Inselträume (eBook)
336 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-56821-1 (ISBN)
Sandra Lüpkes wurde 1971 in Göttingen geboren und lebte viele Jahre auf der Nordseeinsel Juist. Sie ist Autorin zahlreicher Romane, Sachbücher, Erzählungen und Drehbücher. Heute wohnt sie gemeinsam mit ihrem Mann Jürgen Kehrer in Berlin.
Sandra Lüpkes wurde 1971 in Göttingen geboren und lebte viele Jahre auf der Nordseeinsel Juist. Sie ist Autorin zahlreicher Romane, Sachbücher, Erzählungen und Drehbücher. Heute wohnt sie gemeinsam mit ihrem Mann Jürgen Kehrer in Berlin.
Sie hatten ihn verarscht. Aufs Übelste.
Getraut hatte er denen sowieso nicht: «Und wenn ich das Teil ausfülle und so, ganz ehrlich, dann ist das doch scheißegal, und keine Sau kratzt es, was da steht, also kann ich es gleich bleibenlassen – und fertig.»
Weil, er hatte in den letzten zwei Jahren haufenweise Formulare ausgefüllt, Kursfächer gewählt für die Oberstufe, Anträge gestellt für die Nachprüfung, dann den ganzen Kram mit dem Anwalt, mit den Bullen und dem Jugendamt, ernsthaft, er hatte tausend Kreuzchen gesetzt und achttausendmal unterschrieben, seine Mutter auch, und dann rechtzeitig abgeben und so weiter. Echt, er war sechzehn. Er hatte Besseres zu tun, als diese Frage-Antwort-Spielchen mitzumachen, bei denen er sowieso immer der Loser war.
Genau deswegen hatte er die Schnauze voll, als der vom Jugendamt ihm vor zwei Wochen den Zettel unter die Nase hielt von wegen Zukunftsperspektive. Was er wolle. Was er erwarte. Wofür er sich interessiere. Blabla.
Womit würden Sie sich langfristig gern beschäftigen?
Eine dieser Tiefseefragen. Kam harmlos daher wie Wie viel Uhr ist es oder Wann geht die letzte Bahn nach Hürth, konnte aber interpretiert und analysiert und weiß der Henker was werden, sodass der vom Jugendamt ihm anhand der Antworten bis tief auf den Grund seiner Seele schauen konnte.
Also hatte Lasse es einfach auf den Punkt gebracht. Die Wahrheit hingeschrieben. Sich nicht besser oder schlechter gemacht, als er nun mal war. In der Hoffnung, dass sie ihn dann in Ruhe ließen, weil es an der Wahrheit nicht so viel zu interpretieren und analysieren und weiß der Henker was gab.
Womit würden Sie sich langfristig gern beschäftigen?
Da hatte er geschrieben: Schnelle Autos und nackte Weiber.
Und jetzt stand er hier und hatte einen Frauenhintern vor sich, in greifbarer Nähe sozusagen, aber trotzdem fühlte er sich … war «verarscht» der richtige Ausdruck?
«Lasse!»
Er drehte sich nicht um. Er hatte keinen Bock.
«Lasse, hey!»
Der Hintern war mindestens siebzig Jahre alt und von grauem Meeresschlick überzogen.
Eine schwere Hand legte sich ihm von hinten auf die Schulter.
«Trauste dich nicht?», fragte Nils.
Lasse hielt die Klappe.
«Nur zu, junger Mann», sagte die Frau, die zu dem Hintern gehörte. «Ich bin keine Warmduscherin!»
Nils überreichte ihm eine Art dicken Gartenschlauch und drehte den Wasserhahn auf. Der Schwall, der aus der Öffnung kam, war schweinekalt. Ernsthaft, wie konnte man so etwas freiwillig abkriegen wollen?
«Jetzt aber!» Nils nahm seinen Arm, hob ihn an, sodass der Strahl die Wade der alten Frau traf. Die gab keinen Mucks von sich. Zuckte auch nicht. Schräg.
«Ist gut für den Kreislauf. Und das Immunsystem.»
Warum musste die Welt so unlogisch sein? Warum waren Sachen wie, keine Ahnung, Rauchen und Fastfood ungesund, Eiswasser auf nackter Haut aber angeblich total super? Wäre es anders herum, keiner seiner Kumpels käme auf den Gedanken, auf Döner zu verzichten, sich aber hinter dem Rücken der Erwachsenen zu diesen bescheuerten Kneipp’schen Güssen zu treffen. Es war nicht so, dass sie die Sachen, die sie machten, bloß gut fanden, weil sie verboten waren. Verkehrt gedacht. Es war nur so, dass die Dinge, die erlaubt waren, kalt oder anstrengend oder unbequem oder langweilig, manchmal sogar alles auf einmal waren. Er vermisste seine Kumpels. Die verstanden ihn wenigstens.
«Höher», sagte Nils. «Und wenn der Schlamm runter ist, kommst du rüber. In fünf Minuten ist der nächste Wellengang.»
Lasse nickte.
Sein Leben hatte sich verändert.
Vor einer Woche noch hatte er bis elf gepennt, danach gechillt und anschließend mit seinen Kumpels abgehangen, bis es Ärger gab, weil die Leute die Polizei holten wegen nächtlicher Ruhestörung oder so.
Jetzt zerfetzten alle halbe Stunde die Wellen im Meerwasserbrandungsbad Sprottengrotte seinen Tag. Weil er drauf reingefallen war. Auf den Deal mit der Zukunftsperspektive.
«Wenn du zwei Sachen aufschreibst, die dir langfristig wichtig sind, dann werden wir alles dafür tun, um wenigstens eine zu erfüllen.»
«Okay.»
«Und dann bleibst du dieses Mal von einer Jugendstrafe verschont.»
«Okay.»
«Letzte Chance, Lasse, ist dir das klar?»
«Jep.»
Und dann er eben: Schnelle Autos und nackte Weiber.
Das Ergebnis: Er war auf eine Insel verfrachtet worden, auf der nur der Arzt und die Feuerwehr motorisiert unterwegs sein durften, der Rest: Fahrräder, Kutschen, Bollerwagen und fertig. Die schlimmste Insel der Welt! Und die nackten Weiber waren allesamt über sechzig und ließen sich von ihm den muffigen Thalassoschlamm aus den Hautfalten spülen. Er wusste nicht, was er ätzender fand: dass der eine Wunsch abgelehnt oder der andere erfüllt worden war.
Der Gong ertönte. Noch drei Minuten bis zu den Wellen. Nichtschwimmer bitte in den Flachwasserbereich.
«Danke, junger Mann», sagte die Oma, schlurfte in ihren Clogs zu einem prinzessinnenrosa Bademantel, der an der Garderobe hing, und holte einen Euro aus der Tasche. «Hier, für Sie!»
«Danke», sagte er, obwohl nichts, was ihn interessierte, für einen popeligen Euro zu kaufen war. Auf der Insel war alles schweineteuer. Dosenbier gab es nicht, wegen öko. Nur Glasflaschen. Zwei Euro ohne Pfand. Na ja, die Alte hatte sich ’ne Zehnerkarte gekauft – Thalasso XXL zum Seniorenrabatt – und würde morgen wiederkommen. Er könnte sparen. Denn da, wo er wohnte, bekam er kein Bier. Obwohl er schon sechzehn war. Wegen irgendeiner Absprache mit seiner Mutter. Er musste der Thalasso-Oma also dankbar sein. «Bis dann!»
Lasse schlenderte Richtung Hallenbad. Es gab einen Extradurchgang für das Personal, die Badegäste mussten ihr Armband vor eine Lichtschranke halten und konnten dann rüber. Kriegten leider nicht alle hin. Gestern, als Nils gerade in der Mittagspause gewesen war, hatte Lasse einen kleinen Jungen retten müssen, der, keine Ahnung, warum, irgendwie untendurch gekrochen und dann zwischen den gegeneinanderlaufenden Drehkreuzen eingeklemmt worden war. Der arme Knirps hing wie eine Scheibe Weißbrot im Toaster fest und hat die ganze Bude zusammengeschrien. Britta von der Kasse hatte genauso laut gekreischt: irgendwas von noch nie passiert …, um Himmels willen …, wie man überhaupt auf so einen Gedanken kommen kann, da zwischen die Stäbe zu kriechen, warum die Eltern nicht besser aufpassen, das würde auch immer schlimmer werden mit den Kindern. Jedenfalls, während der Junge und Britta und später auch die Mutter von dem Jungen um die Wette gebrüllt haben, hatte Lasse den Werkzeugkoffer geholt, die Abdeckung mit dem Imbus aufgeschraubt, den Mechanismus gelöst – da war so ’n kleiner Knopf, den man mit dem Schraubenzieher eindrücken konnte, damit sich der Richtungsbetrieb ändert – und den Jungen herausgehoben. Der hatte noch nicht mal ’nen Kratzer.
Aber gelobt hatte ihn keiner dafür. Der Junge heulte noch immer. Die Mutter motzte rum, weil das Drehkreuz angeblich nicht kindersicher war. Und Britta hatte ihn angeschnauzt, weil der Werkzeugkoffer im Durchgangsbereich stand.
Das nächste Mal würde er das Kind einfach drin lassen. Man könnte dem Knirps ja Essen und Trinken durch die Stäbe reichen, bis er erwachsen war. Lasse wäre das egal.
Er würde sowieso nicht hierbleiben. Dann lieber Jugendknast als diese Insel und drei Jahre Ausbildung zum Fachangestellten für den Bäderbetrieb. Hundertpro.
Im Hallenbad war ein Höllenlärm. Kein Wunder, das Wetter war schlecht, der Septemberwind schneidend kalt, die Brandung am Strand lebensgefährlich – aber die Leute wollten trotzdem im Salzwasser schwimmen, dafür waren sie schließlich an die Nordsee gekommen. Unten im proppenvollen Becken sah man genauso viele hautfarbene wie chlorwasserblaue Stellen. Sah ein bisschen aus wie Nudelsuppe. Und die mit den orangefarbenen Badekappen, die man bei Britta an der Kasse kaufen konnte, waren die Karotten. Lasse musste grinsen.
Wieder der Gong. Die Wellenmaschine surrte los. Das Wasser schaukelte sich hoch. Die Nudeln und Karotten schwappten auf und nieder, auf und nieder.
Nils stand auf der anderen Seite des Beckens und nickte ihm kurz zu. Er war Lasses Meister. Und vielleicht war er auch in Ordnung. Mal sehen. Nach vier Tagen konnte man das noch nicht so beurteilen. Wenigstens sah er aus, als hätte er es drauf. Ein geiles Tattoo auf der Schulter, so ’n buddhistisches Zeichen für endlose Liebe, das auf den ersten Blick wie eine Brezel aussah, aber dann, beim genaueren Hingucken, zwei ineinander verhakte Herzen. Und eine Frisur, als wäre er heute Morgen mit dem Surfbrett zur Arbeit gekommen. Nils war echt nicht das Problem. Aber der Rest.
Auf und nieder, auf und nieder. Lasse war kein Psychologe. Doch er war trotzdem sicher, dass man die Menschen da unten einteilen konnte, also charaktermäßig, je nachdem, wo sie sich bei Wellengang aufhielten. Es gab drei Typen.
Die im Schwimmerbereich waren öde, denn sie blieben im Grunde die ganze Zeit, wo sie waren. Das Gesicht der Wellenanlage zugewandt, nahmen sie jeden Wasserberg ohne erkennbare Regung. Vielleicht kriegten sie noch nicht einmal den Unterschied mit, ob es im Becken flach oder wellig war, Hauptsache, die konnten sich mit minimalem Aufwand an der Oberfläche halten. Oder allein durch ihr Körperfett. Lasse konnte sich nicht vorstellen, hier wirklich mal jemandem helfen zu müssen. Die waren zu langweilig zum Ertrinken.
Fast genauso schnarchig waren...
Erscheint lt. Verlag | 22.4.2016 |
---|---|
Reihe/Serie | Das Inselhotel |
Das Inselhotel | |
Zusatzinfo | Zahlr. s/w Abb. |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Amrum • Baltrum • Beziehung • Borkum • Crash Kid • Föhr • Hotel • Insel • Juist • Langeoog • Leuchtturm • Liebe • Norderney • Nordsee • Ostfriesische Inseln • Schwangerschaft • Spiekeroog • Strand • Sylt • Urlaub • Urlaubslektüre • Wangerooge • Wettkampf |
ISBN-10 | 3-644-56821-9 / 3644568219 |
ISBN-13 | 978-3-644-56821-1 / 9783644568211 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |

Größe: 10,2 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich