Ästhetischer Kapitalismus (eBook)
120 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74425-3 (ISBN)
Wenn ein neues Smartphone auf den Markt kommt, bilden sich frühmorgens Schlangen vor den palastartigen Shops. Das zeigt, dass es heute nicht nur um den Gebrauchswert einer Ware geht (dass man mit einem solchen Gerät telefonieren oder im Internet surfen kann), sondern auch um das, was Gernot Böhme als ihren »Inszenierungswert« bezeichnet. Die Inszenierung von Produkten und Lebensstilen ist ein zentrales Merkmal des ästhetischen Kapitalismus, dessen Erscheinungsformen Böhme nachspürt. Indem er sich mit der Ideologie des Wachstums, der Soundlandschaft in Shoppingcentern und dem Zusammenhang von Leistungsideologie und Konsum befasst, leistet er einen wichtigen Beitrag zu einer Rekonstruktion und Erweiterung der Theorie der Kulturindustrie auf den Bereich des Wirtschaftslebens.
<p>Gernot Böhme, geboren 1937, war Professor em. für Philosophie an der Technischen Universität Darmstadt, Direktor des Instituts für Praxis der Philosophie e. V. und Vorsitzender der Darmstädter Goethe-Gesellschaft. Im Suhrkamp Verlag sind erschienen: <em>Ethik leiblicher Existenz</em> (stw 1880) und <em>Ästhetischer Kapitalismus</em> (es 2705), sowei eine erweiterte Auflage seines Klassikers <em>Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik</em> (es 2664). Gernot Böhme verstarb am 20.01.2022.</p>
Gernot Böhme ist Professor em. für Philosophie an der Technischen Universität Darmstadt, Direktor des Instituts für Praxis der Philosophie e. V. und Vorsitzender der Darmstädter Goethe-Gesellschaft. Im Suhrkamp Verlag sind erschienen: Ethik leiblicher Existenz (stw 1880) und Ästhetischer Kapitalismus (es 2705), sowei eine erweiterte Auflage seines Klassikers Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik (es 2664).
Einleitung
0. Zugangsweisen zur Ökonomie
Da das Wirtschaftsleben der Gesellschaft ein äußerst komplexes Gebilde ist, wird man nie das Ganze in den Blick bekommen oder vielmehr: das Ganze jeweils nur unter einem bestimmten Aspekt. Auch was uns als Folge von Wirtschaftstheorien vorliegt, unterscheidet sich keineswegs lediglich nach Zeitgeist und historischen Rahmenbedingungen, sondern ebenso durch einen jeweils besonderen Zugang zur Ökonomie. So ist etwa der Merkantilismus nicht bloß eine Theorie des Wirtschaftens im Rahmen absolutistischer Verhältnisse, sondern er ist zu charakterisieren durch das besondere Interesse an der Staatsfinanzierung, also einer Finanzierung des Beamtentums, des Militärs, der Hofhaltung und der repräsentativen Bauten der Krone. Wegen der ihm eigenen Sicht auf das Ökonomische ist der Merkantilismus nicht einfach historisch überholt. Unter veränderten Bedingungen lebt er in der Nationalökonomie und in der Volkswirtschaftslehre weiter.
Besonders interessant sind in der Gegenwart die unterschiedlichen Zugangsweisen, durch die sich zwei Bücher mit dem Titel Das Kapital unterscheiden, nämlich das von Karl Marx und das von Thomas Piketty.[1] Marx betrachtet die kapitalistische Wirtschaft unter dem Gesichtspunkt der Produktionsverhältnisse, kurz: von Arbeit und Kapital. Der Kapitalist besitzt die Produktionsmittel, der Arbeiter hingegen nur seine Arbeitsfähigkeit, die er auf dem Arbeitsmarkt dem Kapitalisten verkauft. Aus dieser Perspektive betrachtet, treten die Lebensbedingungen des Arbeiters in den Vordergrund, insofern er auf die Reproduktion seiner Arbeitskraft reduziert ist – und andererseits die Machtverhältnisse, insofern die Arbeiterschaft für ihre Reproduktion auf den Kapitalisten als den Besitzer der Produktionsmittel angewiesen ist.
Von alldem ist bei Piketty nicht die Rede, so dass man ihn ganz zu Unrecht zum Marx für unser Jahrhundert erklärt hat. Piketty ist nicht einmal primär an der Tatsache interessiert, dass sich durch Kapitalbesitz ein unverhältnismäßig höheres Einkommen erzielen lässt als durch Erwerbsarbeit. Das war nicht nur den Lesern der Zeitschrift Humane Wirtschaft schon seit Jahren bekannt. Sein Hauptaugenmerk ist vielmehr auf die extreme Disparität der Eigentumsverhältnisse gerichtet. Er fürchtet – das kann man zumindest zwischen den Zeilen lesen –, dass diese Disparität, verbunden mit der hohen Staatsverschuldung, unsere Staatsverfassung, also die Demokratie, gefährden könnte. Denn die Gläubiger der Staaten sind nicht eigentlich die Banken, sondern die hinter diesen stehenden privaten Kapitaleigner, genauer besehen – wegen der ungeheuren Konzentration des privaten Kapitals – sogar nur einige wenige. Um die Macht der Kapitaleigner einzuschränken, empfiehlt Piketty allerdings nicht Gewaltanwendung, sondern eine Regulation des Kapitals durch Steuerpolitik. Lediglich beiläufig, fast nur als Zahlen in seinen Statistiken weist er auf die Gesundung der kapitalistischen Verhältnisse durch die Kapitalvernichtung in den Weltkriegen hin.
Unser Zugang zur Ökonomie bzw. zur kapitalistischen Wirtschaft ist einer Tradition verpflichtet, die das kapitalistische Wirtschaftssystem vonseiten des Konsums betrachtet, also einer Tradition, für die die Namen Veblen, Sombart, Bataille und Baudrillard stehen. Für diese Autoren tritt der Konsum in den Vordergrund, insofern er nicht wie bei Marx der zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendige Konsum ist, sondern Luxus und Verschwendung. Dabei wird der Luxuskonsum – etwa der höfischen Gesellschaft im Barockzeitalter – manchmal geradezu als Ursprung der kapitalistischen Wirtschaftsweise gesehen, so bei Werner Sombart in seinem Buch Liebe, Luxus und Kapitalismus.[2] Tatsächlich war ja die massenhafte Spiegelproduktion der Ursprung der Großmanufakturen, d. h. der Vorläufer der Fabrikproduktion. Andere Theoretiker, Bataille, um nur einen zu nennen, begreifen Verschwendung als notwendiges Korrektiv zur Kapitalakkumulation, also als »produktive Kapitalvernichtung«, ähnlich dem Krieg. Uns interessiert für die gegenwärtige Phase der kapitalistischen Entwicklung der Surplus-Konsum durchaus unter beiden Gesichtspunkten, nach denen man unsere Periode auch als ein neues Barock ansehen könnte. Man wird den Surplus-Konsum heute selten »Luxus« oder »Verschwendung« nennen, weil er nicht mehr an bestimmte Privilegien gebunden und auf bestimmte Klassen beschränkt, sondern als allgemeines Lebensniveau selbstverständlich geworden ist. Ähnlich wie in den genannten älteren Theorien kommt ihm jedoch gerade wegen dieser Allgemeinheit eine kapitalismusstabilisierende Funktion zu. Das bedeutet aber, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem in der gegenwärtigen Phase durch den Surplus-Konsum wesentlich geprägt wird. Dabei interessiert uns aufseiten der Produktion die Veränderung des Warencharakters und aufseiten der Konsumenten die korrelierte Veränderung der Bedürfnisstruktur.
I. Das System der Bedürfnisse
Es ist Hegel,[3] der in seiner Rechtsphilosophie das System der Bedürfnisse als Ursprung der ökonomischen Verhältnisse in der bürgerlichen Gesellschaft ausmacht. Dabei rechnet er quasi als einem Anthropologikum, also als einer Eigenschaft, die den Menschen vom Tier unterscheidet, von vorneherein mit der »Vervielfältigung« und »Verfeinerung« der Bedürfnisse.[4] Marx sollte später von den »erweiterten« Bedürfnissen sprechen. Die Bedürfnisse der einzelnen Menschen werden zu einem System durch ihre Befriedigung auf der Basis von Arbeit – wir müssen hinzufügen: also durch Arbeitsteilung und Markt. Die Steigerung der Bedürfnisse als Erweiterung und Verfeinerung sehen Hegel und Marx gleichsam noch als natürlich, als zur Natur des Menschen gehörend an. In diesem Sinne ist die Befriedigung dieser Bedürfnisse, also der entsprechende Konsum Teil der Reproduktion des Menschen – freilich auf einem höheren Niveau. So betrachtet, kann man sagen, dass die Ausweitung der Produktion dieser Anhebung des Konsumniveaus folgt. Uns interessiert hier dagegen das Umgekehrte, dass nämlich eine Veränderung der Bedürfnisstruktur als solcher stattfindet, und zwar durch den Wandel von Bedürfnissen in Begehrnisse, und dass der fortgeschrittene Kapitalismus unserer Zeit auf diesen Wandel der Bedürfnisstruktur angewiesen ist, soll er sein Wesen als Wachstumsökonomie beibehalten.
Begehrnisse sind letztlich nicht zu befriedigen, allenfalls zur Ruhe zu bringen, weil sie, wenn man ihnen entspricht, gerade gesteigert werden. Das ist, um an das bisher Gesagte anzuknüpfen, das Bedürfnis nach Verschwendung und Luxus. Man darf die Bedeutung dieser Formen des Surplus-Konsums nicht unterschätzen. Wenn der ökonomische Bereich nach Marx als das Reich der Notwendigkeit angesehen wird, so sind Luxus und Verschwendung als Konsumformen die paradoxe Überschreitung der Notwendigkeit, sprich die Befreiung von ökonomischen Mitteln, also pekuniären Grenzen. Deshalb sind Luxus und Verschwendung in den traditionellen Theorien auch teils auf bestimmte Klassen, teils auf bestimmte Zeiten eingeschränkt. Das ändert sich durch die Transformation von Bedürfnissen in Begehrnisse. Der Surplus-Konsum ist dann keine Überschreitung des Reichs der Notwendigkeit mehr und schon gar nicht der Übergang in das Reich der Freiheit. Vielmehr entspricht der Mensch, indem er Begehrnisse entwickelt, genau den Notwendigkeiten des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Es ist also nicht mehr so, dass die Wirtschaft ein Instrument zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse darstellt. Eher verhält es sich umgekehrt: Der Mensch transformiert sein System der Bedürfnisse, um den Anforderungen kapitalistischer Entwicklung, d. h. eines immer weiter fortschreitenden Wachstums zu entsprechen. Wenn die Wirtschaft auf Begehrnisse statt auf Bedürfnisse setzt, dient sie nicht – wie das noch nach der Marx'schen Analyse der Fall war – primär der Reproduktion, also der Fortsetzung des Lebens, sondern seiner Steigerung. Um schon vorwegzunehmen, an welche wirtschaftsrelevanten Begehrnisse zu denken ist, seien folgende genannt:
– | das Bedürfnis nach Ausstattung des Lebens |
– | das Bedürfnis, gesehen und gehört zu werden |
– | das Bedürfnis nach Ruhm |
– | das Bedürfnis nach Mobilität. |
II. Kapitalakkumulation und Konsum
Nach Marx' Analyse der kapitalistischen Wirtschaftsweise ist diese zentral durch den Begriff des Mehrwerts zu charakterisieren. Er besagt, dass der Arbeiter durch seine Arbeit mehr produziert, als er durch seine Entlohnung erhält. Zwar müssen wir für unsere heutigen Verhältnisse nicht mehr davon ausgehen, dass der Lohn für die Arbeit nur gerade noch für die Subsistenz des Arbeiters und seiner Familie ausreicht, aber wir können doch sagen: für dessen oder deren Reproduktion auf dem aktuellen Lebensniveau. Den Mehrwert eignet sich der Kapitalist an. Diesen Prozess bezeichnet Marx als Ausbeutung.
Nun spielt der private Konsum des Kapitalisten bei der Nutzung des Mehrwerts keine entscheidende Rolle. Einerseits ist das wegen der Größenordnung der Fall, andererseits und insbesondere aber, weil es der kapitalistischen Wirtschaftsweise entspricht, den Mehrwert in...
Erscheint lt. Verlag | 11.4.2016 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Apple • Atmosphäre • Design • edition suhrkamp 2705 • ES 2705 • ES2705 • iPhone • Kapitalismus • Nike • Shopping |
ISBN-10 | 3-518-74425-9 / 3518744259 |
ISBN-13 | 978-3-518-74425-3 / 9783518744253 |
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