Humanistische Reflexionen. (eBook)

eBook Download: EPUB
2016 | 1., Originalausgabe
470 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74486-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Humanistische Reflexionen. - Julian Nida-Rümelin
Systemvoraussetzungen
21,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Ein recht verstandener Humanismus ist die Antwort auf die aktuelle Unordnung der Welt - so lautet die Zentralthese des neuen Buches von Julian Nida-Rümelin, der unter »Humanismus« weit mehr versteht als eine Geisteshaltung oder gar das angestaubte Relikt längst vergangener Zeiten. Humanismus ist vor allem eine Praxis der Menschlichkeit und damit die einzige Hoffnung auf eine friedliche, gerechte und prosperierende Weltgesellschaft der Zukunft. Damit der Humanismus seine Prägekraft zurückgewinnt, die er in einigen Phasen der Weltgeschichte hatte, muss er revitalisiert, muss er von Grund auf erneuert werden. Die Texte in diesem Band wollen dazu einen Beitrag leisten.

<p>Julian Nida-Rümelin lehrt Philosophie und politische Theorie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Im Suhrkamp Verlag sind zuletzt erschienen: <em>Demokratie als Kooperation</em> (stw 1430), <em>Ethische Essays</em> (stw 1565) und <em>Philosophie und Lebensform</em> (stw 1932)</p>

472. Begründung in der philosophischen Ethik[*]


Die These, die in diesem Artikel verteidigt werden soll, lautet: Ethische Begründungen unterscheiden sich nicht von Begründungen in anderen Bereichen. Durch diese These erfährt der normative Objektivismus eine epistemologische Unterstützung.

I. Moralische Phänomene


Nach einem verbreiteten philosophischen Sprachgebrauch ist die Ethik die Theorie der Moral – allerdings nicht die empirische, sondern die normative Theorie der Moral. Die empirische gehört zur Psychologie, Soziologie oder Ethnologie. Diejenigen Strömungen der Philosophie, die der Auffassung sind, es gäbe nur zwei Arten von Wahrheit, empirische und logische, sind daher gezwungen, die Ethik auf die logische Analyse zu beschränken. In den verschiedenen Spielarten des ethischen Nonkognitivismus wirkt dieses erkenntnistheoretische Dogma bis in die Gegenwart. Sofern die Begründung einer Behauptung oder einer Überzeugung darin besteht, die Wahrheit dieser Behauptung oder Überzeugung plausibel zu machen, kann es demnach keine ethische Begründung geben. Der ethische Nonkognitivismus hat sich allerdings bemüht, andere – was die Frage der Wahrheit angeht, schwächere, in anderer Hinsicht aber meist stärkere – ethikspezifische Formen von Begründung zu entwickeln. Sie sollen hier nicht diskutiert werden: So interessant die Einsichten sind, die in diesen Konzeptionen enthalten sind, so liegt doch auf der Hand, dass dieses Projekt insgesamt seinen Sinn verliert, wenn ethische Begründungen ganz gewöhnliche Begründungen sind.

Geeignete Gegenstände von Begründungen sind Behauptungen, Urteile, Hypothesen, Annahmen, Vermutungen, Überzeugungen. Eine Behauptung begründen heißt Gründe für die Wahrheit dieser Behauptung anführen. Eine Vermutung begründen heißt Gründe dafür anführen, dass der Inhalt dieser Vermutung wahrscheinlich 48wahr ist. Man spricht aber auch von der Begründung bestimmter Gefühle, wie zum Beispiel der Furcht. Emotionen, die auf bestimmten Annahmen oder Vermutungen beruhen, sind jedenfalls in dem harmlosen Sinn begründbar, in dem diese Annahmen oder Vermutungen begründbar sind. Ob es darüber hinaus eine (genuine) Begründung von Emotionen gibt, muss uns hier noch nicht beschäftigen.

Es gibt eine Vielfalt moralischer Phänomene: Gefühle, Dispositionen, Einstellungen, Tugenden, Handlungen, Entscheidungen, Äußerungen, Behauptungen, Urteile, Überzeugungen … Ethische Theorien unterscheiden sich unter anderem darin, welchem Typus moralischer Phänomene sie ein Primat zusprechen. Dieses Primat nimmt, wenn auch bisweilen nur implizit, die Form einer Reduktionsthese an. So entwickeln handlungsethische Ansätze Kriterien für moralisch richtige Handlungen und beurteilen Tugenden danach, ob sie geeignet sind, den Vollzug richtiger Handlungen zu fördern. Wenn ich nun behaupte, dass der Gegenstand von Begründungen in der Ethik moralische Urteile (Behauptungen, Hypothesen, Thesen, Sätze) und Überzeugungen (Vermutungen, Annahmen) – in der Sprache der Sprechakttheorie »Assertiva« und ihre intentionalen Entsprechungen – sind, dann ist dies nicht im Sinne einer Reduktionsthese gemeint: Ich will damit nicht sagen, dass sich die Frage nach den moralisch angemessenen Tugenden, Handlungsmotiven, Entscheidungen usw. auf die Frage nach richtigen moralischen Urteilen reduzieren lässt. Dies wäre ein intellektualistisches Missverständnis der Moral.

Moralische Überzeugungen haben häufig eine handlungsleitende Kraft. Es kommt vor, dass man etwas nicht tut, weil es den eigenen moralischen Überzeugungen widerspricht, obwohl man weiß, dass es im eigenen Interesse ist. Die handlungsleitende Rolle gilt als Spezifikum des Normativen. Dieses Spezifikum darf jedoch nicht zu eng interpretiert werden. Eine Person kann eine bestimmte These zu Fragen der Steuergerechtigkeit vertreten, ohne dass ihre eigenen Handlungen oder die Handlungen anderer Personen davon beeinflusst werden oder ihre Beeinflussung auch nur beabsichtigt ist. Und umgekehrt kann ein fraglos deskriptives Urteil wie »Es regnet«, unmittelbar handlungsleitend sein und etwa zum Aufspannen eines Regenschirms veranlassen.

Gegenstand ethischer Begründungen sind moralische Urteile 49bzw. Überzeugungen, die in moralischen Urteilen ihren Ausdruck finden. Nicht alle moralischen Urteile scheinen allerdings begründungsfähig zu sein. Dies haben sie mit außermoralischen Urteilen gemeinsam. Wenn zwei Personen vor einem Baum stehen und die eine zur anderen sagt, »Dies ist ein Baum«, dann bedarf die geäußerte Überzeugung wohl meist keiner näheren Begründung, wohl aber die Äußerung dieser Überzeugung. Die Äußerung könnte der Sprecher mit dem Hinweis begründen, er habe vermutet, der Hörer hielte den Baum für einen Strauch. In diesem Fall mag dann auch die Überzeugung selbst begründungsbedürftig werden. Der Hörer könnte nach den zugrunde gelegten Kriterien der Baumeigenschaft fragen. Unter normalen Bedingungen gehört die Proposition (p), dass dort ein Baum ist, zu den gemeinsamen Überzeugungen zweier Personen, die vor einem Baum stehen: Jede der beiden Personen ist überzeugt, dass p, jede ist überzeugt, dass die andere Person überzeugt ist, dass p, jede (x) ist überzeugt, dass die andere Person überzeugt ist, dass sie (x) überzeugt ist, dass p etc. Die Äußerung dieser Überzeugung ändert an diesem epistemischen Zustand nichts und ist daher unter normalen Bedingungen nicht sinnvoll. Da unter normalen Bedingungen[1] auch keine Informationen denkbar sind, die die subjektive Gewissheit, dass p, erhöhen, ist p (genauer, die Überzeugung, dass p, die Behauptung, dass p) nicht begründungsfähig und, da p ohnehin gewiss ist, auch nicht begründungsbedürftig.

Unser Alltagswissen hat einen hohen Anteil von Propositionen dieser Art. Dennoch ist auch dieser Anteil vor Revisionen nicht gefeit. Das geozentrische Weltbild gehörte über viele Jahrhunderte zu den Alltagsgewissheiten und konnte sich auf einen reichen Fundus von Erfahrungsdaten stützen; dennoch musste es schließlich dem heliozentrischen Weltbild weichen. Das neue Weltbild konnte sich allerdings nur deshalb durchsetzen, weil es das Gros der Alltagserfahrungen nicht in Frage stellte, sondern nur neu interpretierte. Eine Theorie, die nicht im Einklang damit ist, dass ich jetzt vor meinem Notebook sitze und einen Text abfasse, oder bezweifelt, dass ich von vier Wänden umgeben bin etc., hat keine Chance von mir akzeptiert zu werden, wie eindrucksvoll ihre sonstige Begrün50dungsleistung auch sein mag. Unser Überzeugungssystem enthält weitgehend revisionsresistente Elemente. Zu diesen gehören neben empirischen auch normative und speziell moralische. Die Überzeugung, dass es moralisch unzulässig wäre, jetzt den nächstbesten Passanten zu erschlagen, gehört dazu ebenso wie meine Überzeugung, dass dort ein Baum steht. Theorien müssen sich in der Regel an diesen Elementen bewähren, auch wenn sie unter bestimmten Bedingungen imstande sind, diese zu revidieren.

II. Die allgemeine Form von Begründungen


Moralische Überzeugungen werden in der gleichen Weise begründet wie außermoralische. Es ist daher sinnvoll, einen Blick auf die Struktur von Begründungen generell zu werfen. Ein Beispiel für eine Begründung mit einer schlichten Struktur: Jemand (i) ist überzeugt, dass p. Jemand anderes (j) bezweifelt p. i und j sind sich einig, dass q. Es gelingt i zu zeigen, dass p aus q logisch gefolgert werden kann. j akzeptiert die Gültigkeit der Ableitung und ist damit vor die Alternative gestellt, q und p zu akzeptieren (von q und p überzeugt zu sein) oder p weiterhin abzulehnen, aber nun im Gegensatz zur epistemischen Ausgangssituation auch q abzulehnen (überzeugt zu sein, dass q falsch ist). Im ersten Fall ist die Begründung von p durch i gegenüber j gelungen. Im zweiten ist sie in einem bestimmten, wir wollen sagen »diskurspragmatischen« (oder kurz »pragmatischen«) Sinne misslungen. Dies schließt nicht aus, dass p zutrifft und dass i über eine gute Begründung für p verfügt. Es könnte sogar sein, dass diese gute Begründung genau in der Ableitung von p aus q besteht, denn q könnte zum Beispiel eine Proposition sein, die vernünftige Menschen nicht bezweifeln – sei es, dass q seinerseits gut begründet ist oder dass q auch ohne weitere Begründung gewiss erscheint. Die hier implizit postulierte Existenz einer guten, von der konkreten Diskurssituation unabhängigen Begründung setzt Kriterien epistemischer Rationalität voraus. Eine gute Begründung zeichnet sich dadurch aus, dass sie eine pragmatisch wirksame Begründung gegenüber einer (epistemisch) rationalen und wohlinformierten Person wäre.

Komplexere Begründungen weisen ein höheres Maß an Theoriebeladenheit auf. Theorien verknüpfen Propositionen mitein51ander, die zuvor unabhängig voneinander schienen. Da Theorien universelle (in vielen Fällen mathematisch präzisierte funktionale) Abhängigkeiten formulieren, eignen sie sich zur Begründung all ihrer Implikationen, unter ihnen auch singuläre Propositionen. Der Logische Empirismus hatte zu Anfang angenommen, dass Theorien durch eine induktive (logische) Relation zwischen einer Menge von Einzeldaten (Protokollsätzen) und der betreffenden Hypothese begründet werden. Die singulären, in Protokollsätzen formulierten Propositionen hätten demnach einen begründenden und die Hypothese einen begründeten Status. Die letztlich vergebliche Bemühung, dieses Programm überzeugend auszuformulieren, hat den Blick geschärft für die Komplexität wissenschaftlicher Begründung. Die für das Gelingen des Projektes der rationalen Rekonstruktion...

Erscheint lt. Verlag 11.7.2016
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Menschlichkeit • Philosophie • STW 2180 • STW2180 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2180 • Weltgesellschaft
ISBN-10 3-518-74486-0 / 3518744860
ISBN-13 978-3-518-74486-4 / 9783518744864
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,5 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Fünf Einwände und eine Frage

von Winfried Schröder

eBook Download (2023)
Felix Meiner Verlag
12,99