Der Geruch von Häusern anderer Leute (eBook)

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2016 | 1. Auflage
352 Seiten
Carlsen Verlag Gmbh
978-3-646-92876-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Geruch von Häusern anderer Leute -  Bonnie-Sue Hitchcock
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Alyce weiß nicht, wie sie Fischen und Tanzen in Einklang bringen soll. Ruth hat ein Geheimnis, das sie nicht mehr lange verbergen kann. Dora will ihren Vater nie wieder sehen und wird von Dumplings Familie aufgenommen. Hank und seine Brüder hauen von zu Hause ab, doch einer von ihnen gerät dabei in große Gefahr. Und trifft auf Alyce ... Hier, unweit des nördlichen Polarkreises, wo der Alltag manchmal unerbittlich ist, kreuzen sich ihre Lebenswege immer wieder. Sie kommen einander näher, versuchen einander zu retten. Und wenn man es am wenigsten erwartet, gelingt es. Deutscher Jugendliteraturpreis 2017

Bonnie-Sue Hitchcock ist in Alaska geboren und aufgewachsen. Sie war viele Jahre mit ihrer Familie in der Fischerei tätig und zog ihre Kinder auf einem Boot groß. Außerdem arbeitete sie als Reporterin für Alaska Public Radio und war Moderatorin und Produzentin der 'Independent Native News' mit Schwerpunkt auf den indigenen Völkern Nordamerikas.

Bonnie-Sue Hitchcock ist in Alaska geboren und aufgewachsen. Sie war viele Jahre mit ihrer Familie in der Fischerei tätig und zog ihre Kinder auf einem Boot groß. Außerdem arbeitete sie als Reporterin für Alaska Public Radio und war Moderatorin und Produzentin der "Independent Native News" mit Schwerpunkt auf den indigenen Völkern Nordamerikas.

Prolog

Damals

Ruth, 1958 – 63

Ich weiß noch genau, wie es damals war. Mein Vater ging auf die Jagd und hängte die Hirsche in der Garage ab. Wenn er ihnen den Bauch aufschlitzte, spreizten sie die Vorderläufe, und die Hufe zeigten nach unten wie die Zehenspitzen einer Ballerina. Ich sah ihm oft beim Zerlegen der Tiere zu und ich habe noch genau im Ohr, wie das Messer metallisch über den Knochen schabte. Den Hirschrücken aß ich am liebsten, er war das beste Stück, und Daddy schnitt ihn ebenso kunstvoll von der Wirbelsäule, wie Mama Schleifen kräuselte, wenn sie Geschenke einpackte. Dann trug er das rohe Fleisch mit bloßen Händen ins Haus. Auf dem Weg in die Küche tropfte Blut auf den Boden und hinterließ eine rote Spur auf Mamas glänzendem Linoleum.

Manchmal brachte Daddy mir das noch warme Herz eines Hirsches in einer Schüssel und ich durfte es berühren. Dann beugte ich mich vor, küsste das zarte rote Fleisch und hoffte, den Herzschlag zu spüren. Aber das Herz hatte längst aufgehört zu schlagen. Mama nannte Daddy dann immer lachend einen richtigen Daniel Boone und schmiegte ihr Gesicht an seinen Nacken. Er fuhr ihr mit blutigen Fingern durch die Locken, und sie tanzten gemeinsam durch die Küche. Mama hatte die Angewohnheit, überall im Haus Wildblumen in leeren Whiskeyflaschen zu verteilen. In der Küche standen Lupinen und Fingerhut, im Bad Flieder. Mama roch wie die Tundra nach starkem Regen, und selbst mit Blut im Haar war sie wunderschön.

Ich stand in dem rosa Tutu, das Daddy mir von einer Reise in den Süden mitgebracht hatte, auf einem Stuhl neben dem Herd, damit ich sehen konnte, wie Mama das Fleisch zubereitete, und malte ein Bild. Zu dem Tutu gehörten rosa Ballettschuhe, die ich ununterbrochen trug, selbst im Bett. Mama hatte mir eins von Daddys großen Flanellhemden übergezogen, damit ich mein schickes neues Tutu nicht schmutzig machte. Das Hemd reichte mir bis zu den Füßen, und die Ärmel waren so oft aufgerollt, dass sich meine Arme wie Zimtschnecken anfühlten. Ich versuchte, ein Rot anzumischen, das genauso aussah wie das Rot in Mamas Haar, aber ich schaffte es nicht. Ich panschte einfach alle Farben zusammen, und es wurde braun.

Daddy sagte oft Dinge, die ich nicht verstand, zum Beispiel, dass wir bestimmt nicht mehr auf die Jagd gehen durften, wenn das Bundesstaatsgesetz durchkam, und dass die Feds uns überrollen würden. Als Fünfjährige dachte ich, das Bundesstaatsgesetz wäre ein großes Auto. Wer die Feds waren, wusste ich nicht, aber Daddy war überzeugt, dass sie uns vorschreiben würden, wie viele Hirsche und wie viel Lachs wir essen durften. Mamas Bauch wurde dick und rund, und selbst ich wusste, was das bedeutete: Unsere Familie bekam Zuwachs. Ein hungriges Maul mehr, das wir satt kriegen mussten. Daddy zog gern Mamas Hemd hoch und küsste ihren prallen Bauch, so wie ich die Hirschherzen küsste.

»Schlägt das Herz dadrin auch nicht mehr?«, fragte ich Daddy, denn Mamas Bauch war so weiß wie der einer Hirschkuh.

»Doch, dieses Herz schlägt eindeutig«, sagte er. »Mach dir keine Sorgen.«

Es stellte sich heraus, dass das Bundesstaatsgesetz kein neues Auto war, sondern etwas viel, viel Größeres. Um es vielleicht doch noch im letzten Moment zu verhindern, flog Daddy nach Washington, D. C. Als er aus dem Flugzeug stieg, musste er seinen Pass vorzeigen, und niemand dort ging jagen oder fischen. Er musste sich auch neue Schuhe kaufen, weil er bei einer Anhörung erklären sollte, warum wir alle wollten, dass Alaska ein Territorium blieb und kein Bundesstaat der USA wurde. Außer denen natürlich, die es wollten, aber die waren nicht unsere Freunde.

Daddy erklärte mir, dass die meisten Leute sich einen Dreck darum scherten, was in Washington, D. C., passierte, aber sie würden schon noch dumm gucken, wenn Leute aus dem Süden über unsere Köpfe hinweg Entscheidungen treffen würden. Ich hatte keine Ahnung, wer diese Leute aus dem Süden waren, aber ich hoffte, dass ich ihnen nie begegnen würde.

Als der Brief kam – der Umschlag trug einen Stempel mit einer Flagge, die ich noch nie gesehen hatte – und Mama ihn las, begannen ihre Hände zu zittern. Ihre Lippen bewegten sich, aber es kam kein Laut. Trotzdem wusste ich, dass es eine schlechte Nachricht war, denn sie sank zu Boden, umklammerte ihren Bauch und machte Geräusche, wie ich sie nur von wilden Tieren kannte.

Lily kam, einen Tag nachdem der Brief bei uns eingetroffen war, zur Welt, aber ich glaube, Mama sah sie gar nicht richtig, denn nach der Geburt waren ihre Augen ganz leer. Als die Krankenschwester fragte, wie das Baby heißen solle, sagte Mama: »Lily«, aber sie starrte dabei auf die Lilien neben ihrem Bett und nicht auf das rosa Bündel, das in eine Krankenhausdecke gehüllt war. Das Bündel schrie, als wollte es uns sagen, dass es auch keine Lust hatte, hier zu sein. Gran war für die Geburt ins Krankenhaus gekommen, und hinterher blieb Mama in dem Zimmer zurück, während Gran mich und Lily in ein stinkendes braunes Auto mit Brandlöchern in den Sitzen verfrachtete. Es war bestimmt nicht gut, wenn ein Neugeborenes die verqualmte Luft in dem Auto einatmete, dachte ich, aber Lily lag einfach nur reglos da, während ich mir auf dem Weg zu Grans Haus in Birch Park den Schal vor den Mund hielt.

»Deine Mama braucht noch etwas Zeit«, sagte Gran und erklärte mir, was in dem Brief gestanden hatte. Das Flugzeug meines Vaters war in Kanada abgestürzt, unweit der Grenze zu Alaska. Gran sagte, er und die anderen Männer seien auf dem Rückweg von der Anhörung gewesen. Grans Tonfall verriet mir, dass sie nicht fand, Daddy sei ein »tapferer Mann« gewesen, der »sich unermüdlich für Alaska eingesetzt hatte«, so wie es in dem Brief stand. Als Gran diesen Satz las, schnaubte sie und putzte sich dann die Nase.

Hinterher sagte sie: »Du kannst ruhig weinen, aber davon kommt er nicht zurück.«

In dem Haus in Birch Park roch es nach alten Leuten. Das war mir vorher nie aufgefallen, aber wir waren auch nur selten bei Gran zu Besuch gewesen. Hier gab es keine Wildblumen in leeren Whiskeyflaschen und keine frisch geschossenen Hirsche, die von einem Deckenbalken hingen. Das Fleisch im Kühlschrank war grau und lag in Styroporschalen, die mit Plastikfolie umwickelt waren. Es war völlig ausgeblutet. Ich beäugte es misstrauisch und bekam Heimweh.

Am nächsten Tag prangte auf der Titelseite der Zeitung in riesigen Lettern: »Wir haben’s geschafft!« Alaska war der neunundvierzigste Bundesstaat der USA geworden. Gran schnitt den Artikel aus und sagte, ich solle ihn gut aufbewahren, damit ich mich immer an diesen Tag erinnerte. Sie tat so, als wäre das mit dem Bundesstaat etwas Gutes. Ich wollte mich aber nicht erinnern. Ich wollte mich nur daran erinnern, wie es damals gewesen war, bevor dieser Blödsinn mit dem Bundesstaatsgesetz losging.

Als Mama am nächsten und übernächsten und überübernächsten Tag nicht zurückkam, nahm ich an, dass das Bundesstaatsgesetz auch ihr etwas angetan hatte. Hatte sie nicht den richtigen Pass dabeigehabt? Hatte sie die falschen Schuhe getragen? Vielleicht war sie aber auch nach Kanada gefahren und wie Daddy von einem schwarzen Loch verschlungen worden.

Ich wartete jahrelang auf Mamas Rückkehr und machte mir große Sorgen um Lily, weil ich fürchtete, sie würde nie erfahren, wie schön das Leben eigentlich war. Als der Fluss kurz vor meinem zehnten Geburtstag über die Ufer trat, dachte ich, jetzt wäre es endlich so weit – der Fluss rächte sich. Er schwoll an, wurde immer reißender, streckte seine große nasse Zunge aus und riss alles fort, was nicht niet- und nagelfest war. Daddy hatte Recht gehabt: Die Natur ließ sich nicht von den Menschen bändigen.

Ein rostiges Ölfass, eine blaue Plastikkühlbox und Konservendosen mit Pfirsichen und Obstsalat trieben die Second Avenue hinunter. Ein rotes Rüschenunterkleid blieb in Mr Petersons Erbsen hängen, und Lily lachte sich halb tot. Gran fuhr sie an, sie solle sofort damit aufhören. Ihr Gesicht war rot wie eine überreife Himbeere. Selbst bei einer Überschwemmung durfte man keine Witze über Unterwäsche machen.

Lily war mittlerweile fünf und völlig aus dem Häuschen, als der Wasserpegel stieg und wir mit einem Motorboot von der Haustür abgeholt wurden. Ich wünschte mir insgeheim, der Fluss würde immer weiter anschwellen und uns zurück in unser altes Leben tragen.

Doch das Boot brachte uns nur bis zur Highschool, die zwei Kilometer entfernt auf höherem Gelände stand. Lily verhielt sich, als wären wir spontan in den Urlaub gefahren, und tollte mit ihrer Freundin Bunny herum.

Ein Mädchen namens Selma hielt meine Hand, als man uns eine Spritze gab, und ich tat so, als umklammerte ich ihre Hand nur, um ihr einen Gefallen zu tun. In Wahrheit hatte ich schreckliche Angst vor der Nadel. Selma war genauso alt wie ich, aber tausendmal tapferer. Selma war das einzig Gute, was die Überschwemmung mit sich brachte.

Nach ein paar Tagen durften wir zurück in unser feuchtes, schimmeliges Haus in Birch Park. Wir hatten keine Möbel mehr. Als Ersatz bekamen wir ein paar alte Sachen, die mit dem Lastwagen aus Anchorage gekommen waren. Der Teppich gluckste noch wochenlang jedes Mal, wenn wir ihn mit unseren ausgetretenen Turnschuhen betraten. Bei jedem Schritt spuckte er braunes Wasser. Gran meldete sich als Ehrenamtliche bei der neuen Regierung des Bundesstaats und erstellte eine Liste mit allen Dingen, die die Leute bei der Überschwemmung verloren hatten. Manche Nachbarn übertrieben maßlos. Dora Peters’ Mutter setzte eine Waschmaschine und einen Trockner, einen...

Erscheint lt. Verlag 18.3.2016
Übersetzer Sonja Finck
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte Alaska • Belletristik • Gesicht • Portrait • Porträt • Roman
ISBN-10 3-646-92876-X / 364692876X
ISBN-13 978-3-646-92876-1 / 9783646928761
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