nicht wie jemand gewirkt, der eine Parfümwolke hinter sich herzieht.
Ich war müde, aber noch nicht müde genug, also setzte ich mich mit meinem Glas Wein an den Computer und stöberte im Internet nach allem, was sich zum Thema Transsexualität finden ließ. Es gab, wann immer Fotos bei den Artikeln auftauchten, wunderschöne Wahlfrauen zu sehen, die zu meinen in der Realität gesammelten Erfahrungen nicht passen wollten. Wann immer ich Transvestiten begegnet war, hatte ich Karikaturen meist spießiger Weiblichkeit gesehen, eher Zerrbilder als Idealbilder. Aber vielleicht war das bei der Schönheit von Menschen immer so. Wer glaubt, sie sich einfach anziehen und aufmalen zu können, anstatt sie als Geschenk der Evolution demütig anzunehmen, riskiert, sich lächerlich zu machen.
~
Diesmal berührte sie mich nicht, sie saß da, das Gesicht im Dunkel, nur auf ihrem Haar lag ein Schimmer des Lichts von draußen.
Sie schwieg. Die Situation war mir nicht unangenehm, aber irgendwann glaubte ich doch, etwas sagen zu müssen:
»Warum haben Sie die Schokolade nicht gegessen?«
»Das war mir peinlich. Ich hatte beim letzten Mal einen Hungeranfall, so richtig mit Zittern und Schweißausbruch, und ich wollte sie am nächsten Tag zurücklegen, aber das habe ich vergessen.«
»Ist nicht schlimm.«
»Darf ich Sie etwas fragen?«
»Natürlich.«
»Waren Sie bei mir?«
»Ja. Habe ich Sie gestört?«
»Nein.«
Diesmal hatte ich nicht gewusst, dass ich träume. Erst als ich mich im Bett aufsetzte, begriff ich, dass ich allein im Zimmer und benommen vom Schlaf war. Es wurde immer skurriler. Ich hatte mich im Traum an einen anderen Traum erinnert. So langsam schien sich das zu einer Art von zweiter Ebene in meinem Leben zu entwickeln.
~
Vor der kleinen Rösterei, in der ich immer den Kaffee kaufe, stand ein Roller, aber keine der Frauen, die im Laden warteten oder an den Tischchen saßen, passte zu meiner flüchtigen Erinnerung. Allerdings hatten der kurze Blick in den Rückspiegel beim Überholen und der nur wenig längere, bevor sie in meine Auffahrt eingebogen war, nicht gerade deutliche Bilder ihres Gesichts in mein Gedächtnis eingepflanzt. Und den Roller hatte ich nicht weiter beachtet. Es konnte der sein, den Frau Wildenhain, meine eigentliche Putzfrau, gefahren hatte. Vielleicht wohnte die Vertretung auch in ihrem Häuschen? Dort war ich einmal gewesen, um Geld vorbeizubringen, weil ich zuvor vergessen hatte, es an die verabredete Stelle unter der Hygeia-Statue im Flur zu deponieren.
~
Meine Geschichte gefiel mir noch immer. Ich fand nichts zu ändern, nachdem ich sie auf Papier noch einmal durchgelesen hatte, also heftete ich sie ab in dem Ordner, der schon elf weitere enthielt, und war stolz auf die zunehmende Dicke seines Inhalts.
Abschied. Ich versuchte, in meinem Kopf Bilder entstehen zu lassen, irgendeine Szenerie, in der Bewegung herrschte oder eine starke Stimmung, eine Dynamik, aus der heraus ich erst der Person meiner Story begegnen wollte. Eine Schlägerei, ein Streit, ein Autounfall, eine Hochzeit, ein Begräbnis – nichts davon enthielt eine Figur, die aussah wie ein Mann, sich aber fühlte wie eine Frau.
Dann begann ich, darüber nachzudenken, dass ich ja auch von außen auf diese Figur schauen könnte – sie musste nicht mit eigener Stimme sprechen, sondern konnte auch dem Erzähler über den Weg laufen.
Als ich nach unten ging, um mir einen weiteren Cappuccino zu machen, beschloss ich, den Gedankenkrampf zu unterbrechen und Musik zu hören. Das hilft manchmal, ebenso wie Schlafen oder Bewegung. Ich suchte eine Weile herum und nahm dann ein Album von Ruth Moody heraus, schaltete den CD-Player an und ließ die Schublade herausgleiten.
Darin lag eine CD. Revolver von den Beatles.
Die Putzfrau hatte Musik gehört.
Ich musste über mich selbst lachen, als ich spürte, dass ich den Kopf schüttelte. Natürlich stört es mich nicht, wenn sie Musik hört, sie darf auch gerne im Bikini mit Pistolengürtel putzen und einen Blumenkranz im Haar dazu tragen. Aber was sie nicht darf, ist die CD nicht wieder aufräumen. Schokolade essen ist das eine, CDs einfach im Player lassen das andere.
Ich tauge schon deshalb nicht zur Ehe oder zum Zusammenleben, weil ich das Geschirr in der Spülmaschine umräumen und jeden Stuhl, Sessel oder Blumenstrauß an seinen Platz rücken müsste. Ich würde alles korrigieren, was meine Frau angefasst hätte. Solches Verhalten führt im besseren Fall zur Scheidung und im schlimmeren, aber wahrscheinlicheren zu Mord.
Ich stellte das Ruth-Moody-Album an seinen Platz in der Schublade zurück und startete Revolver. Dann holte ich die Patience-Karten und setzte mich an den Tisch, um richtig zuhören zu können. Ich wollte weg von der Geschichte, nicht an einen Transsexuellen denken, sondern an das, was ich hörte, und das, was sich daraus ergeben würde.
Schon die ersten Klänge von Taxman schickten mich zurück in unsere Kindheit, in die Zeit, als Paul und ich noch zwei Hälften einer einzigen Person waren. Oder eine doppelte Person. Wir waren dreizehn, als das Album erschien, aber wir entdeckten es für uns erst mit fünfzehn, als die Achtundsechziger-Aufbruchsstimmung auch uns erfasst hatte und wir glaubten, alles werde nun anders und wir seien diejenigen, die es änderten.
Paul und ich trugen damals noch identische Kleidung, hatten dieselbe Haarlänge und schlurften in den gleichen Wildleder-Clarks einher. Wir waren das Spiel mit der Verwechslung noch nicht leid, das uns seit unserer Kindheit so viel Aufmerksamkeit und Zuspruch verschafft hatte. Wir schrieben in der Schule dieselben Noten, gaben uns danach mit denselben Freunden ab, wachten gleichzeitig auf und schliefen gleichzeitig ein. Das sagte man uns jedenfalls, wenn wir bei Freunden oder Verwandten übernachteten.
Wir hatten natürlich als Kinder Das doppelte Lottchen gelesen und uns immer wieder einen Spaß daraus gemacht, die Rollen zu tauschen, denn außer unseren Eltern konnte uns niemand auseinanderhalten, wenn wir das nicht wollten. Also trug einer von uns immer ein Zeichen, anfangs ein Halstuch oder einen andersfarbigen Gürtel, später eine Sonnenbrille oder einen Badge, als die in Mode kamen, aber dieses Zeichen tauschten wir nach Belieben, wenn sich ein Vorteil daraus ergab. Natürlich wurde das irgendwann langweilig, und wir ließen es schließlich ganz bleiben, als ich meine erste Freundin hatte.
Nicht, dass die Pubertät mit all ihren...
Erscheint lt. Verlag | 1.8.2016 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Brüder • Buch • Bücher • Das innere Ausland • Doppelleben • Feinschmecker • Identität • Liebesgeschichte • Lothringen • Restaurant • Rivalen • Schriftsteller • unglückliche Liebe |
ISBN-10 | 3-492-97571-2 / 3492975712 |
ISBN-13 | 978-3-492-97571-1 / 9783492975711 |
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