Hinterm Horizont allein - Der Prinz von Prora (eBook)
300 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7412-5512-0 (ISBN)
Mit dem Buch 'Der Prinz von Prora' gibt der Historiker Dr. Stefan Wolter einen gefühlvollen Einblick in die untergangene Welt der Proraer Kaserne am Standort der heutigen Jugendherberge. Das autobiografische Werk warf die Debatte über die Erinnerungskultur in Bezug auf die monumentale Kasernenhinterlassenschaft an der Prorer Wieck auf. Einseitig als 'ehemaliges KdF-Bad' interpretiert, entwickelt sich Prora in unseren Tagen zum geschichtsentleerten Seebad, das die Wahrnehmung zweier Generationen der untergegangenen DDR weithin ignoriert.
PROLOG
Hinterm Horizont – Ankunft auf Rügen nach fünfzehn Jahren
„Dort am Horizont, das ist Rügen!“ Der ältere Tourist neben mir drückt sein Fernglas in meine Hände. Ich darf hinüberschauen.
„Ja, das sind die Kreidefelsen!“
Ich lehne eine Weile an der Reling des Schiffes der Route Rønne-Sassnitz und starre auf den Punkt, der sich vor uns rasch vergrößert. Der Wind bläst mir ins Gesicht. Ich umfasse mich, als müsse ich mich schützen.
Plötzlich steht er wieder neben mir, der weißhaarige Herr. Ich kann nicht an mich halten: „Da vorn, das ist Prora, eine ehemalige Kasernenanlage!“
„KdF-Anlage“, verbessert er mich und kommt meinem Ohr näher: „KdF – ‚Kraft durch Freude‘. Eine Ferienanlage war das, für 20.000 Urlauber gebaut.“ Er scheint sich über sein Wissen zu freuen.
Ich fühle, dass mich dieser Mann aus Bielefeld gern belehrt: „Über vier Kilometer ist die Anlage lang. Das Seebad war das erste von fünf geplanten Bädern dieser Art an der Ostsee. Etwa eineinhalb Millionen Menschen pro Jahr sollten in diesen Bädern für wenig Geld einen zehntägigen Urlaub verbringen können“, erklärt er mir in scheinbarer Begeisterung.
„Kennen Sie auch die Hintergründe?“, schalte ich mich ein, ohne mich jetzt auf eine politische Diskussion einlassen zu wollen. „Na, im November 1933 schuf die Deutsche Arbeitsfront die NS-Gemeinschaft ‚Kraft durch Freude’. Das wurde der größte Reiseveranstalter der Welt, mit Millionen preiswerter Urlaubsreisen für die Arbeiter.“
Der Herr legt eine kurze Pause ein. Mit verkniffenem Gesicht streicht er sich über seinen strammen Bauch und räumt ein: „Na ja, da war auch viel Propaganda bei. Das hat doch einen falschen Eindruck vom Regime vermittelt. Na, und wer würde denn heute in so was Urlaub machen wollen. Schauen Sie doch, wie gigantisch er ist, dieser ‚Koloss von Prora‘. Den hat übrigens ein Kölner Architekt entworfen: Clemens Klotz!“
‚Koloss von Prora’, ja so sagt man heute zu diesem scheinbar unzerstörbaren Stein- und Betonklotz zwischen Binz und Mukran, denke ich, und unterbreche ihn: „Der Bau der KdF-Anlage ist ja als solcher nie fertig geworden. Die Propaganda präsentierte in Zeitungen und Katalogen fertig eingerichtete Zimmer, obgleich die Anlage noch im Rohbau stand. Später wurde die gigantischste Kaserne der DDR daraus.“
Ich überlege kurz, dann erkläre ich ihm das, was ich über die Geschichte Proras gehört hatte: „Während des Zweiten Weltkrieges wurden dort Nachrichtenhelferinnen ausgebildet. Danach wurde das Gelände von der 2. Artilleriebrigade der Roten Armee und bald auch für die Etablierung einer Volkspolizeischule genutzt. Um 1950 begann der Ausbau der Anlage für die Kasernierte Volkspolizei. Mehr als 10.000 Mann sind damals nach Prora verlegt worden. Das war der Auftakt für eines der größten Militärobjekte der DDR.“
Ich halte inne und schaue den Mann erwartungsvoll an. Der aber stiert angestrengt durch sein Fernglas. Ich rufe mir ins Gedächtnis, was dort drüben in Prora in knapp vierzig Jahren so alles stationiert war: ein Motorisiertes Schützen-, ein Panzer- und ein Artillerie-Regiment, eine Flak-Abteilung, ein Pionierbataillon, ein Fallschirmjägerbataillon, ein Ausbildungsregiment für das Militärtransportwesen und das Pionierbaubataillon „Mukran“. Und dann gab’s da noch eine Militärtechnische Schule der NVA, eine Offiziershochschule und ein Erholungsheim. Ein DDR-Roman der achtziger Jahre „Rückkehr ins Leben“ spielte zum Teil dort in diesem Heim. ‚Auch ich bin zurückgekehrt‘, denke ich und friere.
„Wollen Sie auch noch mal?“, versucht mich der Mann an Deck zu halten. Ich ergreife den Fernstecher und suche sofort nach zwei bestimmten Fenstern in einem der grauen Blöcke. Von dort gleitet mein Blick hinüber, den Sand- und Waldstreifen entlang zum Hafen Mukran. ‚Die Natur ist eigentlich viel zu sensibel für das, was dort in Gang gesetzt wurde‘, fährt es mir durch den Kopf. Bilder ziehen an mir vorüber. Ich sehe mich in Uniform, wie ich sehnsüchtig dorthin blicke, woher ich jetzt komme. Ich begegne mir selbst und fühle Wasser in den Augen. Das kommt nicht von Wind und Meer. „Viel Zeit ist vergangen, fünfzehn Jahre“, murmele ich vor mich hin und erinnere mich der Zeiten, in denen ich hier der „Prinz“ genannt wurde. „Da schauen Sie, dort ist der Königsstuhl“, rüttelt mich der Mann aus meinem Tagtraum. Doch die Gegenwart, die interessiert mich jetzt nicht.
Meine bis dahin unbeschwerte Rückfahrt von Bornholm nach Rügen ist zu einer Reise in die Vergangenheit geworden. Ich muss mich mitteilen und wage nochmals einen Vorstoß der Erläuterung: „Den Hafen in Mukran, den habe ich mitgebaut“, gelingt es mir, ihn zu interessieren. In der Meinung, nicht richtig verstanden zu haben, sieht er mich erstaunt an. Bis eben noch hielt er mich für einen Studenten aus relativ stabilen Zeiten.
„Seit 1982 war in Prora ein Pionierbaubataillon stationiert“, erläutere ich. „Das bestand im Wesentlichen aus Baupionieren und aus Bausoldaten – Verweigerer des Militärdienstes mit der Waffe. Die haben den Bau und die Inbetriebnahme des Hafens Mukran unterstützt.“
„Wieso ist der gigantische Hafen gebaut worden?“, schaltet sich der Herr nun wissbegierig ein.
„Das hatte mit der Entwicklung in Polen zu tun, mit den Erfolgen der Gewerkschaft ‘Solidarnoce’“, rufe ich gegen den sich drehenden Wind.
Der Mann streift sich den Fernstecher über den Kopf und deutet an, sich setzen zu wollen. Ich rücke den Liegestuhl in seine Nähe, lege mich aber nicht entspannt zurück. Vor meinem geistigen Auge sehe ich plötzlich, wie der Direktor zur Klasse hereinkommt, wie wir alle aufspringen, er uns aber ungeduldig zum Setzen auffordert und mit bedrohlicher Stimme verkündet, in der Volksrepublik Polen sei das Kriegsrecht verhängt worden.
„Die Entwicklungen in Polen“, fahre ich fort, mich auf dem Stuhl nun doch bequemer einrichtend, „die wurden von Sowjetunion und DDR mit Sorge betrachtet. Für die Sowjetunion und die DDR schien sich ein unabhängiger Weg für den Warenaustausch notwendig zu machen. Recht rasch kam ein Regierungsabkommen zwischen den Staaten zustande. Die vereinbarte Schiffslinie sollte zwischen Mukran und Klaipeda verlaufen.“
„Ja, aber warum das riesige Hinterland des Hafens?“, werde ich ungeduldig unterbrochen.
„Die Waggons der Deutschen Reichsbahn hatten eine andere Spurbreite als die Waggons der sowjetischen Breitspurbahn. Deshalb wurde ein riesiger Umladebahnhof notwendig. Um das bis dahin unscheinbare Dorf Mukran entfaltete sich binnen Monaten die ‚sozialistische Großbaustelle Mukran‘. In bis dahin unberührter Natur auf mehr als zweihundert Hektar vereinnahmten und plattgewalzten Hinterlandes des Ostseestrandes entstanden Gleisanlagen, Umladehallen, Werkstätten sowie Versorgungseinrichtungen für rund 2.400 Beschäftigte. Ich habe dort drüben am Strand an einer Sandsiebanlage gearbeitet. Eine Zeit lang war ich auch in einer Kantine beschäftigt. Ich war Bausoldat.“
„Ich wusste gar nicht, dass es so etwas in der DDR gab, eine Wehrdienstverweigerung“, erwidert der Mann erstaunt.
Ich halte kurz inne. Alles scheint so weit weg, während der Hafen tatsächlich immer näher rückt. „Es war keine wirkliche Wehrdienstverweigerung, die gestattet wurde“, hole ich nun weiter aus: „Nach dem Mauerbau 1961 war das SED-Regime zu einer rigorosen Wehroffensive übergegangen, indem es der Bevölkerung ein Verteidigungsgesetz mit Notstandsbeschlüssen und kurz darauf ein Wehrpflichtgesetz zugemutet hatte. Auf kirchlichen Druck, vor allem wohl aber wegen des Widerstandes aus den Reihen der religiösen Wehrpflichtigen hin, räumte die Staatsmacht im September 1964 das Recht ein, aus Gewissensgründen den Dienst an der Waffe ablehnen zu können. Das war damals einzigartig im Ostblock, doch mussten die Verweigerer mit Nachteilen in der beruflichen Karriere rechnen. Im Gegensatz zu den Soldaten im normalen Grundwehrdienst wurden sie zudem relativ spät, oft erst kurz vor Vollendung des 27. Lebensjahres, eingezogen. Nur wer einen Studienplatz vorweisen konnte, und das waren aufgrund ihrer nonkonformen Grundhaltung die Wenigsten, wurde gleich nach der Schule gezogen. Die Diskriminierung der Bausoldaten lässt sich schon aus den Wortschöpfungen ablesen, die bei der Entstehung des Gesetzestextes gebraucht wurden. Die Begriffe ‘Arbeitskompanien’ und ‘Arbeitsbataillone’ erinnerten an die Strafkompanien der Wehrmacht, außerdem war die Rede von Wehrpflichtigen, die ‚nicht würdig‘ sind, während ihres Wehrdienstes mit der Waffe ausgebildet zu werden. Die Bausoldatenanordnung wurde im Lande nur hinter vorgehaltener Hand publik gemacht, im Jahr des Inkrafttretens beispielsweise in Form von – wahrscheinlich fingierten – Antworten auf Leserfragen in der Zeitung.“
Ich blicke auf die Kreidefelsen und denke...
Erscheint lt. Verlag | 31.3.2016 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
ISBN-10 | 3-7412-5512-2 / 3741255122 |
ISBN-13 | 978-3-7412-5512-0 / 9783741255120 |
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