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Mein Michael (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
317 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-73165-8 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
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Hannah Gonen, 30 Jahre alt, trennt sich nach zehn Jahren Ehe von ihrem Mann Michael. Als Studentin hat sie den Geologen kennengelernt, sich in ihn verliebt. Sie hat für ihre Liebe ihr Studium aufgegeben, Mann und Kind ernährt, den Widerstand von Michaels Verwandtschaft ertragen - und seine Lieblosigkeit. Hannah erinnert sich, resümiert Stück für Stück eine Ehe, die von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Mit der Hoffnung, den Glauben an die Liebe nicht verloren zu haben. Amos Oz' Roman erzählt nicht nur von einer Ehe, die nicht gutgehen konnte, sein Buch ist auch ein Stück israelische Geschichte.

<p>Amos Oz wurde am 4. Mai 1939 in Jerusalem geboren und starb am 28. Dezember 2018 in Tel Aviv. 1954 trat er dem Kibbuz Chulda bei und nahm den Namen Oz an, der auf Hebräisch Kraft, Stärke bedeutet. Amos Oz war Mitbegründer und herausragender Vertreter der seit 1977 bestehenden Friedensbewegung Schalom achschaw (Peace now) und befürwortete eine Zwei-Staaten-Bildung im israelisch-palästinensichen Konflikt. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1992, dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main 2005 und dem Siegfried Lenz Preis 2014. Sein bekanntestes Werk <em>Eine Geschichte von Liebe und Finsternis</em> wurde in alle Weltsprachen übersetzt und 2016 als Film adaptiert.</p>

II


Mein verstorbener Vater pflegte oft zu sagen: Starke Menschen können fast alles tun, was sie wollen, aber selbst die stärksten können sich nicht aussuchen, was sie tun wollen. Ich bin nicht besonders stark.

Michael und ich verabredeten uns noch am selben Abend im Café Atara in der Ben-Yehuda-Straße. Draußen tobte ein wahrer Sturm, der wild gegen die steinernen Mauern Jerusalems schlug.

Die Notstandsgesetze waren noch in Kraft. Man brachte uns Ersatzkaffee und winzige Papiertütchen mit Zucker. Michael machte einen Scherz darüber, aber sein Scherz war nicht komisch. Er ist kein witziger Mann – und vielleicht konnte er ihn auch nicht richtig erzählen. Ich freute mich, daß er sich so anstrengte. Ich war froh, daß er sich mir zuliebe ein bißchen Mühe gab. Meinetwegen schlüpfte er aus seinem Kokon und versuchte, heiter und amüsant zu sein. Noch mit neun Jahren hatte ich den Wunsch, ein Mann zu werden statt einer Frau. Als Kind spielte ich lieber mit Jungen und las nur Jungenbücher. Ich balgte mich herum, teilte Fußtritte aus und machte Klettertouren. Wir lebten in Qiryat Shemuel, am Rande eines Vororts, der Katamon heißt. Dort gab es ein herrenloses Stück Land an einer Böschung, das von Felsbrocken, Disteln und Schrott bedeckt war, und am Fuße der Böschung stand das Haus der Zwillinge. Die Zwillinge waren Araber, Halil und Aziz, Rashid Shahadas Söhne. Ich war eine Prinzessin und sie meine Leibwächter, ich war ein Eroberer und sie meine Gefolgsleute, ich war ein Entdecker und sie meine Eingeborenenträger, ein Kapitän und sie meine Mannschaft, ein Meisterspion und sie meine Zuträger. Gemeinsam erforschten wir abgelegene Straßen, durchstreiften hungrig und atemlos die Wälder, hänselten orthodoxe Kinder, drangen heimlich in den Wald um das St.-Symeon-Kloster ein, beschimpften die britischen Polizisten. Jagten und flüchteten, versteckten uns und tauchten wieder auf. Ich herrschte über die Zwillinge. Es war ein kaltes Vergnügen, schon so fern.

Michael sagte:

»Du bist ein verschlossenes Mädchen, nicht?«

Nachdem wir unseren Kaffee ausgetrunken hatten, holte Michael eine Pfeife aus seiner Manteltasche und legte sie zwischen uns auf den Tisch. Ich trug braune Kordhosen und einen dicken, roten Pullover, wie ihn Studentinnen damals zu tragen pflegten, um lässig auszusehen. Michael bemerkte schüchtern, ich hätte morgens in dem blauen Wollkleid viel weiblicher gewirkt. Auf ihn zumindest.

»Du hast heute morgen auch anders ausgesehen«, sagte ich.

Michael trug einen grauen Mantel. Er behielt ihn die ganze Zeit über an, die wir im Café Atara saßen. Seine Wangen glühten von der bitteren Kälte draußen. Sein Körper war mager und eckig. Er griff nach seiner kalten Pfeife und zeichnete mit ihr Figuren auf das Tischtuch. Seine Finger, die mit der Pfeife spielten, stimmten mich friedlich. Vielleicht bereute er plötzlich seine Bemerkung über meine Kleidung. Als wolle er einen Fehler wiedergutmachen, sagte Michael, er fände, ich sei ein hübsches Mädchen. Während er das sagte, blickte er starr auf seine Pfeife. Ich bin nicht besonders stark, aber stärker als dieser junge Mann.

»Erzähl etwas von dir«, sagte ich.

Michael sagte:

»Ich habe nicht in der Palmach* gekämpft. Ich war bei der Nachrichtentruppe. Ich war Funker bei der Carmeli-Brigade.«

Dann begann er, von seinem Vater zu sprechen. Michaels Vater war Witwer. Er arbeitete bei den Wasserwerken der Stadtverwaltung Holon.

Rashid Shahada, der Vater der Zwillinge, war unter den Briten in der technischen Abteilung der Stadtverwaltung Jerusalems beschäftigt. Er war ein gebildeter Araber, der sich Fremden gegenüber wie ein Kellner benahm.

Michael erzählte mir, daß sein Vater den größten Teil seines Gehalts in seine Ausbildung stecke. Michael war ein Einzelkind, und sein Vater setzte große Hoffnungen in ihn. Er wollte nicht einsehen, daß sein Sohn ein gewöhnlicher junger Mann war. Er pflegte zum Beispiel voller Ehrfurcht die Aufsätze zu lesen, die Michael für sein Geologiestudium anfertigte, um sie dann in wohlgesetzter Rede mit Sätzen wie »Das ist sehr wissenschaftlich. Sehr gründlich« zu kommentieren. Seines Vaters größter Wunsch war es, daß Michael einmal Professor in Jerusalem würde, denn sein Großvater väterlicherseits hatte Naturwissenschaften am hebräischen Lehrerseminar in Grodno gelehrt. Er war sehr angesehen gewesen. Es wäre schön, dachte Michaels Vater, wenn sich diese Tradition von einer Generation zur anderen fortsetzen ließe.

»Eine Familie ist kein Staffellauf, in dem ein Beruf wie ein Staffelholz weitergegeben wird«, sagte ich.

»Meinem Vater kann ich das aber nicht sagen«, erwiderte Michael. »Er ist ein sentimentaler Mensch, der hebräische Ausdrücke benutzt wie zerbrechliche Teile eines kostbaren Porzellanservices. Erzähl’ mir jetzt was über deine Familie.«

Ich erzählte ihm, daß mein Vater 1943 gestorben sei. Er war ein schweigsamer Mensch. Er pflegte mit Leuten zu reden, als gelte es, sie zu beruhigen und eine Zuneigung zu verdienen, die er eigentlich nicht verdiente. Er hatte einen Laden, in dem er Rundfunkgeräte und elektrische Artikel verkaufte und reparierte. Seit seinem Tod lebte meine Mutter mit meinem älteren Bruder Emanuel in Kibbuz Nof Harim. »Abends sitzt sie mit Emanuel und seiner Frau Rina zusammen beim Tee und versucht, deren kleinem Sohn Manieren beizubringen, denn seine Eltern gehören einer Generation an, die gute Manieren verabscheut. Tagsüber schließt sie sich in einem kleinen Zimmer am Rande des Kibbuz ein und liest Turgenjew und Gorki auf russisch, schreibt mir Briefe in gebrochenem Hebräisch, strickt und hört Radio. Das blaue Kleid, das dir heute morgen so gut gefiel – meine Mutter hat es gestrickt.«

Michael lächelte.

»Deine Mutter und mein Vater würden sich vielleicht gern kennenlernen. Sie hätten sich bestimmt viel zu erzählen. Nicht so wie wir, Hannah – wir sitzen hier und reden über unsere Eltern. Langweilst du dich?«, fragte er besorgt, und während er fragte, zuckte er zusammen, als hätte er sich mit dieser Frage verletzt.

»Nein«, sagte ich. »Nein, ich langweile mich nicht. Mir gefällt es hier.«

Michael fragte, ob ich das nicht nur aus Höflichkeit gesagt habe. Ich bestand darauf. Ich bat ihn, mehr über seinen Vater zu erzählen. Ich sagte, mir gefiele die Art, wie er redete.

Michaels Vater war ein einfacher, bescheidener Mann. Seine Abende verbrachte er aus freien Stücken damit, den Holoner Arbeiterklub zu leiten. Zu leiten? Er stelle nur Bänke auf, lege Schriftstücke ab, vervielfältige Informationen, sammle nach den Sitzungen die Zigarettenkippen auf. Unsere Eltern würden sich vielleicht gern kennenlernen... Oh, das hatte er bereits gesagt. Er bat um Verzeihung, daß er sich wiederhole und mich langweile. Welches Fach hatte ich an der Universität belegt? Archäologie?

Ich erzählte ihm, daß ich in einem Zimmer bei einer orthodoxen Familie in Achvah wohnte. Vormittags arbeite ich als Erzieherin in Sarah Zeldins Kindergarten in Kerem Avraham. Nachmittags besuche ich Vorlesungen über hebräische Literatur. Aber ich sei erst im ersten Studienjahr.

»Studentenmädchen, kluges Mädchen.« Bemüht, witzig zu sein, und ängstlich darauf bedacht, Gesprächspausen zu vermeiden, suchte Michael bei einem Wortspiel Zuflucht. Doch die Pointe blieb unklar, und er suchte nach einem besseren Ausdruck. Unvermittelt hörte er auf zu reden und machte einen neuen wütenden Versuch, seine störrische Pfeife in Brand zu setzen. Seine Verlegenheit machte mir Spaß. Damals fühlte ich mich noch abgestoßen vom Anblick jener rauhen Männer, die meine Freundinnen damals anzubeten pflegten: bärenstarke Palmach-Männer, die sich mit einem Sturzbach trügerischer Freundlichkeiten auf einen stürzten; grobschlächtige Traktorfahrer, die staubbedeckt aus dem Negev kamen wie Mordbrenner, die die Frauen einer gefallenen Stadt mit sich schleppten. Ich liebte die Verlegenheit des Studenten Michael Gonen an dem Winterabend im Café Atara.

Ein berühmter Wissenschaftler betrat das Café in Begleitung zweier Frauen. Michael beugte sich vor und flüsterte mir seinen Namen ins Ohr. Fast hätten seine Lippen mein Haar gestreift. Ich sagte:

»Ich durchschaue dich. Ich kann deine Gedanken lesen. Du fragst dich: ›Was wird als nächstes passieren? Wie wird es weitergehen?‹ Hab ich recht?«

Michael errötete plötzlich wie ein Kind, das man beim Stehlen von Süßigkeiten erwischt.

»Ich habe noch nie eine feste Freundin gehabt.«

»Noch nie?«

Gedankenverloren schob Michael seine leere Tasse weg. Er sah mich an. Tief verborgen unter seiner Schüchternheit lauerte versteckter Spott in seinen Augen.

»Bis jetzt!«

Eine Viertelstunde später verließ der berühmte Wissenschaftler mit einer der beiden Frauen das Café. Ihre Freundin setzte sich an einen Tisch in einer Ecke und zündete sich eine Zigarette an. Ihr Gesichtsausdruck war bitter.

Michael meinte:

»Die Frau ist eifersüchtig.«

»Auf uns?«

»Auf dich vielleicht.« Das war ein Rückzugsversuch. Er fühlte sich unbehaglich, weil er sich zu sehr anstrengte. Wenn ich ihm nur sagen könnte, daß ich ihm seine Anstrengungen hoch anrechnete. Daß ich seine Finger faszinierend fand. Ich konnte nicht sprechen, hatte aber Angst davor, zu schweigen. Ich sagte Michael, daß es mir Spaß mache, die Berühmtheiten Jerusalems, die Schriftsteller und Gelehrten kennenzulernen....

Erscheint lt. Verlag 11.7.2016
Übersetzer Gisela Podlech-Reisse
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 50plus • Abraham-Geiger-Preis 2017 • Belletristische Darstellung • Best Ager • Ehe • Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1992 • Generation Gold • Geschichte 1950-1960 • Golden Ager • Heine-Preis der Landeshauptstadt Düsseldorf 2008 • insel taschenbuch 4005 • Internationaler Literaturpreis – Haus der Kulturen der Welt 2015 • Israel • IT 4005 • IT4005 • Mount Zion Award 2017 • Rentner • Rentnerdasein • Ruhestand • Senioren
ISBN-10 3-458-73165-2 / 3458731652
ISBN-13 978-3-458-73165-8 / 9783458731658
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