Der Fall Charles Dexter Ward (eBook)
253 Seiten
GOLKONDA VERLAG
978-3-944720-60-9 (ISBN)
H. P. Lovecraft (1890?1937) ist der einflussreichste Horror-Autor der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Neben einem schmalen Werk aus Erzählungen und Kurzromanen, auf dem sein ganzer Ruhm beruht, verfasste er vor allem zahllose Briefe und Essays, die es im deutschsprachigen Raum erst noch zu entdecken gilt.
H. P. Lovecraft (1890−1937) ist der einflussreichste Horror-Autor der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Neben einem schmalen Werk aus Erzählungen und Kurzromanen, auf dem sein ganzer Ruhm beruht, verfasste er vor allem zahllose Briefe und Essays, die es im deutschsprachigen Raum erst noch zu entdecken gilt.
EINLEITUNG
I.
The Case of Charles Dexter Ward markiert ziemlich genau die Mitte von H. P. Lovecrafts relativ kurzer literarischer Laufbahn. Während der ersten Monate des Jahres 1927 in einem Zeitraum von vermutlich gerade einmal fünf Wochen entstanden, hat der 51.000 Worte umfassende Kurzroman etwas von einem Januskopf: Er blickt zurück auf die Geschichten, die Lovecraft im ersten Jahrzehnt seiner schriftstellerischen Tätigkeit schrieb, angefangen mit »The Tomb« im Sommer 1917, und gleichzeitig nach vorn, auf die kraftvollen Erzählungen und Novellen der Jahre 1927–36, zu denen auch die des sogenannten Cthulhu-Mythos zählen.
Charles Dexter Ward ist nicht nur Lovecrafts längstes erzählerisches Werk, sondern zugleich auch sein persönlichstes. Selbst ein Leser, der nicht mit den grundlegenden Fakten von Lovecrafts Biographie vertraut ist, wird ahnen, dass die ersten Seiten, die Wards Geburt und Kindheit in der alten Kolonialstadt Providence, Rhode Island, beschreiben, eine kaum verhüllte Anspielung auf Lovecrafts eigene Kindheit sind. Geboren am 20. August 1890, wäre Lovecraft beinahe als Bürger von Massachusetts aufgewachsen: Sein Vater Winfield Scott Lovecraft (1853–1898) hatte sich mit seiner Frau Sarah Susan Phillips Lovecraft (1857–1921) bald nach ihrer Heirat im Jahre 1889 in einem Vorort von Boston niedergelassen. Sarah hatte ihren Sohn Howard Phillips Lovecraft zwar in ihrem Elternhaus in der Angell Street 454 in Providence zur Welt gebracht, war danach jedoch wieder nach Massachusetts zurückgekehrt, wo in Auburndale, auf einem von ihr und ihrem Mann erworbenen Grundstück, ein Haus für die junge Familie entstehen sollte. Doch Winfield, von Beruf »Geschäftsreisender« (der Begriff bezeichnet einen Handelsvertreter, der seine Ware an Unternehmen oder Einzelhändler verkauft, also keinen »Hausierer«) für die renommierte Firma Gorham Silversmiths aus Providence, hatte 1893 in einem Hotel in Chicago einen Zusammenbruch erlitten und wurde daraufhin ins Butler Hospital in Providence eingewiesen, wo er bis zu seinem Tod blieb. Heute steht fest, dass Winfield an einer Neurosyphilis im Endstadium litt. Mit dem Ausbruch von Winfields Krankheit kehrte seine Frau Sarah – oder Susie, wie sie allgemein genannt wurde – in ihr Elternhaus zurück, sodass Lovecraft als stolzer Bürger von Rhode Island aufwuchs.
Die Stadt Providence wird in Charles Dexter Ward tatsächlich gleichsam eine eigenständige Figur des Romans. Es war Lovecraft nur allzu bewusst, dass die Hexenverfolgung einen Schatten auf die frühen Jahre der Geschichte von Massachusetts geworfen hatte, und es war ihm genauso bewusst, dass Rhode Island – von Roger Williams 1636 als Zuflucht für religiöse Abweichler und als Gegengewicht zur puritanischen Theokratie seines nördlichen Nachbarn gegründet – von der neurotischen Religiosität, die zu den Salemer Hexenprozessen von 1692 führte, verschont geblieben war. Erzählerisch bedient sich Lovecraft in seinem Roman jedoch gern aus der düsteren Geschichte von Massachusetts, und es wird sich herausstellen, dass die Salemer Hexenprozesse Konzeption und Niederschrift des Romans zumindest indirekt inspiriert haben.
Wenn man von seinen amüsanten Jugendschriften der Jahre 1897–1902 und solchen literarischen Gehversuchen wie »The Beast in the Cave« (1905) und »The Alchemist« (1908) absieht, begann Lovecrafts Laufbahn als Erzähler 1917, als er in rascher Folge »The Tomb« und »Dagon« verfasste. Auch in diesen beiden Erzählungen spiegeln sich Vergangenheit und Zukunft von Lovecrafts schriftstellerischer Arbeit wider: »The Tomb« ist mehr oder weniger eine Nachahmung Poes (den Lovecraft schon früh als seinen »literarischen Gott« bezeichnete[1]), während »Dagon« mit seinem starken Bezug auf die Naturwissenschaften und der Loslösung von einer konventionellen übernatürlichen Motivik bereits auf spätere naturwissenschaftlich grundierte Erzählungen wie »The Call of Cthulhu« (1926) und »The Shadow over Innsmouth« (1931) vorausweist, die beide auf ihre Art als Weiterentwicklungen von »Dagon« gelesen werden können.[2] 1917 dachte Lovecraft jedoch wohl kaum daran, ein professioneller Schriftsteller zu werden – weder als Autor von Erzählungen noch in irgendeiner anderen Form. Nachdem er 1908 unvermittelt und ohne Abschluss die Highschool verlassen hatte, verbrachte er ein halbes Jahrzehnt in völliger Zurückgezogenheit, bevor ihn die Amateurjournalismus-Bewegung aus seinem unproduktiven Schattendasein erlöste. 1914 schloss er sich der United Amateur Press Association (UAPA), einer der beiden großen Amateurjournalisten-Organisationen, an und trat einige Jahre später auch der konkurrierenden National Amateur Press Association (NAPA) bei, obwohl seine Loyalität bis zu deren Auflösung im Jahre 1926 in erster Linie der UAPA galt. Die Amateurjournalisten-Bewegung war ein relativ beschränktes Netzwerk von über die USA und die ganze Welt verstreuten Personen, die ihre eigenen Zeitschriften herausgaben und Beiträge aller Art zu den Veröffentlichungen ihrer Amateurkollegen beisteuerten. Im Zuge seiner amateurjournalistischen Tätigkeit kam Lovecraft, der sich anfangs vor allem dem Verfassen von Gedichten, Essays und journalistischen Kommentaren gewidmet hatte, nach und nach auf die Idee, erzählende Prosa zum ästhetischen Medium seiner Wahl zu machen. W. Paul Cook, der sowohl in der UAPA wie in der NAPA eine führende Rolle spielte, war von Lovecrafts frühen Geschichten begeistert und veröffentlichte sie in seiner Amateurzeitschrift VAGRANT. Lovecraft war sich darüber im Klaren, dass viele Amateurjournalisten – wie auch das literarische Publikum im Allgemeinen – mit unheimlich-phantastischer oder übernatürlicher Literatur wenig anfangen konnten, und da er stets empfänglich für Kritik war, war er dankbar für das Lob, das seine Erzählungen bei Cook und anderen befreundeten Amateurjournalisten wie Rheinhart Kleiner, Maurice W. Moe und Alfred Galpin fanden.
Schon »The Tomb« ist, zumindest dem Namen nach, in Neuengland angesiedelt, im Grunde spielt die Erzählung aber noch in einem unspezifischen Niemandsland. Im Zuge seiner erzählerischen Experimente der nächsten zehn Jahre begriff Lovecraft jedoch, dass sein ausgeprägter Ortssinn und insbesondere seine glühende Liebe zu seiner neuenglischen Heimat ihm ermöglichten, seinen unheimlich-phantastischen Erzählungen eine solide realistische Grundierung zu geben, durch die das Eindringen des Übernatürlichen noch kraftvoller und effektiver in Szene gesetzt werden konnte. Später machte Lovecraft dieses Prinzip zu einem zentralen Element seiner Theorie phantastischen Erzählens. In »Notes on Writing Fiction« (1933) schrieb er:
Unbegreifliche Ereignisse und Zustände müssen einen spezifischen Widerstand überwinden, und dies kann nur gelingen, wenn in allen Phasen der Geschichte ein sorgfältiger Realismus aufrechterhalten wird, außer dort, wo es um das phantastische Ereignis an sich geht. Dieses phantastische Ereignis muss sehr eindrucksvoll und überlegt geschildert werden – mit einem sorgfältigen emotionalen »Spannungsaufbau« – sonst bleibt es flach und ohne Überzeugungskraft. Da es das wichtigste Element der Erzählung ist, sollte seine bloße Existenz ihren Schatten auf die Figuren und Ereignisse werfen. Doch die Figuren und Ereignisse müssen in sich schlüssig und realistisch sein, außer dort, wo sie mit dem phantastischen Ereignis in Berührung kommen.[3]
Lovecraft brauchte einige Zeit, um sich der Bedeutung dieses Prinzips bewusst zu werden. Seine Begeisterung für die Werke des irischen Phantasten Lord Dunsany, die dazu führte, dass Lovecraft in den Jahren 1919–21 ein gutes Dutzend Dunsany-Imitationen verfasste, kann in gewissem Sinne als eine Abweichung vom Weg hin zu jenem topographischen und wissenschaftlichen Realismus betrachtet werden, der Lovecrafts späteres Werk bestimmen sollte. Andererseits lernte Lovecraft aus seiner Dunsany-Lektüre, wie wichtig eine musikalische Prosa bei der Erzeugung einer unheimlich-phantastischen Atmosphäre ist. Lovecraft, der einmal naiv postulierte: »Dunsany, das bin ich selbst«[4], sollte später allerdings zu anderen Schlussfolgerungen gelangen:
Was ich in Zukunft wohl weniger verwenden werde, ist die pseudo-poetische Manier Dunsanys. Nicht, dass ich sie nicht bewundern würde, ich glaube nur, dass sie nicht meiner natürlichen Ausdrucksweise entspricht. Die Tatsache, dass ich sie vor meiner Dunsany-Lektüre nur sparsam benutzte, aber sofort damit übertrieb, sobald ich angefangen hatte, Dunsany zu lesen, lässt mich vermuten, dass sie bei mir etwas Gekünsteltes hat. Für dergleichen braucht es einen besseren Dichter als mich.[5]
Auf ganz unterschiedliche Weise zeigt sich in vielen von Lovecrafts frühen Erzählungen wie »The Terrible Old Man« (1920), »From Beyond« (1920), »The Picture in the House« (1920), »The Festival« (1923) und »The Shunned House« (1924) sein wachsendes Verständnis für den geschichtlichen Reichtum seiner neuenglischen Heimat. In »From Beyond«, seiner ersten Erzählung, die in Providence spielt, bleibt die Beschwörung seiner Heimatstadt noch relativ oberflächlich. Wenn der Erzähler bemerkt: »Ich zog den Revolver aus meiner Hosentasche, den ich nach Anbruch der Dunkelheit immer bei mir trage, seitdem ich eines Nachts in East Providence überfallen worden war«[6], dann sorgt das beim Leser eher für Amüsement, als dass es der Geschichte zusätzliche Tiefe verleiht. Aber die drei zuletzt genannten Erzählungen sind bereits von einem...
Erscheint lt. Verlag | 15.3.2016 |
---|---|
Übersetzer | Andreas Fliedner |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Horror |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Horror • Kurzroman • Pulp • Schauerroman • Selbstporträt |
ISBN-10 | 3-944720-60-1 / 3944720601 |
ISBN-13 | 978-3-944720-60-9 / 9783944720609 |
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