Tage mit Leuchtkäfern (eBook)

Roman

(Autor)

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2016 | 1. Auflage
192 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-1270-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tage mit Leuchtkäfern -  Zoe Hagen
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»Das Leben ist ein Privileg«, sagte ich. »Das Leben ist ein Privileg?«, fragte Noah erstaunt. »Ja«, sagte ich. Noah zog die Luft ein, ein Lächeln umspielte seine Lippen. Er drehte sich zu Fred und den anderen um und fragte: »Wo zum Henker hast du denn den kleinen Gandhi hier her?« Du bist einsam und unglücklich, dein Leben wie ein falscher Film, der an dir vorbeiläuft. Bis du neue Freunde triffst. Gut, die sind alle ein bisschen verrückt, sie nennen sich »Der Club der verhinderten Selbstmörder«. Aber sie geben dir Halt und sind wie Leuchtkäfer in deiner bodenlosen Traurigkeit. Denn du hast nur das eine Leben.

Zoe Hagen, geboren 1994, steht regelmäßig mit ihren Texten auf der Bühne. 2014 wurde sie deutsche Vize-Meisterin der U20-Poetry Slammer. Ihr Debüt schrieb sie mit 17 Jahren binnen weniger Wochen. Damals hätte sie sich über mehr Glühwürmchen in ihrem Leben gefreut.

Zoe Hagen, geboren 1995, steht regelmäßig mit ihren Texten auf der Bühne. 2014 wurde sie deutsche Vize-Meisterin der U20-Poetry Slammer. Ihr Debüt schrieb sie mit 17 Jahren binnen weniger Wochen. Damals hätte sie sich über mehr Glühwürmchen in ihrem Leben gefreut.

23. Dezember


Lieber Gott,

Fred gehört dem geheimen Club der verhinderten Selbstmörder an. Sie nennen sich so, weil sie alle einen gescheiterten Selbstmordversuch hinter sich haben. Er hat mich zu einer ihrer Sitzungen eingeladen, und ich will dir erzählen, wie es da abläuft. Ich weiß nicht, was du dir darunter vorstellst, aber ich dachte, man sitzt im Kreis und redet über die Beschissenheit der Dinge und die Trostlosigkeit des Seins und verflucht das Leben schlechthin, dennoch jedoch unfähig, sich dieses zu nehmen. Aber so ist es ganz und gar nicht.

Fred hat mich zu sich nach Hause eingeladen, und ich hatte ein wenig Angst, das Angebot anzunehmen, weil ich dachte: Was ist, wenn er ein Irrer ist, total krank und mich zerstückelt oder so was in der Art? Aber ich habe mir doch vorgenommen, nicht mehr so passiv zu sein, sondern Gelegenheiten zu ergreifen. Da war sie nun mal vor mir und winkte. Und falls ich doch sterben sollte, so würde ich eine Menge Papier sparen, weil wir uns dann von Angesicht zu Angesicht unterhalten könnten. Wieder was für die Umwelt getan. Also sagte ich o. k., und wir verabredeten uns für heute. Ich weiß, dass ich vielleicht lieber zu Hause sein sollte, weil ja bald Weihnachten ist, das Fest der Familie und Liebe, aber das sind zwei Begriffe, die ich einfach nicht zusammenbekomme. Manchmal denke ich ja: Jetzt geht es gut. Jetzt bekomme ich es hin, lebe richtig und gut. Schätze das Leben und bin einfach glücklich. Dann schreibe ich dir auch diese euphorischen Briefe, so wie der vorletzte, und in dem Moment ist es auch keine Übertreibung. Ich denke dann wirklich, dass ich es schaffe. Aber rückblickend habe ich das Gefühl, als wäre das Glück jener Momente eine Illusion. Als säße ich in einer riesigen Seifenblase und stiege höher und höher, und irgendwann muss sie ja platzen. Aber ich will es nicht wahrhaben und denke, jetzt, jetzt wird alles gut. Neustart.

Aber man kann nicht immer neu starten. Manchmal muss man das Problem an den Wurzeln packen und durcharbeiten, um es aus der Welt zu schaffen. Alle wollen immer alles besser, schneller, neuer. Man nimmt sich keine Zeit mehr, wirklich nachzudenken. Das ist wie in der Ehe. Wusstest du, dass über 35 Prozent aller in einem Jahr geschlossenen Ehen wieder geschieden werden? Es klappt gerade nicht gut, also die Scheidung bitte. Das ist doch traurig, oder? Ich glaube, die Leidensbereitschaft der Menschen ist immens gesunken.

Auf jeden Fall ging ich also zu Fred. Er wohnt in so ’ner angesagten Friedrichshainer Altbauwohnung, ich persönlich finde ja Friedrichshain ein bisschen anstrengend. Aber seine Wohnung ist schön. Ich mochte schon das Treppenhaus. Das Treppengeländer ist olivgrün gestrichen, jedoch schon leicht blättrig, und die Wände sind weiß, also sie sollen weiß sein, denn an manchen Stellen blättert auch da bereits die Farbe ab, zudem sind sie bekritzelt, verschmiert, oder sagen wir lieber: kreativ verschönert. Auf ihnen stehen so inspirierende Dinge wie: »Timo ist ein Hurensohn«, »Mach ruhig mal Fehlär«, »Das Leben ist schön« und als direkter Kommentar darauf: »Deine Mudda ist schön.«

Ich stand also vor Freds Tür, unschlüssig ob ich nun klingeln sollte oder nicht, ich überlegte tatsächlich, einen Rückzieher zu machen. Dann schloss ich die Augen und drückte den Knopf. Warum schließt man eigentlich die Augen, wenn man im Begriff ist, etwas Mutiges zu tun? Sollte man der Gefahr nicht lieber entgegenblicken? Ich weiß es nicht. Das nächste Mal aber werde ich die Augen geöffnet lassen.

Ich klingelte, und von innen ertönte Freds Stimme.

»Ich komme! Nicht weggehen! Bleib, wo du bist! Das ist ein Befehl!« Mit einem Schwung wurde die Wohnungstür aufgerissen. Auf einmal war da Fred, umgeben von Zigarettenschwaden, grinsend, die Arme zu einer Umarmung ausgebreitet.

»Sehr gut, du bist noch da.« Er grinste mir zu.

»Hallo«, sagte ich etwas schüchtern. Manchmal wird einem erst bewusst, was man getan hat, wenn man mit der direkten Konsequenz konfrontiert wird. Ich hatte tatsächlich geklingelt. Und jetzt war ich hier und Fred dort, was auch immer das zu bedeuten hatte.

»Hallo«, erwiderte Fred. Dann umarmte er mich, was mich irritierte und gleichzeitig freute. Fred bat mich hinein und führte mich im Schnelldurchlauf durch die Wohnung. Links: Bad; rechts: Abstellkammer; vorne: Küche.

Das Wohnzimmer war komplett verqualmt. Hinter den Wolken erkannte ich vier grinsende Gesichter. Fred stellte sie mir der Reihe nach vor. Lynn, Noah, Amira und Fabien. Lieber Gott, ich will, dass du sie bildlich vor dir hast, so wie ich, wenn ich an sie denke, deswegen beschreibe ich sie dir, denn Shakespeare hat recht, was sind schon Namen? Namen lassen sich ablegen, Körper jedoch bleiben.

Fangen wir an: Lynn ist etwa zwanzig Jahre alt, sie ist nicht sonderlich groß, aber auch nicht wirklich klein. Sie hat wunderschöne schwarze Haut, sehr rein, keine Pickel oder so. Ansonsten sieht sie eher frech aus. Sie hat ein Nasenpiercing, das im fahlen Licht der Wohnzimmerlampe leuchtete und glitzerte, ihre Haare sind sehr lockig und zu einem Sidecut-Bob geschnitten. Ihre Augen hatte sie schwarz, gold, grün umrandet, sehr bunt, aber es stand ihr und bildete einen schönen Kontrast zu ihrer Haut. Trotz der Frisur und kräftigen Schminke wirkte sie aber keinesfalls aufgedonnert oder bedrohlich, im Gegenteil, ihr Lächeln war eher verführerisch, ihr Körper strotzte vor Weiblichkeit, volle Lippen und Kurven, obgleich ihre Statur eigentlich eher schmal war. Und ihre Oberweite, lieber Gott … Riesig, wirklich riesig. Ich konnte gar nicht wegschauen, was Fred sofort auffiel.

»Ja«, sagte er und grinste verschmitzt, »Whoopies Berge sind wahrhaft goldig.« Lynn zog vielsagend ihre rechte Augenbraue in die Höhe, dabei zwinkerte sie jedoch und streckte Fred die Zunge raus. Fred warf ihr daraufhin einen Luftkuss zu, den sie auffing, wie einen imaginären Geldschein zusammenfaltete und in ihren BH steckte, das alles nicht ohne Fred einen koketten Blick zuzuwerfen. Dieser lachte laut auf.

Noah würde ich etwas älter schätzen, vielleicht schon so dreiundzwanzig, vierundzwanzig. Er sah sehr nett aus. Also wirklich … sehr nett … Er trug einen weinroten, locker anliegenden Pulli mit weihnachtlichen Rentieren und Schneeflocken, der ihm trotz der Motive erstaunlich gut stand. Ohnehin sah er gut aus. Das meinte ich mit nett. Nett also gut. Was haben eigentlich alle gegen das Wort »nett«? Nett ist die kleine Schwester von scheiße. Das finde ich nicht. Weißt du, was die kleine Schwester von Scheiße ist: Kacke.

Aber das ist Noah ja nicht. Meistens schüchtern mich zu gut aussehende Menschen irgendwie ein, aber Noah ist im Besitz von einer Art Schönheit, die sich nicht in den Vordergrund drängt.

Er hat blaue Augen, kurze dunkle Haare, einen breiten Rücken, einen Dreitagebart. In seinem Mundwinkel baumelte eine Zigarette, die er auf französische Art rauchte, zur Enttäuschung aller Anwesenden leider keine Gauloise, sondern eine selbstgedrehte.

Er winkte mir lächelnd zu, und ich winkte schüchtern zurück.

Neben ihm auf dem Sofa saß Amira. Womit wir wieder beim Thema Schönheit wären. Im Gegensatz zu Noah jedoch war sie im Besitz jener Schönheit, die Aufmerksamkeit verlangt, der man diese geradezu erweisen muss. Ob sie das nun will oder nicht. Amira ist, es lässt sich nicht anders in Worte fassen, bildhübsch.

Sie hat wunderschöne lange, seidig schwarze Haare und ein noch schöneres Lächeln in einem anbetungswürdigen Engelsgesicht. Wäre die Unschuld eine griechische Gottheit, und hätte sie beschlossen, die Erde in Menschengestalt zu besuchen, Amiras Hülle wäre eine Ehre gewesen. Ich starrte sie an, vollkommen überwältigt. Sie lächelte und sagte: »Hallo.« Sogar ihre Stimme war schön. Ich weiß nicht, ob du das kennst, denn du bist ja Gott, und das kann man schwer toppen, aber es gibt diese Art von Mädchen, bei denen man heimlich inbrünstig hofft, dass sie einen absolut miesen Charakter haben oder wenigstens strohdumm sind, als Ausgleich oder eher Wiedergutmachung für ihr fabelhaftes Aussehen. Die Art Mädchen, die einem letztendlich nur ein schlechtes Gewissen bereitet, weil sie so unglaublich nett und rein ist, dass man sich schämt, allein den Anflug solcher Gedanken gehegt zu haben. Genauso ist Amira. Sie lächelte mich an und sagte: »Hallo.« Und das war’s. Ich wusste, ich mag sie.

Fabien ist Franzose, wie du dir vielleicht schon gedacht hast. Als Fred ihn mir vorstellte, stand er auf und küsste meine Hand.

»Ja, ja, der Franzose …« Noah zog spöttisch an seiner Zigarette, aber ich fand’s irgendwie nett. Fabien trug sogar einen Ringelpulli.

Und dann, ganz galant, bot er mir seinen Platz an und fragte, ob ich etwas trinken wolle.

»Was willst du, Wein, Bier, Cola, Schnaps, widerlichen Rote-Beete-Saft?« Er lächelte mir zu.

»Hey, nichts gegen meinen Rote-Beete-Saft!«, warf Lynn ein.

»Dein Rote-Beete-Saft«, stellte Noah fest, »ist ekelerregend.« Seine Augen funkelten schelmisch. »Ich mein, was soll’n das überhaupt sein, Rote-Beete-Saft? Entweder man trinkt, oder man isst. Nicht diese neumodische Hipster-Ökoscheiße, bei der man aus allem einen Saft machen muss. Was kommt als Nächstes, Pizza-Margarita-Saft? Thunfisch-Shake?«

»Rote-Beete-Saft, mein lieber Noah, hat überhaupt nichts mit Öko und Hipster zu tun. Das hilft einfach, den Eisenverlust auszugleichen, wenn ich meine Tage hab. Das ist einfach nur gesund. Oder ist das jetzt auch uncool, gesund zu sein?« Lynn begann sich eine Zigarette zu drehen. »Und ja, mir ist der Widerspruch zwischen meinen Worten und dieser Zigarette hier durchaus...

Erscheint lt. Verlag 14.3.2016
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Romane / Erzählungen
Kinder- / Jugendbuch
Geisteswissenschaften
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte All die verdammt perfekten Tage • Buch 2016 • Bulimie • Das Schicksal ist ein mieser Verräter • Jennifer Niven • John Green • Neu 2016 • Neuerscheinung 2016 • Neuerscheinungen 2016 • Poetry Slam • Selbstmord • Teenager
ISBN-10 3-8437-1270-0 / 3843712700
ISBN-13 978-3-8437-1270-5 / 9783843712705
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