Biografie (eBook)
896 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31548-6 (ISBN)
Maxim Biller, geboren 1960 in Prag, lebt seit 1970 in Deutschland. Von ihm sind bisher u.a. erschienen: der Roman »Die Tochter«, die Erzählbände »Sieben Versuche zu lieben«, »Land der Väter und Verräter« und »Bernsteintage«. Seinen Liebesroman »Esra« lobte die FAS als »kompromisslos modernes, in der Zeitgenossenschaft seiner Sprache radikales Buch«. Billers Bücher wurden in neunzehn Sprachen übersetzt. Bereits nach seinem Erstling »Wenn ich einmal reich und tot bin« (1990) wurde er von der Kritik mit Heinrich Böll, Wolfgang Koeppen und Philip Roth verglichen. Zuletzt erschienen sein Memoir »Der gebrauchte Jude« (2009), die Novelle »Im Kopf von Bruno Schulz« (2013) sowie der Roman »Biografie« (2016), den die SZ sein »Opus Magnum« nannte. Sein Bestseller »Sechs Koffer« stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2018. Über den Roman »Der falsche Gruß« (2021) schrieb die NZZ: »Das ist große Kunst.«
Maxim Biller, geboren 1960 in Prag, lebt seit 1970 in Deutschland. Von ihm sind bisher u.a. erschienen: der Roman »Die Tochter«, die Erzählbände »Sieben Versuche zu lieben«, »Land der Väter und Verräter« und »Bernsteintage«. Seinen Liebesroman »Esra« lobte die FAS als »kompromisslos modernes, in der Zeitgenossenschaft seiner Sprache radikales Buch«. Billers Bücher wurden in neunzehn Sprachen übersetzt. Bereits nach seinem Erstling »Wenn ich einmal reich und tot bin« (1990) wurde er von der Kritik mit Heinrich Böll, Wolfgang Koeppen und Philip Roth verglichen. Zuletzt erschienen sein Memoir »Der gebrauchte Jude« (2009), die Novelle »Im Kopf von Bruno Schulz« (2013) sowie der Roman »Biografie« (2016), den die SZ sein »Opus Magnum« nannte. Sein Bestseller »Sechs Koffer« stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2018. Über den Roman »Der falsche Gruß« (2021) schrieb die NZZ: »Das ist große Kunst.«
Erstes Buch
1 Party bei Walhalla Film
Vielleicht, aber nur vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn Noah Forlani, mein Freund und Bruder, an Silvester 2005 nicht nach Berlin geflogen wäre, wo er bei einer kleinen, verwirrenden Filmparty in der Schliemannstraße 12 erst den Tisch mit den Wasabi-Canapés und dem südafrikanischen Prosecco umwarf und danach Ethel Urmacher vor allen Leuten die linke Wange streichelte. War also alles seine eigene Schuld? Er hätte genauso zu Hause in Herzlia Pituach bleiben können, wo seine etwas zu klein geratene Frau Merav mal wieder ein Essen gab, bei dem zehn langweilige Israelis den ganzen Abend leise sprechend um ihren drei Kilometer langen Mogensen-Tisch herumstanden und Krevetten auf Rucola aßen. Ja, genau die Merav – die mit dem Nan-Goldin-Komplex, den Prada-Stilettos, dem eher warmen als kalten Herzen und der unangenehmen Angewohnheit, Noahs Freunden extra muros zu erzählen, er könne nur, wenn er sich in einem schmutzigen Hemd aufs Bett setzte, die Hände ans imaginäre Steuer legte und zu ihr sagte: »Und, Kleine, wohin soll ich dich mitnehmen?«
Ich war in dieser Nacht nicht in Berlin und nicht in Herzlia Pituach, und wäre ich nicht nach Prag gefahren, um die Saunasache und alles andere zu vergessen, hätte Noah auch nicht meine Wohnung niederbrennen können – und die Shylock war hier-Datei wäre noch da und Noah nicht ein ganzes Jahr tot gewesen. Aber vielleicht wäre es, was mich angeht, noch klüger gewesen, in Herzlia Pituach bei Meravs Abendessen dabei zu sein und eine von diesen Tel Aviver Cantina-Schabracken kennenzulernen, die zwar alle genug jiddische Mame in sich haben, aber trotzdem wissen, dass beim Sex die Finger der Frau nicht dazu da sind, heimlich unter der Bettdecke zu zählen, wie lange es noch dauert, bis der zukünftige Ehemalige endlich k.o. gehen wird.
Während ich, der alleswissende, nichtsverstehende Solomon Karubiner, in Prag auf einem Balkon des Hotels U Dvou koček stand, auf dieses blasse frühkapitalistische Silvesterfeuerwerk über dem Hradschin guckte und überlegte, was der Unterschied zwischen Neoliberalismus und Kommunismus war – kommt darauf an, wer fragt –, rutschte Noah in Berlin fast aus bei dem Versuch, sich Gerry Harper zu nähern, in Brentwood und Umgebung wegen seiner sexuellen Möglichkeiten auch »El Dick« genannt. Gerry war mit Tal »The Selfhater« Shmelnyk da, dem manischen, rotgesichtigen, matzebrotdünnen Israeli, der für Noah das zweite Goebbels-Video drehen sollte, was er aber noch nicht wusste. Noah wollte Gerry ein gutes neues Jahr wünschen. Er wollte ihn auch fragen, ob sie sich nicht mal in L.A. sehen könnten – entre nous –, er habe dort wegen der Beteiligung an einem Fairtrade-Kosher-Nacho-Inn bald zu tun. Und er wollte ihm sagen, aber erst später, er könne nur in der Gegenwart besonders berühmter, bedrückter Leute seine eigenen Geld- und Post-Holocaust-Depressionen vergessen. Vor allem, wenn diese Leute wie Gerry »El Dick« Harper im letzten Bryan-Singer-Film den neuen Obernazi Tom Cruise an die Wand gespielt hatten, an der dieser zum Schluss von den anderen Gojim in gehackte Leber verwandelt wird.
Noah machte, nachdem er das Gleichgewicht wiedererlangt hatte, einen Schritt zu viel. Er stand jetzt so dicht vor Gerry, dass der genauso tief in seine aufgerissenen Augen blicken konnte wie ein Betrunkener in die Toilette, in die er sich übergeben wird. Und während Noah noch den Mund öffnete, um wie immer etwas völlig Falsches zu sagen, und sich dabei wie in einem Film vorkam, der in Superzeitlupe lief, sagte Gerry: »Easy, du Homo.« Easy, du Homo? Noahs Film rollte langsam weiter, Noah dachte, wo ist Mamas Kamera, die mich schon wieder filmt, und er sagte gleichzeitig: »Ähm … Happy New Year, Gerry!« Dann küsste er ihn auf beide Wangen, wie es sonst die Alten und die Jungen an Roschaschana in der Synagoge tun, er leckte ein bisschen zu lange das Gesicht des besten Freunds von Owen Wilson, Conan O’Brien und Senator Kennedy ab, und der Rest von Noahs Film lief im Zeitraffer. El Dicks Faust flog gegen Noahs platte, tatarische Nase, worauf Noah in den Tisch mit den Wasabi-Canapés und dem Prosecco stürzte. In diesem Moment wusste Noah noch nicht, dass er bald keinen Cent mehr haben würde, nichts mehr von dem sagenhaften Schatz, den sein Vater, der alte Schloimel Forlani, in fünfzig schnellen Nachkriegsjahren zusammengeklaut hatte. Aber es fühlte sich schon genauso an.
Fünf Sekunden später kam Ethel Urmacher ins Spiel. Ethel war groß und ein bisschen fett – aber wer sie im Badeanzug sah, dachte, so fett ist sie gar nicht, und wenn ihre Pflaume nicht so groß ist, wie sie eigentlich sein müsste, wenn sie so angenehm schmeckt wie Rosenwasser in einem japanischen Shintotempel (das fiel mir gerade so ein) und denselben pH-Wert hat wie die eigene Zunge, dann, ja dann könnte sie sogar die Frau fürs Leben werden. Noah hatte Silvester 2005 aber schon die Frau fürs Leben, und zwei Kinder hatte er auch mit ihr, und obwohl er und Merav seit Tisch b’Aw 5763 nicht mehr Autostopp gespielt hatten, stand auf keinem der vielen kleinen Notizzettel, die überall in seinen Taschen steckten: »Merav in den Arsch treten, ihr das Haus und den Rest von allem überschreiben und zu Ethel ziehen.« Doch. Aber erst viel später.
Noah kannte Ethel seit der achten Klasse. Er und ich kannten uns auch seit der achten Klasse, aber während wir beide fast immer alles zusammen gemacht hatten – Hausaufgaben, Rekordmasturbieren, das Valium und die Kondome unserer Eltern ausprobieren, Strandhosen von Dries van Noten zum Schreiben anziehen, vorletzte Silben zu lang dehnen –, verband Noah und Ethel nur ein paar Jahre derselbe Schulweg. Rutschbahn, Hallerplatz, die Bogenstraße hoch bis zum HLG, wo Ethel im ersten Stock nach links abbog, während Noah weiter in den dritten musste, und nach der Schule wieder dieselbe Strecke zurück.
Damals war Noah sexuell noch in der Übergangsphase. Die Schläge der polnischen Kinderfrauen, mit denen er aufgewachsen war, brannten auf seinem Rücken und seinem Arsch, wann immer er an sein Leben zwischen dem zweiten und siebten Jahr dachte. Das passierte dreimal am Tag, und dass er davon eine Erektion bekam, fiel ihm auf, aber nicht, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Ständer und der Erinnerung an die bösen, bösen Frauen gab. Das begriff er erst viel später, 1985, auf Sardinien, in diesem kleinen, nach Putzmitteln stinkenden Hotel in Punta del Giorno, wo wir unsere Wir-schreiben-jetzt-beide-einen-Roman-Ferien machten. Dort gab es, als Sommer- und Herbstdauergast, diese unglaubliche, riesige, englische Kuh, die mit uns am liebsten Fangen spielte. Ja, Fangen. Wir rannten um den Pool hinter ihr her, oft stundenlang, und natürlich griff auch ich ab und zu in ihre speckigen Hüften, aber mir gab das nicht viel. Noah wollte, wenn er sie hatte, dass sie ihn gegen das bröckelnde Mäuerchen neben dem Strandcafé drückte, und war niemand in der Nähe, zog er seine Wasserpumpgun raus, schob sie der Engländerin mit dem Griff in die Hände und bat sie, ihm einen kräftigen Schuss zwischen die Augen oder, noch besser, auf den nackten Bauch zu verpassen. Zu der Zeit dachte Noah bereits, er sei pervers. Aber war er das wirklich? Hätte er dann nicht wenigstens als Dreizehnjähriger Ethel Urmacher auf dem Weg vom HLG ins Grindelviertel angefleht, ihn ins Gebüsch zu stoßen oder ihm von hinten in die Hacken zu treten? Dass für ihn Gewalt plus Ständer gleich Liebe war, begriff er erst auf Sardinien. Warum? Weil ihn der Wasserstrahl, der ihn traf, zwar happy machte, sehr happy, aber nicht verliebt. Was ist der Unterschied zwischen Liebe und Sex? Wie soll ich, Soli Karubiner, der Sohn eines Familienstalin und einer treulosen Mutter, das wissen, wenn ich selbst nicht weiß, was Liebe ist?
Als Ethel sich an Silvester 2005 über Noah beugte, hatten die beiden sich seit fast zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. »Schlimm?«, sagte Ethel. Sie hatte Noah nicht erkannt. Sie guckte in ein hübsches schmales, dämliches Gesicht, an dem ihr zuerst auffiel, dass es zwar rasiert war, aber nicht überall. Kleine braune Büschel klebten am Hals und unter dem Kinn, und sofort blinkte in Ethels Erinnerung ein anderes Gesicht auf. Als würde sie im Dunkeln fotografieren, leuchtete immer wieder, wie vom Blitz erhellt, die aufgescheuchte Miene dieses unglaublich süßen, schlecht rasierten Kerls auf, der damals, wenn sie ihn fragte, was er nach der Schule noch mache, frech stotterte: »Ich hol mir einen runter.« Pause. »Nein, das war ein Witz, Ethelein. Ich mach Hausaufgaben, dann würge ich den Weltraumfraß meiner Mutter herunter, und dann gucke ich mit meinen Eltern und Thekla, unserem einbeinigen bayerischen Dienstmädchen, bis zwei Uhr nachts fern. Das war übrigens kein Witz.« Es war zwar genauso, wie Noah sagte, nur dass er immer wieder in seinem Zimmer verschwand, sich aufs Bett warf und den Bauch und alles andere, was er unten hatte, so oft gegen die Matratze stieß, bis er kam.
»Schlimm?«, wiederholte Ethel, und in ihrem Kopf klingelte es wie bei Börsenschluss in New York. Dann sagte sie: »Noah? Noah Forlani? Ich dachte, du bist verheiratet und lebst in Tel Aviv.«
Noah, benommen von Gerrys Boxschlag, hatte auch eine Vision. Das runde jüdische Frauengesicht, behängt mit dichten, fettigen Locken, das sich so unerwartet über ihn beugte, blieb in dieser Vision allerdings, wie es war. Er sah kein beglückendes inneres Blitzlichtgewitter wie Ethel, er hatte kein metaphysisches Wiedersehensgefühl oder den Eindruck, seine Gene...
Erscheint lt. Verlag | 30.3.2016 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Esra • Familie • Freundschaft • hollywood-film • Holocaust • Juden-Verfolgung • Literarisches Quartett • maxim biller • Moralische Geschichten • Tel Aviv |
ISBN-10 | 3-462-31548-X / 346231548X |
ISBN-13 | 978-3-462-31548-6 / 9783462315486 |
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