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Der letzte große Trost (eBook)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
256 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-04821-8 (ISBN)
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Stefan Slupetzky, bisher als Krimiautor bekannt und vielfach ausgezeichnet, legt einen berührenden Roman über die Bürde der Geschichte und das Abschiednehmen vor. Friedenszeit in Österreich - seit zwei Generationen schon - ist für Daniel Kowalski eine Selbstverständlichkeit. Für seine Eltern war es das nicht. Sein seit langem verstorbener Vater entstammte einer der prominentesten Kriegsverbrecherfamilien der Nazizeit, in der Chemiefabrik des Großvaters wurde Zyklon B hergestellt. Daniels Mutter hingegen ist Jüdin und verlor ihre ganze Familie im Holocaust. Eines Tages erhält Daniel einen Brief seiner Großtante aus Israel. Sie teilt ihm mit, dass sie ein Haus aus Familienbesitz verkaufen will, in dem er seine Kindheit verbracht hat. Ob er es vorher noch einmal besuchen möchte? Als Daniel den Keller des Hauses entrümpelt, macht er eine Entdeckung. Er stößt auf ein Tagebuch, dessen Lektüre den Verdacht in ihm weckt, dass sein Vater seinen Tod nur inszeniert hat, um ein zweites Leben zu beginnen. Aber warum? War die Last der Geschichte zu erdrückend für diesen sensiblen Mann? Daniel beschließt, sich auf die Suche zu machen. Stefan Slupetzky hat seine eigene Familiengeschichte zum Anlass genommen, diesen ergreifenden Roman über das Reisen und die Suche nach Identität zu schreiben.

Stefan Slupetzky, 1962 in Wien geboren, schrieb und illustrierte mehr als ein Dutzend Kinder- und Jugendbücher, für die er zahlreiche Preise erhielt. Seit einiger Zeit widmet er sich vorwiegend der Literatur für Erwachsene und verfasst Bühnenstücke, Kurzgeschichten und Romane. Für den ersten Krimi um seinen Antihelden Leopold Wallisch, 'Der Fall des Lemming', erhielt Stefan Slupetzky 2005 den Glauser-Preis, für 'Lemmings Himmelfahrt' den Burgdorfer Krimipreis. 'Lemmings Zorn' wurde 2010 mit dem Leo-Perutz-Preis ausgezeichnet. Im selben Jahr gründete Slupetzky ein Wienerliedtrio, das Trio Lepschi, mit dem er seither als Texter und Sänger durch die Lande tourt. Stefan Slupetzky lebt mit seiner Familie in Wien.

Stefan Slupetzky, 1962 in Wien geboren, schrieb und illustrierte mehr als ein Dutzend Kinder- und Jugendbücher, für die er zahlreiche Preise erhielt. Seit einiger Zeit widmet er sich vorwiegend der Literatur für Erwachsene und verfasst Bühnenstücke, Kurzgeschichten und Romane. Für den ersten Krimi um seinen Antihelden Leopold Wallisch, "Der Fall des Lemming", erhielt Stefan Slupetzky 2005 den Glauser-Preis, für "Lemmings Himmelfahrt" den Burgdorfer Krimipreis. "Lemmings Zorn" wurde 2010 mit dem Leo-Perutz-Preis ausgezeichnet. Im selben Jahr gründete Slupetzky ein Wienerliedtrio, das Trio Lepschi, mit dem er seither als Texter und Sänger durch die Lande tourt. Stefan Slupetzky lebt mit seiner Familie in Wien.

Ruths Brief


Der Weg war ihm vertraut und fremd zugleich: Die Häuser schienen niedriger, die Straße enger. Wo es seinerzeit mit Bäumen und Gebüsch bewachsene Baulücken gegeben hatte, urwaldartiges und offensichtlich kaum zu bändigendes Grün, das regelrecht aufs Trottoir herausgewuchert war, da hatte sich die Phalanx der Gebäude mittlerweile fest geschlossen. Nur die Streckenführung selbst, die Abfolge von Kurven, Steigungen und Senken hatte sich anscheinend nicht verändert, und so stellte sich bei ihm das Bild eines historischen Theaters ein, auf dessen Bühne die Kulissen für ein zeitgenössisches Spektakel stehen.

Obwohl der Himmel klar war und die Luft, die durch das Seitenfenster in den Wagen strömte, kühl und trocken, lag ein Druck auf seinen Schläfen, schwer wie in der Schwüle eines nahenden Gewitters. Als die Häuserzeilen sich lichteten, sodass der Wald die Herrschaft übernahm, verstärkte sich die Unruhe. Zwei Kurven noch, dann musste links die Zufahrt sein. Ein schmaler Schotterweg, von Bäumen überdacht.

Holunderbüsche.

Eine Fliederhecke.

Und das Gartentor.

Er parkte den Mazda auf der kleinen Lichtung gegenüber, stieg dann aus und nestelte den Schlüssel aus der Tasche. Seine Hände waren kalt und taub, die Beine zitterten ein wenig, als er sich dem Eingang näherte. Das Vorgefühl eines Gewitters wuchs mit jedem Schritt, die ersten Blitze zuckten über seinen flimmernden Bewusstseinshorizont.

Seit siebzehn Jahren war er nicht mehr hier gewesen. Nicht mehr hier und auch an keiner anderen Stätte seiner Kindheit. All die Jahre seit dem Schlaganfall der Mutter war er immer nur ins Pflegeheim nach Klosterneuburg und anschließend gleich nach Wien zurückgefahren, er hatte nie den Weg verlassen, war nie abgewichen, so als quere er ein dunkles Moor und fürchte sich vor jedem noch so kleinen Fehltritt.

Nur dass dieses Moor in seinem Herzen lag: ein blinder Fleck in seiner Mitte, der sich – wie ein verlorenes Puzzleteil – durch nichts als durch die Ränder seiner angrenzenden Teile definierte.

Daniel Kowalski hatte sich mit diesem Mangel abgefunden; er betrachtete sich selbst mit jenem stillen Phlegma, das er auch seinem Beruf als Fotograf entgegenbrachte. Den Zweck der Dinge zu ergründen, die er täglich abzulichten hatte, war nicht seine Aufgabe, und so hatte er vor Jahren beschlossen, sich nicht mehr dafür zu interessieren. Es waren Objekte, deren Form, Textur und Farbe er zwar registrierte, deren Seele und Bestimmung aber keinerlei Bedeutung für ihn hatten. Wenn man bei Hydraulikkupplungen, Schlaffseilschaltern oder Achsmanschetten überhaupt von so etwas wie Seele sprechen kann.

Mit klammen Fingern schob er den Schlüssel ins Schloss. Er konnte ihn erst drehen, als er – die Erinnerung an diese kleine Finte hatte sich in seinen Gliedern festgesetzt – den Griff des Gartentors mit einem Ruck zu sich zog. Das Geräusch des aufschnappenden Riegels klang vertraut; es ähnelte dem Klicken eines Super-8-Projektors, der beginnt, den Film zurückzuspulen.

 

Mit zwölf Jahren hatte Daniel sich der Kunst verschrieben, hatte große, wenn auch vage Träume von sich selbst geträumt, in denen er (viril und selbstvergessen, unbeeindruckt vom eigenen Weltruhm) prächtige Gemälde schuf. Pablo Picasso war ein Jahr vorher in Mougins gestorben, und die Eltern hatten Daniel einen opulenten Bildband über den berühmten Andalusier geschenkt. Nun sah auch er sich in pompösen, von mediterranem Sonnenlicht durchströmten Ateliers zugange sein, inmitten eines Ozeans aus Farben, die sein Geist zu nie gekannter Schönheit ordnete. Empfindsam und entschlossen, energiegeladen, aber voller Zärtlichkeit: ein durch und durch begehrenswerter Mann, das wollte Daniel vor allem werden.

Als er an seinem fünfzehnten Geburtstag eine Kamera bekam, verblasste seine Schwäche für die Malerei. Man Ray war ein Jahr vorher in Paris gestorben, und die Fotografie rückte stärker denn je in den Fokus der internationalen Kunstszene. In Kassel widmete die documenta den Meistern der Fotokunst eine Sonderschau, deren Katalog auf verschlungenen Wegen in Daniels Hände gelangte. Er durchblätterte das Heft, bis dessen Seiten auseinanderfielen. Mit seiner Kamera durchstreifte er die Gegend auf der Suche nach Motiven, variierte und justierte, schoss ein Foto nach dem anderen, Bild um Bild und Film um Film. Nach einer Weile hatte er sich ausreichend in die Materie vertieft, um sich im Keller des Weidlingbacher Hauses eine kleine Dunkelkammer einzurichten.

Der Liebe zur Fotografie blieb Daniel auch nach seinem Schulabschluss treu. Er inskribierte an der Hochschule für Angewandte Kunst und galt bei seinen Studienkollegen bald als Spezialist für Fotomontagen und -installationen. Eine exquisite Hasselblad (die Kosten waren von den Eltern übernommen worden) wurde seine ständige Begleiterin. Daniels Zukunft schien geebnet; seine Regsamkeit, sein schöpferischer Schwung und seine Neugier sicherten ihm einen Startplatz auf der Abschussrampe in die erste Künstlerliga.

Dass er wenig später eine andere Laufbahn eingeschlagen hatte, war auf eine Kette von Ereignissen zurückzuführen, die er, darauf angesprochen, nur sehr knapp zu kommentieren pflegte: Kurz nach seinem zweiundzwanzigsten Geburtstag sei sein Vater gestorben, im folgenden Jahr sei er Marion begegnet, habe sie geschwängert und aus dem daraus erwachsenden Verantwortungsgefühl den ersten kommerziellen Auftrag seines Lebens angenommen: Zwei Tage lang habe er Seifen aus der Kollektion einer Kosmetikfirma abgelichtet, am dritten sei er in das Sekretariat der Hochschule gegangen, um zu exmatrikulieren.

Daniel mehr zu dieser Zeit des Umschwungs zu entlocken, war unmöglich; er hielt das Kapitel verschlossen, auch dann, wenn ein anderer es aufklappen wollte. Ja, es wirkte so, als habe er ein düsteres Geheimnis zu verbergen, eine Leiche im Kellerabteil seiner Jugend. Tatsache war aber, dass er selbst nichts mehr aus dieser Phase seines Lebens wusste. Das Kapitel ließ sich auch von ihm nicht öffnen, die Seiten waren verklebt, und die wenigen Daten, die er noch wiederzugeben vermochte, musste er mühevoll rekonstruieren. Der Duft nach Lavendel und Marions gerundeter Bauch, das blieben seine einzigen unmittelbaren Erinnerungen an die Jahre 1984 und 1985.

Was danach geschehen war, trat wieder deutlicher in sein Bewusstsein. Als die Zwillinge zur Welt gekommen waren – sie wurden nach Marions Großeltern Anna und Michael genannt –, verstärkte er seine beruflichen Aktivitäten. Er fotografierte Pommes frites und Apfelstrudel für die Speisekarten einer Autobahnraststättenkette und nahm für den Hochglanzprospekt einer Zierpflanzengroßgärtnerei Forsythien und Rhododendren auf. In den Bereich der Industrietechnik verschlug ihn schließlich das kulante Angebot eines Bekannten. Seither hatte er die fachgerechte Darstellung von Motor- und Getriebeteilen in Gebrauchsanweisungen und Katalogen zu verantworten, gelegentlich auch die Bebilderung des einen oder anderen Artikels in diversen Fachzeitschriften. Zweimal jährlich, wenn der Prospekt eines Baumarkts auf seiner Agenda stand, war es ihm möglich, die Sujets vor seiner Kamera zu identifizieren, denn Gartenmöbel, Heckenscheren und Vorschlaghämmer kannte selbst der Laie. Daniel irritierte nur, dass ihm dabei vom zuständigen Art-Director ein paar drittklassige Models aufgenötigt wurden, die (überschminkt, mit wasserstoffgebleichten Haaren und winzigen Bikinis) das Sortiment erfrischend sexy präsentieren sollten. Während er versuchte, ihre schlaffen Körper so penibel auszuleuchten, dass Orangenhaut und Krähenfüße keine Schatten warfen, überkam ihn manchmal der Gedanke, dass sich diese Frauen von den Gartenmöbeln überhaupt nicht unterschieden: Sie waren nicht mehr als Materie, tote Objekte, sie waren das traurige Treibgut einer abgestumpften Zivilisation.

Er selbst war mittlerweile fünfunddreißig, gut in Form und gut verheiratet; er hatte gute Kinder, die er – wie auch seine Frau – von Herzen liebte. Abends trank er guten Wein und rauchte gute Zigaretten. Selbst sein Job war halbwegs gut: Er deckte die laufenden Kosten und entsprach, wenn auch nur sehr am Rande, seinen alten, längst erloschenen Ambitionen.

«Das ist es doch, was du schon immer machen wolltest», hatte ihm sein Bruder Georg bei einem ihrer sporadischen Telefonate gesagt. Und Daniel hatte sanft in den Hörer genickt: «Wir haben beide, was uns zusteht: ich meine Linsen und du deinen Kautschuk.»

Georg lebte schon seit gut zehn Jahren in Amerika; im Zuge seines Studiums hatte er in Kalifornien ein Auslandssemester absolviert und war nach seiner Diplomierung in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt. In Los Angeles hatte er Arbeit gefunden – einen Job als Chemiker in einem Autozulieferbetrieb –, hatte ein Häuschen gemietet, eine unscheinbare Frau geheiratet und schien inzwischen (trotz des Umstands, dass die beiden kinderlos geblieben waren) das typische Leben des amerikanischen Mittelstandsbürgers zu führen, so wie man es auch in Europa aus Hollywoodfilmen kannte: ein Leben in der Linearität adretter, bis zum Horizont von gleichförmigen Bungalows gesäumter Vorstadtstraßen, ein schablonenhaftes Dasein mit gepflegtem kleinem Vorgarten, Garagenauffahrt und den beiden obligaten Pkw. Wahrscheinlich ein Geländewagen und ein Kombi; Daniel hatte seinen Bruder nie danach gefragt.

Seit seinem Exodus war Georg zweimal zu Besuch in Wien gewesen, das Gepäck zum Bersten voll mit Dingen, die man auch in Österreich in jedem Supermarkt bekommen konnte, und den Mund zum Bersten voll mit Lobliedern auf...

Erscheint lt. Verlag 11.3.2016
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Chemiefabrik • Daniel Kowalski • Fotograf • Giftgas • Großmutter • Großvater • Holocaust • Israel • Judentum • Krieg • Nazi • Nazifamilie • Österreich • Tagebuch • Vater • Waidlingbach • Wien
ISBN-10 3-644-04821-5 / 3644048215
ISBN-13 978-3-644-04821-8 / 9783644048218
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