Die große Kälte (eBook)
336 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-31561-7 (ISBN)
Rosa Ribas, geboren 1963 in El Prat de Llobregat, studierte Hispanistik in Barcelona und lebt seit 1991 in Frankfurt am Main. Sie hat bereits zahlreiche Romane veröffentlicht. 2014 erschien «Das Flüstern der Stadt», ihr erster gemeinsamer Roman und der erste Teil ihrer Trilogie über das Spanien der 50er Jahre. 2016 folgte mit «Die große Kälte» der zweite Teil. Für «Auf der anderen Seite der Ramblas» wurden die Autorinnen mit dem Preis des Krimifestivals Valencia Negra ausgezeichnet.
Rosa Ribas, geboren 1963 in El Prat de Llobregat, studierte Hispanistik in Barcelona und lebt seit 1991 in Frankfurt am Main. Sie hat bereits zahlreiche Romane veröffentlicht. 2014 erschien «Das Flüstern der Stadt», ihr erster gemeinsamer Roman und der erste Teil ihrer Trilogie über das Spanien der 50er Jahre. 2016 folgte mit «Die große Kälte» der zweite Teil. Für «Auf der anderen Seite der Ramblas» wurden die Autorinnen mit dem Preis des Krimifestivals Valencia Negra ausgezeichnet. Sabine Hofmann wurde 1964 in Bochum geboren. Sie studierte Romanistik und Germanistik und arbeitete als Dozentin an der Universität Frankfurt am Main, wo sie auch Rosa Ribas kennenlernte.
1
Und falls sich der Chef doch geirrt hatte?
Sie stieg an der Plaza de España aus der Straßenbahn und war sicher, dass Señor Rubio zum ersten Mal in den drei Jahren, die sie nun für ihn arbeitete, falschlag. Ana blickte zu den öffentlichen Toiletten an der Ecke zur Calle Cruz Cubierta hinüber. Gerade strebte ein Mann auf das Häuschen zu, schon im Gehen streifte er sich die Handschuhe ab.
Es war eindeutig ein Fehler gewesen, sie zum Ort des Geschehens zu schicken. Keiner der Beteiligten würde ihr etwas erzählen. Nicht nur weil sie eine Frau war. Auch mit einem Mann würde niemand gerne darüber sprechen, weder die Arbeiterinnen der Glühbirnenfabrik noch die Männer, an die die verhaftete Kupplerin sie vermittelt hatte.
Wenn es einen Toten gab, war es einfacher. Der Tod machte die Menschen gesprächig, vor allem, wenn er nicht in ihrer Nähe zuschlug, sondern nur einen entfernten Verwandten, einen Nachbarn oder eine Zufallsbekanntschaft erwischte. So wie sich nach Beerdigungen zwangsläufig heftiger Hunger einstellte, löste ein Toter bei den Leuten nervöse Wortkaskaden aus, selbst wenn sie gerade einmal die Schuhspitze der Leiche gesehen hatten.
Aber bei einem Fall wie dem der Kupplerin, die offiziell als Losverkäuferin unterwegs war, wollte niemand etwas gewusst haben. Glaubte ihr Chef etwa, dass die Mädchen aus der Fabrik, die sich mit den arrangierten Rendezvous etwas dazuverdienten, mit Ana darüber reden würden? Wie stellte er sich derartige Gespräche vor?
«Hallo, bist du eine von den … na, du weißt schon …»
Er würde wohl auch nicht von ihr erwarten, dass sie um die Männertoiletten herumstrich und mögliche Kunden der Zwergin ansprach, wenn diese sich mit kaum verhohlener Eile näherten. Oder, noch besser, wenn sie weitaus langsamer wieder herauskamen, der eine oder andere noch mit seinem Hosenschlitz beschäftigt, und sie den Moment männlicher Erleichterung nutzte, um sie mit der Frage zu überfallen: «Verzeihung, mein Herr, gehörten Sie auch zu den Kunden von Paulina Sánchez?»
Da würden doch alle Männer sofort die Flucht ergreifen. Die einen, weil es ihnen peinlich war, just in diesem Moment auf einen unbekannten Namen angesprochen zu werden, die anderen, weil sie wussten, was es mit Paulina Sánchez auf sich hatte, auch wenn diese als «Losverkäuferin» oder «Lottozwergin» bekannt war, und sie würden Ana für einen Polizeispitzel halten.
Die Frau war vor drei Tagen aufgrund der anonymen Anzeige einer Arbeiterin aus der Glühbirnenfabrik «Z» in der nahegelegenen Calle de México verhaftet worden. Jeden Morgen hatte sie mit ihren Losen von der Blindenlotterie an der Wand des Toilettenhäuschens gesessen. Den Namen «Lottozwergin» hatte sie bekommen, weil sie nicht größer als einen Meter dreißig war. Ihre Wirbelsäule knickte nach vorn ab, sodass ihr Rumpf nicht wesentlich länger wirkte als ihr riesiger Kopf. Ihre Beine waren so kurz, dass die Füße den Boden vor ihrem Stuhl nicht berührten.
Ana hatte sie auf dem Polizeifoto erkannt, das Rubio ihr gezeigt hatte. Sie hatte die Zwergin oft hier gesehen, die Los-Coupons an die Brust geheftet und immer inmitten einer Traube von Männern. Jetzt wusste Ana, dass die Männer keine Lose gekauft hatten.
Lange hatte Paulina Sánchez als Kupplerin gearbeitet, und alles schien gut zu laufen: Die Männer kamen zu ihr, damit sie ihnen eines der Mädchen aus der Fabrik vermittelte. Sie nannten ihre Vorlieben hinsichtlich Alter, Körperbau oder Haarfarbe, so wie andere Kunden sie um Lose mit ungeraden Nummern, einer Acht am Ende oder ohne Fünf in der Ziffernfolge baten. Die Losverkäuferin vereinbarte mit ihnen Tag und Uhrzeit und gab ihnen die Adresse des Etablissements. Dieses Verfahren hatte reibungslos funktioniert, bis irgendein Rädchen aus der Spur geraten war und es zerstört hatte. Eine der Frauen konnte es nicht gewesen sein, sie hatten kein Interesse daran, ihre Tätigkeit öffentlich zu machen. Ana glaubte nicht an die offizielle Version, der zufolge eine der neuen Arbeiterinnen die Zwergin angezeigt hatte, aus moralischer Empörung darüber, dass diese es gewagt hatte, ihr ihre Dienste anzubieten.
Obgleich sie nicht erwartete, weitere Informationen für ihren Artikel zu bekommen, schlenderte sie einen Moment lang zwischen dem Toilettenhäuschen und der Bar La Pansa auf und ab. Hin und wieder warf sie einen Blick auf ihre Uhr, damit es so aussah, als wartete sie auf jemanden. Irgendetwas – vielleicht ihr journalistischer Instinkt, vielleicht ihre Sturheit, vielleicht die Erfahrung aus vier Berufsjahren – hinderte sie daran, den Platz zu verlassen und Rubio mitzuteilen, dass es dieses Mal nichts genutzt hatte, vor Ort zu sein und, wie ihr Chef zu sagen pflegte, sich die Füße im Schlamm der Straße schmutzig zu machen.
Schmutzig waren ihre Füße genau genommen zwar nicht, dafür aber eiskalt. In den Zeitungen hieß es, die Temperaturen seien in diesem Winter so niedrig wie seit Jahren nicht mehr. Die Kollegen, die am meisten zu Übertreibungen neigten, sprachen schon von einer «neuen Eiszeit im Jahre 1956».
Der feuchte und schneidende Januarwind hatte es jetzt geschafft, unter ihren Mantel zu kriechen. «Noch fünf Minuten, und dann gehe ich», hatte sie sich schon mehrmals gesagt, während sie auf dem Bürgersteig auf und ab marschierte, den Mantel fest um sich gezogen und die Arme vor der Brust verschränkt.
Während sie überlegte, ob sie sich in einem Café in der Nähe aufwärmen oder besser direkt nach Hause zurückkehren sollte, sah sie den Losverkäufer, der aus der Calle Cruz Cubierta kam. Er stützte sich mit der Rechten auf die Schulter eines Mädchens, dessen Zöpfe dicker als ihre Arme schienen. Das Mädchen führte ihn, und die beiden kamen zügig voran. Die Leute wichen ihnen aus, sobald sie sie bemerkten, und das Mädchen umging geschickt alle Hindernisse.
Der Blinde war ungefähr fünfzig Jahre alt. Wenn er nicht der Vater des Mädchens war, so musste er zumindest mit ihr verwandt sein. Seine Arme und Beine waren ebenfalls extrem mager, an dem windigen Tag klebte der Stoff seiner dünnen Hosen geradezu an den fleischlosen Waden. Seine wettergegerbte Haut war so dunkel, dass die Augäpfel hell hervortraten, als wären sie von innen beleuchtet.
Sie kamen an Ana vorbei. Der Mann hatte sich die Los-Coupons mit Stecknadeln an die Mantelaufschläge geheftet. Das Mädchen führte ihn bis zu einer sonnigen Stelle vor der Wand, an denselben Platz, an dem auch die Zwergin gesessen hatte. Dann kontrollierte sie, ob alle seine Mantelknöpfe geschlossen waren, und verabschiedete sich. Der Blinde tätschelte ihr die Wange.
Bevor das Mädchen in die Straßenbahn in Richtung Paralelo stieg, drehte es sich immer wieder um, als ob es sich vergewissern wollte, dass es den Mann auf den richtigen Platz gesetzt hatte.
Vielleicht hatten sie eine Vorahnung, weil sie so oft vor Ort auf der Straße gewesen waren, vielleicht lag es auch einfach nur daran, dass sie eiskalt waren – jedenfalls waren es Anas Füße, die die Initiative ergriffen. Ihr Kopf fing erst an, einen Plan zu entwerfen, als sie schon bei dem Blinden angelangt war.
«Das Glück! Das Glück!», rief der Mann aus, als er spürte, dass jemand vor ihm stand.
«Etwas Glück kann ich wirklich brauchen», sagte Ana.
«Das lässt sich machen.» Der Blinde ließ grinsend seine Finger über die Lose gleiten. «Hiermit.»
Ana verspürte leichte Gewissensbisse, weil sie die Tatsache ausnutzte, dass der Mann sie nicht sehen konnte. Ihre Kleidung hätte ihm sofort gesagt, dass sie keine Fabrikarbeiterin war. Sie trat noch etwas näher heran und murmelte: «Ich bräuchte etwas Zuverlässigeres. Einen kleinen Nebenverdienst.»
«Arbeitest du in der Fabrik?»
Die Frage verriet ihn. Wenn er von nichts gewusst hätte, hätte er erstaunt sein müssen.
«Ja.»
«Ledig oder verheiratet?»
«Verheiratet», log Ana.
«Also hast du die Premiere schon hinter dir. Kanntest du die Zwergin?»
«Ja. Sie hat mir manchmal geholfen.»
«Und weißt du, was ihr passiert ist?»
«Ja. Deshalb habe ich gedacht, dass Sie vielleicht …»
«Komm ein bisschen näher, Süße.»
Sie machte einen Schritt auf ihn zu, als ob sie die Losnummern an seinem Mantel lesen wollte. Eine widersprüchliche Geruchsmischung schlug ihr entgegen: Waschmittel und säuerlicher Schweiß. Aber er ließ ihr keine Zeit zu spekulieren, ob er saubere Kleidung trug, weil das Mädchen sie ihm wusch. Eine knochige Hand fuhr über ihren Körper, den Arm hinauf, zu ihrer linken Brust, hinab zur Taille und suchte unter dem Mantel den Weg zwischen ihre Beine.
Ana sprang zurück. «Was machen Sie da?»
«Ich kann die Qualität der Ware nicht sehen wie die Zwergin. Mit der Figur verdienst du bestimmt ganz gut, oder?»
Sie unterdrückte den Impuls wegzulaufen. Wenn sie die demütigende Situation schon über sich ergehen ließ, sollte zumindest etwas dabei herausspringen.
Sie schloss den Mantelknopf, den der Blinde mit seinen dürren Fingern blitzschnell geöffnet hatte. «Also, können Sie mir weiterhelfen oder nicht?»
Der Blinde fing an zu lachen. «Ich? Nein, meine Süße. Ich wollte bloß mal etwas frischeres Fleisch in der Hand haben als das meiner Frau.»
«Sie sind ein Schwein!»
«Du hast doch wohl nicht geglaubt, dass wir Blinden von Natur aus bessere Menschen sind?»
Ana verschlug es für einen Moment die Sprache.
«Aber ich will mal nicht so sein. Ich habe was für dich.»
Er hob die Hand, mit der er sie betatscht hatte, und fuhr in der Luft den Weg über Anas Körper nach. Sie wich einen weiteren Schritt...
Erscheint lt. Verlag | 11.3.2016 |
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Reihe/Serie | Ana Martí ermittelt |
Barcelona-Krimi | |
Barcelona-Krimi | |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 50er Jahre • Aberglaube • Barcelona • Diktatur • Franco • Jahrhundertwinter • Journalistin • Kälte • Krimi • Kriminalroman • Landleben • Religion • Schnee • Spanien |
ISBN-10 | 3-644-31561-2 / 3644315612 |
ISBN-13 | 978-3-644-31561-7 / 9783644315617 |
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