Ab heute heiße ich Margo (eBook)
640 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31539-4 (ISBN)
Cora Stephan ist seit vielen Jahren freie Autorin und schreibt Essays, Kritiken, Kolumnen - und Bücher. Ihr Roman »Ab heute heiße ich Margo« erschien 2016 bei Kiepenheuer & Witsch. Neben zahlreichen Sachbüchern hat sie unter dem Pseudonym Anne Chaplet preisgekrönte Kriminalromane veröffentlicht, u.a. »In tiefen Schluchten« (2017) und »Brennende Cevennen« (2018).
Cora Stephan ist seit vielen Jahren freie Autorin und schreibt Essays, Kritiken, Kolumnen – und Bücher. Ihr Roman »Ab heute heiße ich Margo« erschien 2016 bei Kiepenheuer & Witsch. Neben zahlreichen Sachbüchern hat sie unter dem Pseudonym Anne Chaplet preisgekrönte Kriminalromane veröffentlicht, u.a. »In tiefen Schluchten« (2017) und »Brennende Cevennen« (2018).
– Buch 1 – Im Dritten Reich
(1936 bis 1945)
Margo
I
Stendal – An einem Sonntagnachmittag im Winter 1936 beschloss Margarete Hegewald, kein Kind mehr zu sein. Vor dem Spiegel im Nähzimmer machte sie Inventur: Der Faltenrock musste weg, die Kniestrümpfe und die Strickjacke, vor allem aber die Zöpfe.
Den Rest hatte man wohl hinzunehmen: Der Nasenrücken war ein wenig zu breit, das Kinn ein wenig zu herrisch. Dafür waren ihre grauen Augen schön, das sagten alle. Sie lockerte den rechten Zopf, den ihre Mutter heute früh viel zu straff gebunden hatte, und hielt ihn so, dass ihr das Haar in einem weichen Bogen über das Ohr fiel. Mit kurzen Haaren und einer leichten Welle sähe sie aus wie die große Schwester von Waltraud, ihrer Banknachbarin in der Schule, und die war schon zwanzig.
Neben ihr auf Mutters Nähmaschine lag, dunkelgrün und genoppt, ein Stück Wollstoff. Ihr Weihnachtsgeschenk. Er war bereits zugeschnitten, nach einem Schnittmuster, das sie sich selbst ausgesucht hatte. Wenn ihre Mutter den Saum tief genug ansetzte, sähe das Kleid richtig erwachsen aus. Elegant. Und dazu trug man keine Zöpfe.
Sie holte tief Atem. Sie liebte dieses Zimmer, in das eigentlich niemand hineindurfte, vor allem Vater nicht. Sie liebte den Duft der Bügelwäsche, die neben der Tür im Korb lag. Und sie liebte den mannshohen Spiegel, der ihr zeigte, wie andere sie sahen. Margarete griff zu der Schere, die auf dem Tisch neben der Nähmaschine lag.
»Gretl! Wo bleibst du denn, Kind?« Mutter stand in der Tür. »Dein Vater hat schon nach dir gerufen!«
Nenn mich nicht Kind. Und Vater kann rufen, bis er schwarz wird. Sie drehte sich um.
Ihre Mutter schlug sich die Hand vor den Mund. »Was hast du getan?«, flüsterte sie. »Was hast du mit deinen Haaren gemacht?«
Margarete lief durch den dunklen Flur, in dem es nach Sauerkraut roch, und blieb in der Tür zum Wohnzimmer stehen. Sie wusste, was sie erwartete. Eine Standpauke, wenn nicht gar Schlimmeres.
Hugo Hegewald saß wie so oft im Sessel, las, die Beine von sich gestreckt, in der Zeitung und paffte eine Zigarre. Er stammte aus Straßburg und bildete sich etwas auf seine Lebensart ein, war aber als Finanzbeamter in Stendal nur eine ganz kleine Nummer. Erst recht in der Partei, was ihn besonders wurmte, weil er dort Karriere machen wollte.
»Was stehst du da rum?« Er deutete auf den Hocker vor der Vitrine. »Setz dich. Ich habe mit dir zu reden.«
Er wusste es. Sie hielt die Luft an. Aber das konnte nicht sein. Sie hatte mit niemandem darüber gesprochen. Nur mit Waltraud Skrodzki, der einzigen ihrer Schulkameradinnen, die verstand, was sie bewegte. Waltrauds Vater hatte im Gefängnis gesessen, weshalb die Eltern meinten, sie wäre kein guter Umgang. Aber was konnte sie schon für ihren Vater? Niemand konnte etwas für seinen Vater.
Waltraud jedenfalls behielt Geheimnisse für sich, also musste es sich um etwas anderes handeln. Sei’s drum, der Alte fand für jeden seiner Wutausbrüche einen Anlass. Und wenn er erst sah, was sie mit ihren Haaren gemacht hatte!
»Ich möchte bloß wissen, wer dir solche Flausen in den Kopf gesetzt hat. Wenn du ein Junge wärst, könnte ich das ja noch verstehen. Aber so …« Er blätterte geräuschvoll um, ohne von der Zeitung aufzublicken.
Ja, sie hatte ein Junge werden sollen, das hatte er ihr oft genug gesagt. Gerwulf hätte der Erbprinz heißen sollen, alter germanischer Adel sozusagen. Stattdessen war sie gekommen. Aus lauter Enttäuschung darüber hatte Vater eine Woche lang kein Wort mit seiner Frau gesprochen, das wusste sie von Tante Mienchen. Zwei Jahre später kam endlich ein Junge, sie tauften ihn Gernot, doch das Kind starb vier Wochen später an Diphtherie. Und dann wurde Gerda geboren, wieder ein Mädchen, was schlimm genug war. Noch schlimmer: Das Kind hatte eine Versteifung am linken Fuß, keine wirkliche Behinderung, aber Vater gab Mutti die Schuld daran.
Seine verkniffenen Augen unter den buschigen Augenbrauen, seine Mundwinkel, die immer nach unten zeigten – manchmal hasste sie ihn. Sie war dreizehn gewesen, als sie ihre Mutter auf dem Friedhof gefunden hatte, weinend neben Gernots Grab, eine Glasscherbe in der Hand. Seither wusste Margarete, dass sie auf sie aufpassen musste. Abends trank er oft mehr, als er vertrug. Sie hörte ihre Mutter nachts leise weinen, wenn er wieder geschimpft und getobt hatte.
»Weitere Schuljahre sind Zeitverschwendung«, bellte er hinter seiner Zeitung, über der Zigarrenqualm aufstieg. »Wenn du Glück hast, heiratet dich jemand, dafür braucht man keine höhere Bildung.«
Heiraten? Wovon redete er bloß?
»Hörst du mir überhaupt zu?« Endlich sah ihr Vater auf.
Margarete hielt die Luft an. Nein, sie würde den Blick nicht senken, nein, sie würde nicht klein beigeben. Sie hob das Kinn.
»Was glotzt du so? Konzentrier dich gefälligst, wenn ich mit dir spreche! Kaum zu glauben, dass deine Lehrerin dich bis zum Abitur auf der Schule lassen will!«
Margarete starrte ihm sekundenlang ins Gesicht, das sich zu röten begann. Und dann hätte sie beinahe gelacht. Darum ging es also! Fräulein Tenzer hatte Vater wieder einmal von ihrer Begabung vorgeschwärmt. Sie hätte der Lehrerin gleich sagen können, dass er auf diesem Ohr taub war.
»Ich werde deinen Vater davon überzeugen, dass du studieren musst, Margarete.« Die Tenzer hatte leuchtende Augen und gerötete Wangen gehabt. »Tenzer auf Mission«, nannten sie das in der Klasse. Und vielleicht wäre es ihr ja auch gelungen – Vater liebte Schmeicheleien. Aber in diesem Fall war nicht er das entscheidende Hindernis. Es war Margarete selbst, die nicht mehr zur Schule gehen wollte. Sie hatte andere Pläne.
»Fräulein Tenzer …«
Er fuhr ihr ins Wort. »Was dein Fräulein Lehrerin sagt, interessiert mich nicht. Du beendest in diesem Jahr die Schule.«
»Ja, Vater«, sagte sie.
»Außerdem wirst du zu Hause gebraucht. Schluss der Debatte.«
Das sagte er immer, wenn er etwas entschieden hatte, selbst wenn es niemand gewagt hatte, ihm zu widersprechen.
»Deine Mutter kommt kaum noch nach mit den einfachsten Dingen.«
Seine Frau konnte ihm nie etwas recht machen. Was war das kürzlich für ein Theater gewesen, als er Klümpchen in der Suppe gefunden hatte! Oder als sie vergessen hatte, ihm seine Zigarre zurechtzuschneiden!
»Auf deine Schwester kann sie nicht zählen.«
Natürlich nicht, dachte Margarete. Die muss ja geschont werden.
»Und was hast du überhaupt mit deinen Haaren gemacht? Du siehst aus wie eine aus der Gosse. Morgen möchte ich dich mit einem vernünftigen Haarschnitt sehen.«
»Ja, Vater«, sagte sie und versuchte, nicht allzu erleichtert auszusehen.
In der Küche umfing sie der Dampf aus Kochtopf und Abwaschschüssel. Mutter hatte die roten Arme tief im schaumigen Wasser versenkt.
»Fang!« Gerda warf ihr ein Geschirrtuch zu. »Hat er dir den Kopf abgebissen? Du siehst ziemlich ramponiert aus!«
Ihre Mutter reichte Margarete einen tropfnassen Teller. »Sie hat sich die Zöpfe abgeschnitten«, seufzte sie. »Ihre schönen langen Haare.«
»Auweia. Und? Was hat er gesagt?«
»Nichts.« Margarete wienerte den Teller, bis er quietschte. »Außer dass ich von der Schule abgehen soll.«
»Oh«, machte Gerda.
»Ist mir nur recht. Ich habe mich um eine Stelle beworben.«
»Soso«, murmelte Mutter und reichte ihr eine seifige Kaffeetasse. Sie hatte wieder einmal nicht zugehört.
»Als Friseuse, nehme ich an. Wenn man dich so sieht.« Gerda ließ Messer und Gabeln geräuschvoll in die Besteckschublade fallen.
»Ja, ich weiß, du hast die Intelligenz mit Löffeln gefressen, Schwesterchen«, antwortete Margarete spitz.
»Hört auf zu streiten. Wir bekommen nachher Gäste. Die Gläser müssen poliert werden. Und Margarete, stell bitte den Sherry und den Portwein raus.«
»Und vergiss nicht Vaters stinkende Zigarren.« Gerda rümpfte die Nase.
Margarete stellte die Tasse zu den anderen auf dem Tisch. »Übrigens habe ich bereits eine Lehrstelle. Falls das jemanden interessiert.«
»Wie bitte? Das nenn ich Mut.« Gerda hatte etwas völlig Ungewohntes im Blick. Es sah fast wie Anerkennung aus.
»Ab dem 1. April. Bei Photo-Werner. Im Büro. Ich werde Bürokaufmann.«
»Margarete!« Jetzt endlich war ihre Mutter bei der Sache. »Das ist nicht dein Ernst, Kind. Weiß Vater davon?«
»Nein.« Margarete seufzte tief auf. »Ich dachte, du …«
»Ich?« Ihre Mutter wurde erst rot, dann weiß im Gesicht. »Ich werde mich hüten. Die Suppe löffelst du selber aus. Er schätzt keine Eigenmächtigkeit, das weißt du doch.«
Oh ja. Er würde seine Wut erst an ihr und dann an Mutti auslassen.
»Außerdem kann ich deine Hilfe im Haushalt gut gebrauchen. Hast du denen in diesem Foto-Laden etwa zugesagt?«
»Nein. Ja. Ich dachte, ich frag erst einmal, ob sie mich überhaupt wollen.«
Ihre Mutter trocknete sich die Hände an der Schürze ab und schüttelte den Kopf. »Was du willst und was die wollen, spielt keine Rolle. Was dein Vater will, ist das Entscheidende.«
Margaretes Mut verflog. Mutter hatte recht. Sie brauchte seine Zustimmung, und das schon bald, denn eine Lehrstelle bei Photo-Werner war begehrt.
»Mutti …« Sie zögerte. Merkte sie denn gar nicht, dass ihre Älteste als Hausfrau völlig ungeeignet war? Spürte sie nicht, dass sie unabhängig sein musste?...
Erscheint lt. Verlag | 10.3.2016 |
---|---|
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Anne Chaplet • Cora Stephan • DDR • Familie • Fotografie • Frauen-Freundschaft • Kalter Krieg • Liebe • Nationalsozialismus • Schicksal |
ISBN-10 | 3-462-31539-0 / 3462315390 |
ISBN-13 | 978-3-462-31539-4 / 9783462315394 |
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