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Die Liebesgeschichtenerzählerin (eBook)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
208 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-12151-5 (ISBN)
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Eine Reise von fünf Tagen und durch ein ganzes Jahrhundert. Der neue Roman des Büchner-Preisträgers Eine Frau, für ein paar Tage frei von Pflichten, Mann und Kindern, fährt im Januar 1969 von Den Haag über Amsterdam nach Frankfurt. Drei Liebesgeschichten aus den Zeiten der Kriege und Niederlagen gehen ihr durch den Kopf: ihre eigene, die ihrer Eltern, die einer Vorfahrin während der napoleonischen Kriege. Davon möchte sie erzählen, aber die Geschichten und Leben verflechten sich immer mehr: ein König, der die modernen Niederlande aufbaut; seine uneheliche Tochter, die in eine mecklenburgische Adelsfamilie gezwungen wird; ihr Urenkel, der als kaiserlicher U-Boot-Kapitän die roten Matrosen von Kiel überlistet, seiner schwarzen Seele entkommen möchte und zum Volksprediger wird; seine Tochter - die reisende Erzählerin selbst -, die ein gutes deutsches Mädel und trotzdem gegen die Nazis sein wollte und nun im Schreiben Befreiung sucht neben einem Mann, lächelnder Gutsbesitzersohn und Spätheimkehrer, der sich allmählich von ihr entfernt. Dem neuen Roman von Friedrich Christian Delius liegt die bewegte Geschichte seiner eigenen Familie zugrunde. Er erzählt die Reise einer Frau zwischen Scheveningen, Heiligendamm und deutschem Rhein, eine Reise von fünf Tagen und durch ein ganzes Jahrhundert.

Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, gestorben 2022 in Berlin, wuchs in Hessen auf und lebte seit 1963 in Berlin. Zuletzt erschienen der Roman «Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich» (2019) und der Erzählungsband «Die sieben Sprachen des Schweigens» (2021). Delius wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Seine Werkausgabe im Rowohlt Taschenbuch Verlag umfasst derzeit einundzwanzig Bände.

Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, gestorben 2022 in Berlin, wuchs in Hessen auf und lebte seit 1963 in Berlin. Zuletzt erschienen der Roman «Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich» (2019) und der Erzählungsband «Die sieben Sprachen des Schweigens» (2021). Delius wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Seine Werkausgabe im Rowohlt Taschenbuch Verlag umfasst derzeit einundzwanzig Bände.

1


Schreib das, schreib uns das, Marie, forderten die Stimmen, weither vom Meer wehende Stimmen, leiser als die in der Ferne lärmenden Wassermassen, unregelmäßiger als der Takt der Wellen, schmeichelnder als der Wind in den Ohren der Frau, die auf einer Bank der Strandpromenade von Scheveningen saß, den tiefen Atem übte und sich nicht wunderte über das, was sie da hörte –

 

Schreib das, schreib das auf, in dem raunenden Chor meinte sie auch die Stimme ihres Vaters zu erkennen, des kleinen Kapitäns, des alten Kadetten, wie sie ihn nannte, natürlich musste er hier am Meer, das sein Element war, wieder mitreden und mitflüstern, das ist was für dich, die Geschichte des Prinzen und seiner Liebschaft –

 

Eine Möwe wischte nah vorbei, noch eine zweite, die Frau im dunkelgrauen Wintermantel, mit bescheidenem Hütchen, blieb ruhig sitzen, sehr konzentriert, den Kopf gereckt wie im Konzert, sie horchte den fernen Stimmen nach, ließ den Blick weit hinaus über das bleistichige Meer zum Horizont streifen und hörte und lauschte in die eigene Stimme hinein –

 

In den eigenen Entschluss hinein, den Schatz dieser Geschichte zu heben, auftauchen zu lassen aus den Wellen der Vergangenheit, sie war ein bisschen stolz auf die Formulierung Wellen der Vergangenheit und überlegte, ob das ein Zitat war oder eine frische Erfindung, angeregt von der herrlichen Salzluft auf der Strandpromenade, von den Wellen wurden sie angetrieben, die alten Geschichten, aus den Wellen tauchten sie auf –

 

Du schreibst das jetzt, Marie, egal, was die andern wollen, sagte sie halblaut zu sich selbst, während ihr Blick an einem Schiff festhielt, einem winzigen Punkt am Horizont, und sagte es noch einmal, da niemand in ihrer Nähe war, in normaler Lautstärke: du schreibst das jetzt, als wollte sie damit die Aufforderungen der fernen Stimmen vertreiben, die Einmischungen des Kapitänvaters und der Verwandten und Freunde waren überflüssig und störend, solchen gutgemeinten Zuspruch brauchte sie nicht, suggestive Befehle schon gar nicht, der Plan war ihr eigener seit vielen Jahren –

 

Endlich, kurz vor der runden Fünfzig, konnte sie sich Zeit dafür nehmen, konnte sie sich leisten zu schreiben, nach einer spürbaren Gehaltserhöhung ihres Mannes und einer winzigen Erbschaft war die finanzielle Lage für die sechsköpfige Familie etwas weniger angespannt, endlich Schluss damit, kostbare Stunden mit dem Tippen von Doktor- und Examensarbeiten für ein bisschen Zuverdienst zu verschwenden –

 

Endlich war alles bereit, sie musste nur die Erwartungen der anderen, den Chor der fernen Stimmen aus dem Kopf verbannen, sie wollte die eigene Stimme finden und schaffte es endlich, immer stärker und klarer diese eigene Stimme zu hören im fernen Wellengetöse, es lag allein an ihr –

 

Und an dem Stoff, durch den sie sich, nun den zweiten Tag, im Den Haager Archiv gegraben hatte, ein Stoff, der viele Leute interessieren wird, der Skandal, die große Liebe, höfische Intrigen, der Held ein Prinz, der später der erste König der Niederlande wird, die Heldin eine tanzende Bäckerstochter, deren Kind die Urgroßmutter des Kapitänvaters wird, und alles vor dem malerischen Hintergrund der Historie, in Berliner und niederländischen Palästen, auf mecklenburgischen Gütern –

 

Die Geschichte deiner im Staub der Akten versteckten, geheimnisvollen Ururgroßmutter, die wirst du zu Papier bringen, niemand anders als du, die Geschichte nimmt dir keiner, sagte sie sich, Fontane hat auch erst in deinem Alter angefangen, gleich nächste Woche den Handlungsplan, mit den neuen Fundstücken und Fakten aus dem Archiv gibt es keine Ausreden mehr, du musst nur den väterlichen Imperativ vergessen und deinem eigenen folgen, endlich die große Liebesgeschichte, die du immer schreiben wolltest, du Liebesgeschichtenerzählerin, lachte sie und stand auf –

 

Ein milder Januarnachmittag mit erträglichem Wind, trotzdem konnte man nicht lange sitzen bleiben, nur wenige Spaziergänger mit zugeknöpften Mänteln ließen sich für einige Minuten auf den einladend weißen, geschwungenen Bänken der Strandpromenade nieder, die etwas angeberisch als Boulevard bezeichnet wurde, die Holländer sammelten sich in dieser Jahreszeit und in der Stunde vor der Dämmerung lieber in Cafés und Bierstuben –

 

Sie aber, die deutsche Touristin Marie von Schabow aus Frankfurt, konnte sich die Gelegenheit dieser majestätischen Aussicht auf die niederländische Nordsee nicht entgehen lassen, die Gelegenheit, die ungewohnte, kräftige Salzluft zu atmen nach dem Papier- und Aktentag im Königlichen Archiv, die Gelegenheit, vor der imposanten Küstenkulisse einen festen Entschluss noch fester zu fassen –

 

Sie atmete tief aus und tief ein, voll Vorfreude auf die anstehende Arbeit, und spürte gleichzeitig die Komik, gerade jetzt, da sie ihre Fruchtbarkeit verlor und auch im Winter unter Hitzeschüben zu leiden hatte und der Mann sich öfter zur Seite drehte und auf seiner Seite blieb, mit einer Liebesgeschichte anzufangen, mit Liebesgeschichten zu antworten, vielleicht half das ja zu neuem Schwung, hoffte sie und zog ihren Mantel zurecht und den Schal enger, schlenderte auf der Promenade weiter bis zu den Treppen, die zum Strand hinunterführten –

 

Mit den für solche Gänge schlecht geeigneten Halbschuhen stapfte sie über die Unebenheiten des Sandes, atmete kräftig, labte die Lungen mit kostenloser Meerluft, übte, langsam schreitend, wieder einmal das bewusste Atmen, kämpfte sich weiter voran bis zum helleren, härteren, weitflächigen Sandboden, auf dem nur wenige Spaziergänger längs des Wassers unterwegs waren, hier konnte sie das Wellenspiel besser beobachten als von der Promenade oben, es herrschte nicht Flut, es herrschte nicht Ebbe, irgendeine Phase dazwischen, sie kannte die Gezeitenfolge dieser Tage in Scheveningen nicht, sie war nur ein Gast hier –

 

Sie versuchte sich die Bilder einzuprägen, wie die graugrünen Wassermassen sich hoben, hochreckten und aufschaukelten, Kämme und Wasserkronen hochwehten, sich neigten und kippten, wie die gar nicht so hohen Wellen stürzten und schäumten und abflachten und sich zu neuen, aus der Unerschöpflichkeit der Meere gespeisten, dem Ufer entgegenrollenden Wasserbänken formten und türmten –

 

Wie zum ersten Mal bestaunte Marie das Wellenspiel, das kannte sie nur aus Filmen, aus Büchern, aus Erzählungen des Vaters, sie war ein Kind der Ostsee und, wenn man Hamburg nicht zählte, nie an der Nordsee gewesen, der Krieg und der Nachkrieg und dann das schmale Familiengeld hatten ihr solche Reisen nicht erlaubt, sie kannte nicht die tosende, nur die flüsternde, die halblaut schmatzende, die plätschernde See vor der Haustür Heiligendamm, nicht weit von der Doberaner Bismarckstraße –

 

Das Meer war das Element ihres Vaters gewesen, des kleinen Kapitäns, der in den U-Booten des Ersten Weltkriegs in der Nordsee, der Ostsee und vor allem im Mittelmeer herumgefahren und beim großen Schiffeversenken beteiligt gewesen war, beim Wettkampf des Zählens von versenkten Bruttoregistertonnen, von vernichteten oder schwer beschädigten Schiffen der Feinde, der kleine Kapitän, der die Tonnen, aber nicht die Matrosen und Passagiere gezählt hatte, die nach seinem Befehl oder mit seinem Zutun in den Wellen versunken waren –

 

Die wilden Meere, die Totenmeere, die Kriegsmeere blieben der Tochter unheimlich und fremd, sie überlegte, ob der Vater mit den Torpedos in seinen U-Booten durch den von England gesperrten Ärmelkanal, also vielleicht an Scheveningen vorbei, in den Atlantik vorgestoßen war, eine nutzlose Überlegung, sehr unwahrscheinlich, nur eine Phantasie, ausgelöst durch die Schiffe in der Ferne, den Katzensprung nach England hinüber –

 

Sie nahm sich vor, das zu Hause nachzulesen, der alte Kapitän hatte vor kurzem seine Lebenserinnungen aufgeschrieben für seine Kinder und Enkel, sie hatte die sofort und begierig durchstöbert und auch da gleich einen heimlichen Plan gefasst: welch eine Liebesgeschichte mit gereimten, im U-Boot geschriebenen Liebesgedichten für die schöne Generalstochter mitten im fürchterlichsten Krieg, auch diese Geschichte von Mutter und Vater wollte geschrieben werden, auch die verlangte nach ihr –

 

In diesem Moment, nahe den mächtigen Wellen stehend, kräftigen Wind auf der Gesichtshaut, langsam atmend, packte sie ein kurzes Heimweh nach ihren mecklenburgischen Orten, nach dem Elternhaus in Bad Doberan, nach der Fahrradstrecke von der Haustür, von der Bismarckstraße hinunter zum Strand von Heiligendamm, wieder kamen sie hoch, die Erinnerungen an die Kindheits-Ostsee, Familienausflüge, Strandfotos, an den Nachmittag, als sie überlegt hatte, ob sie dem Lächeln des Reinhard von Mollnitz nachgeben sollte mit der Aussicht auf eine Verlobung, die Lebensentscheidung von Heiligendamm, das sie seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte, ihr Stück Ostsee unerreichbar in der unerreichbaren Ostzone –

 

Aber sie mochte sich nicht im Heimweh verlieren, nicht als Vertriebene jammern, nicht undankbar sein, dafür konnte sie heutzutage jedes Ziel im Westen erreichen, das war nur noch eine Geldfrage, einfach von Frankfurt nach Den Haag fahren, in wenigen Stunden den Rhein entlang und über Köln und Amsterdam oder Rotterdam...

Erscheint lt. Verlag 11.3.2016
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Adel • Biografischer Roman • Deutsche Geschichte • Deutsches Kaiserreich • Erster Weltkrieg • Familiengeschichte • Fontane-Preis • Georg Büchner Preis • Historische Liebesromane • Liebesroman • Liebesromane • Niederlande • Vertreibung • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-644-12151-6 / 3644121516
ISBN-13 978-3-644-12151-5 / 9783644121515
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