Flieg, mein elektrischer Fisch -  Bianca Döring

Flieg, mein elektrischer Fisch (eBook)

Prosa
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2016 | 1. Auflage
144 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7412-3657-0 (ISBN)
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In ihrer neuen Prosa leuchtet Bianca Döring ein inneres Feld der Dunkelheit, Einsamkeit und Verstörung aus - ergreifende poetische Bilder formen sich zur dramatischen Geschichte einer Weltverlorenheit: Mit ihrem Hunger nach Leben, nach Liebe, nach Anwesenheit und Anwesendseinkönnen gelingt es der Protagonistin Carla, sich aus einem Raum der Kälte und der Gewalterfahrungen heraus in ein Dasein zu bewegen, in dem sie allmählich Halt und so etwas wie Glück findet - ein Weg, der immer wieder von tiefen Verwirrungen heimgesucht wird und ihr einen mutigen Balanceakt zwischen Verzweiflung und Hoffnung abverlangt.

Bianca Döring, geboren 1957 in Schlitz/Vogelsberg, lebt in Berlin. Sie studierte Philosophie, Germanistik, Musik, Polytechnik und Erziehungswissenschaften in Trossingen, Marburg und Kassel. Arbeit in der Altenpflege, in Musikschulen und in Fabriken. Künstlerische Tätigkeit in den Bereichen Theater, Performance, Musik, Malerei und Literatur. Döring erhielt mehrere Stipendien und Förderpreise, sie ist Mitglied des PEN-Zentrum Deutschland. Buchveröffentlichungen zuletzt: Hallo Mr. Zebra, Roman (dtv Premium, München 1999); Schierling und Stern, Gedichte (zu Klampen, Lüneburg 1999); Little Alien, Roman (dtv Premium, München 2000); Ging ich durch Stein und Luft, Gedichte (Horlemann, Angermünde 2015).

Exil


Jahre. Jahrzehnte. Nacht um Nacht, schlaflos in einer Kammer, langgestreckt auf der abgesessenen Couch, und die Bilder des TV-Gerätes anflackern lassen gegen eine noch sprachlosere Wüste, in der man selbst zur Wüste zerfällt, und gegen plötzliche, unverständliche Bilder, die der Kopf hervorbringt, wahrscheinlich der Kopf, oder etwas anderes, aber was? Eine Macht, eine fremde, bösartige Macht, aber wo ist sie; Bilder, die aus dem Kopf heraustreten, die rundherum die schwarze Luft beherrschen, eine körperlose Szenerie, mitten im Körper, um ihn herum, überall, der ganze Raum bevölkert von der unheimlichen, wesenlosen Anwesenheit einer personifizierten Abwesenheit, die schließlich von allen Seiten einen unaufhörlichen Angriff führt gegen den Herzschlag, den Atem.

Sich hineinkrachen lassen in die Faszination von Formen und Farben, die sich auf der Mattscheibe drehen, um den Angriff zu leugnen; in ihren Veränderungen mitfließen, dem Ineinanderwirbeln von milden, frohen Figuren, die man nicht zu verstehen braucht, die ihre bunte Milch ausschütten, in die man einfach fallen kann, aufgehen in diesen Friedenszeichen, in den Testbildern und Kamerafahrten der nächtlichen Sendepausen, und sie werden zum Einzigen, was wichtig ist, schön ist, gut ist, worin man sein kann, es aushalten kann, gerettet ist aus dem grenzenlosen Schweigen, dem stumpfen toten Nichts, den Attacken der Invasionen und Verfolgungen. Plötzlich und endlich ein Ort, ein abstruser, scheinbar sinnloser Ort, eine erhaschte Insel, aus einem elektrischen Gerät, aus der übriggebliebenen Flimmerlandschaft von schlafenden Sendeanstalten. Deren gleichgültigen Reste aufsaugen wie Liebesbotschaften. Mit ihnen endlich eins sein.

Der nächste Morgen zeigt erneut auf die Welt, die sich nach Gesetzen bewegt, für die Carlas Bewegungen nicht ausreichen, sperrig bleiben. Könnten sich die Menschen nicht immer nur nachts begegnen, im Geheimen, in Formen, Farben, ineinanderfließendem Flüstern, könnte ich denn da nicht einmal sichtbar werden? Am Tag bleib ich unsichtbar, und die Schleusen, die geöffnet werden, der Strom, der losbricht, Tag um Tag, zerschlägt mich mit seinem ersten heranrollenden Ton.

Sie wissen nichts von diesen Invasionen. Die anderen. Sie wissen nicht, daß jeder Schritt ein mühseliger Kampf ist, darum, auf der Oberfläche einer allgemein angenommenen Übereinkunft zu bleiben, in ihrem Tageslicht, und darum, immerfort weiter herauszufinden, worin die Übereinkunft überhaupt besteht, da man Bewegungen, Vorgänge, selbst Worte nicht versteht, nicht einordnen, nicht verbinden kann mit irgend einer Sache, die man kennt; und sich zu zeigen mit einem wenigstens doch menschenähnlichen Gesicht. Sie scheinen nicht zu wissen, was es heißt, ein Brot zu kaufen, zu sagen: bitte, dort oben, dieses dunkelgraue Brot, ja, das bitte möchte ich, wieviel kostet es? Und dieser schmale Vorgang ist noch die geringste Übung von allen.

Oder wissen sie es?

Leben sie nicht alle in dieser wüsten Landschaft, und bemühen sich tagaus tagein, den Kampf zu führen, genau wie ich... Eine Menschheit, die trostlos und todmüde ist, verstört und ohne Anhaltspunkt, was dies für ein Spiel ist, das ganz einfach gespielt werden muß; die täglich untergeht und dagegen ankämpft, während der Henker auf das Regal zeigt, mit einem Messer, und in das Brot sticht, es aufspießt, und laut lacht aus dem Maul der blonden Verkäuferin, die nur freundlich sein wollte, und das Brot mit lautem Knall auf das Marmorimitat der Theke fallen läßt, so daß kein Zweifel besteht, das Brot ist aus Stein, und dennoch muß ich es kaufen, und essen, und wenn ich es dann esse, ist es vergiftet, und ich muß es fortwerfen in den Müll... Wie schaffen sie es nur, diese anderen, täglich so zu tun als lebten sie, und sogar zu lachen in diesem Untergang, wie bekommen sie es hin, acht oder mehr Stunden am Tag ihre Pflichten zu erfüllen, sogar mit wichtigen Gesichtern, sogar mit heftigen Argumenten, Überzeugungen, funkelnden Blicken, was in ihnen löst diese erstaunlichen Regungen aus, die sie an Bedeutsames zu ketten scheinen, das auf einem doch leeren, verödeten Planeten zu existieren scheint, eine Substanz, die Carla in sich nicht finden kann, ein Element, das sie auf dem Planeten nicht finden kann, und allein diese eine, kleine Pflicht, ein Brot zu kaufen sie schon an den Rand einer schrecklichen Zerstörung bringt, was also macht sie falsch, was will und will ihr nicht gelingen, was sie doch können augenscheinlich...

Manchmal trägt sie täglich eine Tüte Müll hinaus. Weil sie alles fortgeworfen hat, da es vergiftet ist. Es kostet Geld, auf Dauer. Oft hungert sie auch.

Dieser Aberwitz kann niemandem zugemutet werden. Sie verheimlicht die meisten Schrecklichkeiten. Und weiß nicht, warum sie darüber nicht hinwegkommen kann, daß das schwarzgraue Brot vergiftet ist, warum sie sterben würde, wenn sie es in den Mund nähme, in sich hineinnähme, in diese amöbenhafte Blase, die man einen Körper nennt, von dem ich nicht weiß, was er tut, was er kann oder nicht, ob er explodieren wird oder zusammenfallen oder wo er sich überhaupt befindet und ob er mit mir etwas zu tun hat. Das alles weiß sie nicht, während es heißt, daß alles ist, wie es sein soll, doch das kann sie nicht glauben. Niemand scheint sich je über solche Dinge einen einzigen Gedanken zu machen, nur Carla beschäftigt dieses ganze Zeug, unentwegt, heimlich; während die anderen längst ihr Brot, ganz nebenbei, gegessen haben, ihre Akten unter den Arm klemmen, zur Arbeit wandern oder weiß Gott wohin, geht Carla, tatsächlich genau wie sie, die Treppen zur U-Bahn hinunter, begrüßt jemanden im Vorbeigehen, sieht harmlos und normal aus wie sie, doch eine Tortur findet statt in ihrem Kopf, ihrem Leib, eine Kreuzigung, eine Umwälzung, die zu immer größeren Verheerungen führt, zwischen atemlosen Gedanken darüber, wo als nächstes harmloseres, ungiftigeres Brot zu besorgen sei, damit sie nicht verhungere, bis zum Abend.

Das Geld geht zur Neige. Sie kann sich kaum noch durchbringen. Oft fährt sie in rasender Geschwindigkeit durch Gedanken, die nur um diese eine Frage wirbeln: wo und wie in Gottes Namen in allernächster Zeit noch Geld aufzutreiben sei. Den Job als Lehrerin in einer Grundschule hat sie längst aufgegeben, statt dessen finanziert sie sich das Nötigste als freie Musikpädagogin. Sie arbeitet in einem winzigen Zimmer, das sie notdürftig hergerichtet hat und in dem sie kleine und große Laien empfängt, denen sie Klavierstunden angedeihen läßt. Es sind nur noch wenige Schüler, die sie empfängt und die sie aushält. Jeden Tag präpariert sie sich für diese ein oder zwei läppischen Stunden, in denen sie zu funktionieren hat. Sie muß sich eine Haut zulegen, die ihr katastrophales Inneres, welches nach allen Richtungen schlackert und weht, unsichtbar macht, es entweder ein- oder ausschließt und ihr irgendeine erkennbare menschenähnliche Sichtbarkeit verleiht, sie muß sie sich in mühseligen Schritten regelrecht aufkleben, aufnähen, in mehreren Schichten und immer wieder neu, weil sie immer wieder abzufallen droht. Wenn sie dann soweit ist, muß sie die Rolle durchhalten, die sich „Musikerzieherin“ nennt, muß sie durchspielen wie eine Schallplatte, die vor Unterrichtsschluß nicht zu Ende gehen darf, der Saphir darf nicht aus der Rille hüpfen, durch irgendwelche Unvorhersehbarkeiten. Sie gleitet in die Haut einer ehemaligen Hochschul-Bekannten, die sie für ihre Resolutheit und ihren Frohsinn bestaunt hat, und es tritt eine resolute, frohsinnige Figur in Erscheinung. Carla stellt sich neben sie und läßt diese Bekannte handeln, beobachtet sie mit seltsamem Gleichmut und muß achtgeben, nicht einzuschlafen vor Erschöpfung – die Figur entglitte ihr und es täte sich ein Krater auf, in den sie mitsamt des Schülers hinabstürzte. Oft ist sie vor Ablauf der Stunde so erschöpft, daß sie fürchtet, das zugewandte, engagiert dreinschauende Gesicht dieser Figur werde wie eine Papierfolie zusammenfallen und sein rohes Fleisch bloßlegen. Nach diesen ein oder zwei Stunden verkriecht sie sich auf ihre Couch, ist für den Rest des Tages zu keiner weiteren körperlichen oder geistigen Tat mehr imstande. Sich einigermaßen ins Lot bringen, die Wand anstarren und immer wieder die Muster der Postkarten, Bilder und Fotographien, die dort aufgehängt sind, nachfahren, sich in sie hineinverlieren, um sich wieder einzufangen. Nachts dann besorgen das die Testbilder in den TV-Sendeschluß-Programmen. Unvorstellbar, auch nur noch einen einzigen neuen Schüler anzunehmen. Mittlerweile müssen die Reste früherer Ersparnisse daran glauben und das Ende ist absehbar.

Ich wasche meine Wäsche nicht mehr, ich stopfe die Klumpen in den Kleiderschrank. Ich habe aufgegeben, meine Wohnung zu säubern – jeder Handgriff ist schwer und verheddert sich mit einem anderen Handgriff, verheddert sich mit Gedanken, mit Dingen, mit Farben, mit Gerüchen. Jede Bewegung will mich dazu bringen, in einem endlosen Gestrüpp aus Verzweiflung und Ratlosigkeit verloren zu gehen. Selbst mein Bett ist nicht mehr sicher. Es könnten mich Mörder anfallen, mitten in der Nacht, durch Türen hindurch, die immerzu offen stehen, obwohl ich sie hundertmal verschlossen habe.

Und selbst die Vögel. Harmlose Tiere, die in der Luft umherfliegen, sich auf Zweige setzen, ins Gras, auch auf Parkbänke oder die Ränder der danebenstehenden Müllkörbe. Die großen, grauen. Ausgerechnet, natürlich, welche sonst, wie in alten Fabeln, die Krähen, die Elstern, alle Rabenarten, oft auch noch Tauben und Möwen. Todestiere. Allein, sie zu sehen, versetzt sie in dumpfes Entsetzen, manchmal in flackernde Panik, da ihr die Überzeugung schlagartig einfährt (vom Anblick der Tiere direkt...

Erscheint lt. Verlag 23.5.2016
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
ISBN-10 3-7412-3657-8 / 3741236578
ISBN-13 978-3-7412-3657-0 / 9783741236570
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