Mensch, Mücke (eBook)
140 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7412-4597-8 (ISBN)
Herbert Friedmann lebt als freier Schriftsteller in Berlin und ist Vater einer Tochter. Er schreibt für Kinder, Jugendliche und Erwachsene und hat rund 100 Bücher veröffentlicht. In der Edition@melie bei BoD erscheinen vergriffene Bücher, die an ihrer Aktualität nicht eingebüßt haben, und Gedichte und Texte für Sprachliebhaber.
3
Mücke rechnete mit der Mutter ab und spekulierte darauf, die restlichen zwei Mark dreißig behalten zu dürfen, erhielt sie erst, nachdem er beim Abwasch geholfen hatte.
„Eine Freundin kostet Geld“, sagte die Mutter augenzwinkernd.
„Heutzutage ist das nicht mehr so“, erwiderte Mücke. „Gerda zahlt meistens für sich selbst.“
„Hat Gerda denn nun eine Lehrstelle?“
Mücke schüttelte den Kopf. Aber sie hat eine „richtige Arbeit“, dachte er. Das sagte er der Mutter nicht, sonst würde sie ihm gleich raten, auch bei der Brotfabrik nachzufragen.
„Da soll man sich nicht wundern, wenn manche Jugendliche auf die schiefe Bahn geraten“, meinte die Mutter.
Mücke schnaufte.
Die Mutter, die in einem Textilkaufhaus in der Lohnbuchhaltung arbeitete, erzählte von zwei Mädchen, die beim Klauen erwischt worden waren. „Vierzehn und fünfzehn Jahre alt! Wenn das meine gewesen wären ...“
„Hat Papa seinen Skatabend?“, fragte Mücke.
Die Mutter nickte. Sie polierte die Spüle, legte das Geschirrtuch über die Heizung, setzte sich an den Tisch und belegte für Papa Brote. Mücke schaltete das Radio ein.
„Nicht so laut. Was gibt es im Fernsehen?“
Mücke holte die Programmzeitschrift.
„Immer nur Krimis“, stöhnte die Mutter. „Da kriegen es die Verbrecher ja vorgeführt, wie man es machen muss.“
Mücke grinste.
„Aber Mama! Im Fernsehen werden die Verbrecher doch immer geschnappt. Das ist wegen der Abschreckung.“
„Ich weiß nicht“, antwortete die Mutter.
Sie wickelte die Brote in Alufolie, gähnte.
„Bei Papa wird es bestimmt wieder spät. Aber bevor er nicht neben mir liegt, kann ich nicht schlafen. Guckst du mit mir Fernsehen?“
„Sei mir nicht böse, aber ich bin hundemüde.“
Mücke nahm sich eine Banane und eine Büchse Cola mit auf sein Zimmer und legte sich aufs Bett. Schön wäre es, wenn er auch Brote geschmiert bekäme. Als Kind hatte er sich gefreut, wenn Papa Reste von seinem Frühstück mit nach Hause brachte. Auf das Brot haben die Fabrikvögel geschissen, hatte der Vater gesagt. Wer davon isst, wird groß und stark. Mücke hatte jeden Bissen mit großer Andacht gekaut. Das war lange her.
Er dachte an Gerda, versuchte sich die Arbeit in der Brotfabrik vorzustellen, wusste nicht, ob er sie beneiden oder bedauern sollte. Von morgens sechs bis halb drei nachmittags. Es fröstelte ihn bei dem Gedanken, Tag für Tag in aller Herrgottsfrühe aufstehen zu müssen, immer den gleichen Weg zu gehen, dieselben Menschen zu treffen, eine eintönige Arbeit zu verrichten. Das war fad. Wie das Leben der Eltern: Schlafen, aufstehen, arbeiten, zwischendurch essen, zwischendurch fernsehen, zwischendurch Bekannte besuchen, zwischendurch Skatabend, putzen und einkaufen am Wochenende, Autowäsche und Ausflug in die Umgebung, Urlaubspläne schmieden und von den drei Wochen ein Jahr lang zehren. Und das war schon alles? So gesehen, war er nicht scharf auf Mutters Stullen.
Ja, er wollte auch einer geregelten Arbeit nachgehen, wie es so schön hieß. Wer bestimmte die Regeln? Im Moment fühlte er sich wie der letzte Dreck. Wäre es anders, wenn er auch in der Brotfabrik arbeitete? Er war nicht scharf darauf, ein paar Handgriffe an einer Maschine zu verrichten. Was wollte er? Er wusste es selber nicht. Ein rotweißes Fischerboot vielleicht. Licht und Wärme, Freiheit und Glück. So ein kleines Glück schien leicht erreichbar zu sein. Er war ja erst sechzehn und hatte noch jede Menge Leben vor sich, konnte mit den Tagen wuchern, brauchte kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn er ein paar Stunden, Tage, Monate ungenutzt verstreichen ließ. Schlafen, essen, rumhängen, das war sein Leben. Die einzige Abwechslung bot der Fanclub. Und Gerda. Sie hatte tausendmal Recht, der Job in der Brotfabrik war besser als die Warterei, denn ohne das verdammte Geld waren Freiheit und Glück unbezahlbar. Jeder Traum benötigte ein stabiles Fundament.
Er aß die Banane, trank die Cola, stellte fest, dass er keinen Tabak mehr hatte, schnorrte eine Zigarette bei der Mutter und las den Artikel, den er am Morgen aus der Zeitung herausgerissen hatte. ... sollte man die Schreibmaschine verwenden. Das klang überzeugend. Aber Schreiben war nicht seine Stärke, Reden fand er besser. Knapp und verständlich. Ich heiße, ich will ... Ja oder nein.
Er steckte die Zigarette in die Coladose, kippte das Fenster. Gerda. Hoffentlich war sie ihm nicht mehr böse. Wenn man sie nur anrufen könnte. Wenn ihre Eltern nur nicht so bescheuert wären. Wenn, wenn... Jedenfalls musste er sie um Verzeihung bitten. Mit Blumen? In Paules Garten wuchsen noch eine Menge Astern. Klauen? Das war nicht mehr drin. Wenn er Paule fragte, schenkte er ihm bestimmt einen Strauß, erst recht, wenn er ihm den Grund sagte.
Mücke lieh sich noch eine Zigarette von der Mutter und war sehr zuversichtlich.
„Willst du unter die Schriftsteller gehen?“, fragte Blumen-Paule.
Mücke errötete und bereute, dass er Paule nach einer Schreibmaschine gefragt hatte.
„Oder willst du etwa Flugblätter verfassen?“
„Quatsch!“
Er und Flugblätter schreiben! Samstag standen immer ein paar schräge Vögel vorm Einkaufs-Center und wollten den Leuten ihren Mist andrehen. Mit denen hatte er nichts am Hut. Meistens versuchte er ihnen auszuweichen. Und wenn es sich nicht vermeiden ließ, warf er die Dinger umgehend in den nächsten Papierkorb.
„Geht mich ja auch nichts an. Ich besitze tatsächlich eine Schreibmaschine.“ Er betrachtete Mücke über den Rand der Brille. „Ich glaube, dir kann ich sie anvertrauen. Aber behandle sie schonend.“
„Ehrensache!“
Ganz nah glaubte er sich der Lösung seines Problems. Er konnte es kaum erwarten, die Maschine in den Händen zu halten. Paule wischte den Tisch ab, sah zum Fenster hinaus, als müsse er sich erst vergewissern, dass sie auch niemand beobachtete, sprach vom Wetter, das sich überraschend gebessert hatte, nannte es „Altweibersommer“, kicherte und öffnete endlich die Holztruhe neben dem Herd. Er förderte jede Menge Bücher und Zeitungen, drei Paar Socken, etliche Lappen, ein Paar Knobelbecher und einen Schuhkarton ans Licht.
„Hier“, sagte er und klopfte gegen den Karton, „ist mein ganzes Leben drin.“
„Die Maschine“, drängte Mücke. Heute noch wollte er die Bewerbung schreiben und abschicken. Gerda würde Augen machen... Aber er durfte sich nicht zu früh freuen.
„Ja, ja“, sagte Paule beleidigt, stellte den Karton ab und hob eine zierliche, altertümliche Schreibmaschine aus der Kiste. Er hielt sie gegen das Licht, betrachtete sie liebevoll.
„Mir ist, als sei es erst gestern gewesen.“
Mücke wollte ihm die Maschine aus den Händen nehmen.
„Langsam, mein Junge“, sagte Paule.
Vorsichtig wie einen zerbrechlichen Gegenstand stellte er sie auf dem Tisch ab, entstaubte sie mit seinem Taschentuch. Dann spannte er ein Blatt Papier ein, tippte ein paar Zeilen.
„Tadellos!“, sagte er und lachte zufrieden.
„Ich denke, du warst Buchbinder.“
„Gewiss“, sagte Paule. „Tagsüber. Und nachts habe ich auf dieser Adler-Maschine Flugblätter getippt. Das waren noch Zeiten. Streikaufrufe gegen Entlassungen, gegen Lohnkürzungen und so. Einen Roman könnte ich dir erzählen.“
Mücke wollte nicht einmal eine Kurzgeschichte hören.
„Ich muss mich sputen“, sagte er und schnappte die Maschine. Als er bereits das Gartentor erreicht hatte, fiel ihm ein, dass er nicht nach Blumen gefragt hatte.
„Na, mein Junge. Hast du etwas liegen lassen?“ Paule kramte noch immer in seiner Kiste herum, als Mücke in die Laube trat. Wie peinlich, dachte Mücke. Er stand da, die Maschine in den Händen, und schnaufte schwer.
„Ist was mit der Schreibmaschine nicht in Ordnung?“, fragte Paule.
„Doch, doch, alles in Ordnung. Du, Paule ... Ich muss dir was gestehn.“
Mücke glühte. Ich muss verrückt geworden sein, dachte er. Wenn ich Pech habe, gibt er mir die Maschine nicht. Paule setzte sich, rückte seine Brille zurecht und betrachtete ihn neugierig.
„Na ja“, druckste Mücke herum und stellte nun doch die Schreibmaschine wieder auf den Tisch. „Weißt ja, dass ich arbeitslos bin. Und die paar Mark Taschengeld..., na ja, große Sprünge kann man damit nicht machen. Reicht halt gerade, um die Fußballspiele zu besuchen.“
„Kann ich mir denken“, warf Paule ein.
„Und die Gerda mag doch Blumen so sehr“, fuhr Mücke fort. „Na ja, da habe ich mir halt hin und wieder welche aus deinem Garten besorgt.“
„Teufel auch“, entfuhr es Paule, „du warst der Blumendieb. Und ich wollte mich schon nachts auf die Lauer legen.“
Er kraulte sein Kinn. Mücke wechselte das Standbein.
„Finde ich jedenfalls anständig von dir, reinen Tisch zu machen. Außerdem hast du es ja nicht getan, um dich zu bereichern, sondern aus Liebe. Dafür hast du zumindest mildernde Umstände verdient. Hättest mich doch fragen können.“
„Ich habe mich nicht getraut.“
„Schwamm drüber.“
„Und wenn ich jetzt ein paar Astern bekommen könnte ...?“
„Für Gerda?“
Paule lachte herzhaft. Dann reichte er ihm ein Messer. „Suche dir die schönsten aus.“
Wirklich Klasse, der Paule, dachte Mücke. Rechts unterm Arm schleppte er die Schreibmaschine, in der linken Hand hielt er die Blumen, die Paule in Zeitungspapier eingeschlagen hatte. Hoffentlich treffe ich...
Erscheint lt. Verlag | 16.2.2016 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur |
Kinder- / Jugendbuch | |
ISBN-10 | 3-7412-4597-6 / 3741245976 |
ISBN-13 | 978-3-7412-4597-8 / 9783741245978 |
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Größe: 365 KB
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