Frankfurter Vorlesungen (eBook)

Probleme zeitgenössischer Dichtung
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2016 | 1. Auflage
128 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-97459-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Frankfurter Vorlesungen -  Ingeborg Bachmann
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Im Wintersemester 1959/60 hielt Ingeborg Bachmann im Rahmen einer Vortragsreihe an der Frankfurter Universität fünf Vorlesungen zu Fragen der Poetik. Diese essayistischen Arbeiten sind ein integraler Bestandteil ihres dichterischen Schaffens. In den Vorlesungen zu »Problemen zeitgenössischer Dichtung« formuliert Ingeborg Bachmann die Quintessenz ihrer ästhetischen Grundüberzeugungen, ihre Sprachmoral. Die Fragen »Warum schreiben? Wozu?« und »Warum wollen wir Veränderung durch Kunst?« beantwortet sie mit dem Postulat eines »moralischen, erkenntnishaften Rucks«, eines »neuen Geistes«, der die neue Sprache bewohnen müsse. Sie untersucht Gedichte von Eich, Celan, Enzensberger, Kaschnitz und anderen, befasst sich mit der Problematik des »schreibenden Ichs«, dem »Umgang mit Namen« und der Aufgabe der »Literatur als Utopie«. Es sind Schlüsseltexte für das literarische Selbstverständnis der Autorin sowie der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts.

Ingeborg Bachmann gilt als eine der bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen und Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts.  Sie wurde am 25. Juni 1926 in Klagenfurt, Österreich geboren. Bachmanns Karriere als Schriftstellerin Nach ihrem ersten Studienjahr in Innsbruck und Graz (1945/46) gelang ihr mit der Erzählung »Die Fähre« die erste Veröffentlichung. Sie setzte ihr Studium der Philosophie, Germanistik und Psychologie in Wien fort, wo sie unter anderen Paul Celan, Hans Weigel, Ilse Aichinger und Victor Kraft traf. Nach ihrer Promotion mit einer Dissertation über »Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers« im Jahr 1949 veröffentlichte sie erste Gedichte in der Zeitschrift Lynkeus und Erzählungen in der Wiener Tageszeitung. Bachmann arbeitete auch an einem ersten, unveröffentlichten und verschollenen Roman »Stadt ohne Namen«. Nach ihrem Studium arbeitete sie für den amerikanischen Sender Rot-Weiß-Rot und schrieb Dramen, Rundfunkessays und Hörspiele, darunter »Ein Geschäft mit Träumen« (1952), »Die Zikaden«(1955) und»Der gute Gott von Manhattan« (1958). Bachmanns Überzeugung, dass nur Literatur und Kunst die existenziellen Grunderlebnisse des modernen Menschen ausdrücken können, entstand aus der Perspektive der Wiener Schule, der neopositivistischen Wissenschaftstheorie ihres Doktorvaters Victor Kraft und der Sprachkritik Ludwig Wittgensteins. Ihre Beschäftigung mit Viktor E. Frankls psychotherapeutischer Forschung und ihrer Freundschaft mit dem Dichter Paul Celan, dessen Familie zu den Opfern des Holocaust gehörte, führten zu einer »tiefgreifenden Verwandlung ihres Denkens und Schreibens« im Sinne eines kritischen Ethos. Lyrik und Musik Bachmanns erster Lyrikband »Die gestundete Zeit« (1953), für den sie den renommierten Preis der Gruppe 47 erhielt, appellierte an das kritische Gewissen der Zeitgenossen angesichts des Kalten Krieges und der gesellschaftlichen Restauration. In ihrem zweiten Gedichtband »Anrufung des Großen Bären«(1956) kehrte sie zu traditionelleren lyrischen Formen zurück. Bachmanns Synthese von Zeitkritik, literarischer Moderne und lyrischer Tradition bildete die Grundlage ihres raschen Aufstiegs zur wichtigsten deutschsprachigen Dichterin der Nachkriegszeit. Auf Einladung des Komponisten Hans Werner Henze brach Bachmann im Sommer 1953 nach Italien auf, um dort eine Existenz als freie Schriftstellerin zu begründen. Die Freundschaft und Zusammenarbeit mit Henze, der sie insbesondere in die Welt der Oper einführt, schlägt sich u.a. in den Opernlibretti »Der Prinz von Homburg« (1958) und »Der junge Lord« (1965) sowie in theoretischen Überlegungen zum Verhältnis von Musik und Dichtung nieder. Die Rolle der Literatur in der Nachkriegszeit In den zehn Jahren nach dem Aufbruch aus Wien lebte sie in Rom, München, Neapel und Zürich und eröffnete im Wintersemester 1959/60 die Frankfurter Vorlesungen zur Problematik zeitgenössischer Dichtung. Dabei fasste sie ihre poetologischen Überlegungen erstmals systematisch zusammen und verortete sie im Prozess der Moderne literarhistorisch. Bachmann vertraute der Fähigkeit der Literatur, angesichts der verzweiflungsvollen »Dunkelhaft der Welt« unsere Möglichkeiten zu erweitern. Diese Haltung spiegelt sich in ihren Erzählungen des Bandes »Das dreißigste Jahr« wider. Beziehung mit Max Frisch Zwischen 1958 und 1962 waren sie das Traumpaar der deutschen Literatur. Die Trennung von Max Frisch 1962 fiel mit einer Lebenskrise zusammen, die den Ausgangspunkt für einen literarischen Neuansatz bildete. Die Erfahrungen von Schmerz und existenziellen Krisen fanden sich u.a. in ihrem »Todesarten«-Projekt. Am 17. Oktober 1973 starb Ingeborg Bachmann im Alter von 47 Jahren in Rom an den Folgen eines Brandunfalls.

Fragen und Scheinfragen


Meine Damen und Herren,

Neugier und Interesse, die Sie in diesen Saal geführt haben, glaube ich zu kennen. Sie entspringen dem Verlangen, über die Dinge etwas zu hören, die uns beschäftigen, also Urteile, Meinungen, Verhandlungen über Gegenstände, die uns an sich, in ihrem Vorhandensein, genügen müßten. Also etwas Schwächeres, denn alles, was über Werke gesagt wird, ist schwächer als die Werke. Das gilt, meine ich, auch für die höchsten Erzeugnisse der Kritik und [von] dem, was von Zeit zu Zeit grundsätzlich und grundlegend gesagt werden wollte und immer wieder gesagt werden will. Es wird zur Orientierung gesagt, und wir verlangen es zu hören, der Orientierung wegen. Nicht zuletzt haben die Schriftsteller selber immer das größte Interesse bewiesen für die Zeugnisse anderer Schriftsteller, für Tagebücher, Arbeitsbücher, Briefwechsel und die theoretischen Mitteilungen, neuerdings mehr und mehr für die Enthüllung von »Werkstattgeheimnissen«. Vor dreißig Jahren noch teilte der russische Dichter Majakowskij seinen Lesern mit, sie hätten das Recht, von den Dichtern zu verlangen, daß sie die Geheimnisse ihres Metiers nicht ins Grab mitnähmen. Nun, die Gefahr besteht heute kaum mehr, besonders die Lyriker geizen nicht mit Kundmachungen, volle Einigkeit herrscht aber nicht …: ein Gedicht wird gemacht, ein Gedicht wird geahnt, gebraut, gebaut, montiert, auch bei uns.

Wie dem auch sei, Sie werden reichlich aufgeklärt, und es werden Ihnen sogar Geheimnisse verraten, die gar keine sind. So vielerlei Neugier da ist – so vielerlei Enttäuschung ist möglich, und all dies mag uns vorläufig zur Entschuldigung dienen für die falschen Hoffnungen, die Sie sich machen und die ich mir mache, indem ich, Mut fassend, meine, daß sich von diesem Lehrstuhl aus zwar nichts lehren, vielleicht aber etwas erwecken läßt – ein Mitdenken von der Verzweiflung und der Hoffnung, mit der einige wenige – oder sind es schon viele? – mit sich selber und der neuen Literatur ins Gericht gehen.

»Fragen zeitgenössischer Dichtung« – dieser Titel wurde gewählt für eine erste Reihe von Vorlesungen, und als ich mit der Arbeit beginnen wollte, bis zuletzt fast unfähig, einen Ansatzpunkt zu finden für diesen Versuch, der mir nicht geheuer ist, überlegte ich noch einmal den Titel. Sollten denn hier Fragen behandelt werden, die schon gestellt sind, welche übrigens, und wo gestellt und von wem? Oder sollen gar Antworten gegeben werden? Kennen Sie denn die Autoritäten, glauben Sie denn an solche, die da Fragen austeilen und Antworten liefern? Und vor allem, um welche Fragen könnte es sich eigentlich handeln? Soll man sich kümmern um die Fragen, wie sie die Tagespresse in ihren Feuilletons hin und wieder aufwirft, oder um diejenigen, die auf Akademien und Kongressen behandelt werden, oder soll man, noch fortschrittlicher gestimmt, sich um die Rundfragen des Rundfunks oder der literarischen Weihnachtsrätselecken bekümmern? Um nur einige zu nennen: »Soll das Material kalt behandelt werden?« »Ist der psychologische Roman tot?« »Ist die Chronologie im Roman noch möglich im Zeitalter der Relativitätstheorie?« »Muß die neue Dichtung so dunkel sein?« »Die Dramaturgie von Fall zu Fall.«

Oder sollen die weniger lärmigen, weniger attraktiven Fragen, wie sie in der Literaturwissenschaft gestellt werden, berücksichtigt werden? Darf man sich, ungelernt, ohne fachliche Kenntnis, trauen, dort Hilfe zu suchen? Da sind die Rettungsringe bereit gemacht – einfühlende Interpretation, Historismus, Formalismus, sozialistischer Realismus. Wer möchte da nicht gerettet sein, zu niemands Schaden! Auch die Psychologie, die Psychoanalyse, Existenzphilosophie, die Soziologie bieten sich an, haben Fragen an die Literatur zu stellen. Überall Fundiertes, Standorte, Gesichtspunkte, Devisen, Merkblätter, geistesgeschichtliche Stichworte, unter denen etwas zu finden ist – und wie es zu finden ist. Nur das Stichwort fehlt für den, der im Augenblick selbst vorzutreten hat und alle die Werke, die Zeiten, hinter sich liegen fühlt, auch die jüngstgeschaffenen, die jüngstvergangenen, und er fürchtet, mangels Gelehrsamkeit, sich auf einige wenige eigene Erfahrungen mit der Sprache und den Gebilden, die mit dem Stempel Literatur versehen worden sind, zurückziehen zu müssen. Und doch ist ja die Erfahrung die einzige Lehrmeisterin. Wie gering sie auch sein mag – vielleicht wird sie nicht schlechter beraten als ein Wissen, das durch so viele Hände geht, gebraucht und mißbraucht oft, das sich oft verbraucht und leer läuft, von keiner Erfahrung erfrischt.

Für den Schriftsteller gibt es nämlich vor allem Fragen, die scheinbar außerhalb der literarischen liegen, scheinbar, weil ihre glatten Übersetzungen in die Sprache für die literarischen Probleme, mit denen man uns bekannt macht, sie uns als sekundär empfinden lassen; manchmal bemerken wir sie nicht einmal. Es sind zerstörerische, furchtbare Fragen in ihrer Einfachheit, und wo sie nicht aufgekommen sind, ist auch nichts aufgekommen in einem Werk.

Wenn wir zurückblicken auf das vergangene halbe Jahrhundert, auf seine Literatur mit den Kapiteln Naturalismus und Symbolismus, Expressionismus, Surrealismus, Imagismus, Futurismus, Dadaismus und einiges, was in kein Kapitel passen will, so kommt es uns vor, als entwickelte sich die Literatur aufs wunderbarste, wenn auch etwas widersprüchlich, ganz wie immer, wie früher – erst Sturm und Drang, dann Klassik, dann Romantik und so fort, es macht keine so großen Schwierigkeiten, sich zu verständigen darüber; nur die Gegenwart läßt einiges zu wünschen übrig, man sieht nicht recht, wie es sich entwickelt, wohin es will, nichts mehr wird klar, nicht einmal die Richtung oder Richtungen lassen sich verläßlich angeben. Es ergeht uns wie mit der Gegenwartsgeschichte; weil wir zu nahe daran sind, überblicken wir nichts, erst wenn die Phrasen einer Zeit verschwinden, finden wir die Sprache für eine Zeit und wird Darstellung möglich. Auch von den heutigen Phrasen werden uns nur die kräftigsten bewußt. Hätten wir das Wort, hätten wir Sprache, wir bräuchten die Waffen nicht.

Was die Literatur anbelangt, brauche ich Ihnen ja nur ins Gedächtnis zu rufen, wovon in den vergangenen Jahren am meisten die Rede war und zur Zeit am meisten die Rede ist. Von der einen Seite hören Sie das Wehklagen über den Verlust der Mitte, und die Etiketten für diese mittelosen Literaturprodukte lauten: alogisch, zu kalkuliert, irrational, zu rational, destruktiv, antihumanistisch – also alles erdenklich negative Kennzeichnungen. Dem gegenüber steht von ihren Fürsprechern ein Vokabular, das in hohem Maß dem andern ähnlich ist, die negativen Kennzeichnungen werden freiwillig übernommen, oder es werden neue erschaffen, also gottlob, heißt es, und ja, begrüßen wir es, das Alogische, Absurde, Groteske, anti-, dis- und de-, Destruktion, Diskontinuität, es gibt das Antistück, den Anti-Roman, vom Anti-Gedicht war noch nicht die Rede, vielleicht kommt es noch. Daneben laufen behäbigere traditionellere Produkte her, von einer traditionelleren Kritik begleitet, die auf Vokabeln hält wie: Gestaltetes, Schöpferisches, Wesentliches. Sie können beliebig ergänzen. Und aus der aufgeregten, hoffnungsträchtigen Zeit direkt nach dem Krieg stoßen uns auch noch manchmal Worte auf wie Kahlschlag, Nullpunkt, Kalligraphie, Existenzielles, Seinslagen, Vorder- und Hintergründiges, und zuerst beigewohnt hat unsere Generation dem Aufflackern des Kampfes zwischen der engagierten Literatur und dem l’art pour l’art, diesmal als direkte Folge der politischen Katastrophe in Deutschland und der damit verbundenen Katastrophen in den heimgesuchten Nachbarländern, genährt von der Ahnung neuer künftiger Katastrophen.

Man hat also die Wahl, bräuchte sich nur mit Begeisterung über das eine, mit Abscheu über das andere zu äußern und sich auf die einem zusagende Seite zu schlagen. Vielleicht fragen Sie sich, von welcher Stelle aus man Sie an dem Schauspiel des Kampfs teilzunehmen zwingen wird, oder ob Sie gar mit einer neutralen, objektiven Betrachtung hingehalten werden sollen – um es allen recht zu machen, um nirgends anzuecken. Denn jeder Schriftsteller befindet sich in einer verwickelten Lage, ob er sich’s eingestehen mag oder nicht, er lebt in einem Netz von Gunst und Ungunst, und es ist unmöglich, dafür blind zu sein, daß die Literatur heute eine Börse ist. Aber dieses Wort ist nicht von mir und überhaupt nicht von heute, sondern von Hebbel, Friedrich Hebbel, niedergeschrieben im Jahr 1849. Hierin ändern sich die Zeiten nicht so sehr.

Aber lassen Sie uns die Parteiischkeit wie die Neutralität verwerfen und ein Drittes versuchen: eine hindernisvolle Herausführung aus der babylonischen Sprachverwirrung.

Die erste und...

Erscheint lt. Verlag 24.6.2016
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1959/60 • Buch • Bücher • Dichtung • Frankfurter Universität • Frankfurter Vorlesungen • Ingeborg Bachmann • Kanon • Klassiker • Literatur • Literatur nach 45 • Poetik • Poetikvorlesungen • Vorlesungen
ISBN-10 3-492-97459-7 / 3492974597
ISBN-13 978-3-492-97459-2 / 9783492974592
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