Schöne Aussicht (eBook)

Roman
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2016 | 1. Auflage
544 Seiten
Knaus (Verlag)
978-3-641-06051-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schöne Aussicht -  Walter Kempowski
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Die Familie Kempowski in den zwanziger Jahren und in den Anfängen des Hitlerreichs
Karl Kempowski und seine junge Frau Grethe haben nach Ende des Ersten Weltkriegs in Rostock keinen leichten Start. Sie müssen auf eine bürgerliche Villa verzichten und sich im Arbeiterviertel einmieten. Der kleinen väterlichen Reederei setzt die wirtschaftliche Depression schwer zu. Drei Kinder werden geboren, unter ihnen auch der Autor. Seine Schulzeit fällt in die Jahre, in denen Deutschlands Verhängnis seinen Anfang nimmt. Von dieser Familie und allen, die ihren Weg kreuzen, erzählt Walter Kempowski mit der Genauigkeit, dem Humor und der leichten Ironie, wie sie nur ihm eigen sind.

Walter Kempowski wurde am 29. April 1929 als Sohn eines Reeders in Rostock geboren. Er besuchte dort die Oberschule und wurde gegen Ende des Krieges noch eingezogen. 1948 wurde er aus politischen Gründen von einem sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Nach acht Jahren im Zuchthaus Bautzen wurde Walter Kempowski entlassen. Er studierte in Göttingen Pädagogik und ging als Lehrer aufs Land. Seit Mitte der sechziger Jahre arbeitete Walter Kempowski planmäßig an der auf neun Bände angelegten 'Deutschen Chronik', deren Erscheinen er 1971 mit dem Roman 'Tadellöser & Wolff' eröffnete und 1984 mit 'Herzlich Willkommen' beschloss. Kempowskis 'Deutsche Chronik' ist ein in der deutschen Literatur beispielloses Unternehmen, dem der Autor das mit der 'Chronik' korrespondierende zehnbändige 'Echolot', für das er höchste internationale Anerkennung erntete, folgen ließ.

Walter Kempowski verstarb am 5. Oktober 2007 im Kreise seiner Familie. Er gehört zu den bedeutendsten deutschen Autoren der Nachkriegszeit. Seit 30 Jahren erscheint sein umfangreiches Werk im Knaus Verlag.

1


Die Borwinstraße in Rostock hat ihren Namen von Burwin II., einem Wendenfürsten. Im 13. Jahrhundert sorgte er dafür, daß »Rostock viele ansehnliche Gebäude erhielt«, wie in einer Chronik steht. Die Borwinstraße ist allerdings keinesfalls ansehnlich, sie ist eine sogenannte Arbeiterstraße und liegt in der Werftgegend. Sie grenzt an die Niklotstraße, die auch nach einem Wendenfürsten benannt wurde, nach Niklot dem Kind. In ihr wohnen ebenfalls Arbeiter, die tagsüber in der Werft hämmern und sägen, was zu hören ist; Arbeiter, Handwerker und kleine Gewerbetreibende.

In diesem Stadtteil sind die Häuser durchweg viergeschossig und wie mit Lehm verstrichen, ganz ohne jeden Schmuck. Eins ist wie das andere: Straßenbäume decken die Armseligkeit notdürftig zu.

Schwaan im Blauband
frisch gekirnt

In jedem sechsten Haus ist das Parterre zu einem Kolonialwarenladen ausgebaut, dessen Besitzer von den Menschen lebt, die hier wohnen. An den Ecken der Häuserblocks befinden sich Kneipen oder Friseure oder Zigarettenläden. Einmal die Woche kommt hier noch der Tönnchenwagen der städtischen Rieselfelder.

 

Hunde pinkeln an die Häuser, und Jungen schreiben mit Kreide auf das Trottoir: »Erna ist doof.« Sie essen Schmalzbrote und haben schmutzige, abgeschrammte Knie, und aus der Hosentasche hängt ihnen ein sogenannter »Herkules«, eine Gummizwille also, mit der sie Kinder anderer Straßen beschießen. Manchmal geht dabei auch eine Laterne zu Bruch, was die Straße von Kindern augenblicklich leerfegt. Die Hunde laufen hinterher.

Die Kirche, die inmitten dieser Häuser steht, heißt Heilig-Geist-Kirche; sie ist eine evangelische Kirche, und sie wurde 1904 von einem katholischen Architekten erbaut und gar nicht mal so schlecht. Glasierte Ziegel wurden verwendet, und mit Zierat wurde nicht gespart. Sie ist übrigens größer, als man denkt. Geschickt eingebaute Emporen ermöglichen an hohen Festtagen die Unterbringung einer großen Zahl von Gläubigen, ohne daß bei schwächerem Besuch der Anblick unerfreulicher Leere entsteht. Von draußen sieht es so aus, als sei sie mit einem Kreuzschiff versehen, von drinnen hatman eher den Eindruck, in einem Rundbau zu sitzen: wenn man schon mal drinsitzt.

Der Pfarrer, der hier zuständig ist, heißt Straatmann, der läßt nichts unversucht: Plattdeutsch predigt er zu festgesetzten Zeiten, und die Taubstummensprache kennt er auch. Viel ist er unterwegs in dieser etwas schwierigen Gegend. Mit einer Bratpfanne hat man ihn schon mal geschlagen, und seine Tür hat man mit Kot beschmiert. Oft sitzen verweinte Frauen in seinem Arbeitszimmer, und ständig hat er einen Schüler bei sich, den er weiterbringen will, weil er erkannt hat, in diesem Bengel steckt was, der muß aufsteigen aus dem Sumpf, der muß studieren.

Utinam, mit dem Konjunktiv:
O daß doch! Wenn doch …

Latein bringt er ihm bei und Mathematik, und bei den Lehrern läßt er sich sehen, mit seinem freien Blick, öfter als denen lieb ist.

 

In diesem Stadtteil, in der Werftgegend also, in dem die Bewohner auf spiegelblanke Treppenhäuser Wert legenauf jedem Treppenabsatz steht ein Gummibaum –, findet Karl Kempowski, dieser schmächtige junge Mann mit der goldenen Brille, nach längerem Suchen für sich und seine junge Frau eine winzige Dreizimmerwohnung.

Sein Vater hatte beim Wohnungsamt nichts ausrichten können, die Beziehungen hatten versagt, der rechte Kontakt zu den neuen Leuten im Rathaus war noch nicht wieder hergestellt.

»Wir können uns auch keine Wohnung aus den Rippen schneiden für Ihren Herrn Sohn«, war gesagt worden, und es war hingewiesen worden auf den verlorenen Krieg, in dem es die Herrschaften ja vorgezogen hatten, Kanonen herzustellen, mit denen man Wohnungen zerschießen kann. »Akkenkunnig« habe man Karl Kempowskis Wohnungswünsche gemacht, das hatte man gesagt, »akkenkunnig«, immerhin, doch dabei blieb’s.

Es war noch nicht einmal gelungen, in einer der drei eigenen, im Krieg erworbenen, sehr komfortablen Villen Platz zu schaffen für den Sohn, weder in der »Lo-ig-ny«-straße – wie die Rostocker sagen – noch in der Orleansstraße, geschweige denn am Schillerplatz, dieser vornehmen Grünanlage. Man sah sich nicht in der Lage, die Leute, die jetzt dort wohnten, auf die Straße zu setzen. »Mieterschutz« verhinderte das.

»Eigentlich ja unerhört.«

Die Kempowskis hätten auch die Wohnung in der Borwinstraße nicht bekommen: »Zu groß« für ein jungverheiratetes Paar, wenn der Hauswirt nicht gutgesagt hätte für sie; Schlossermeister Franz, ein ehemaliger 210er, Feldwebel in Karls Nachbarkompanie vor Ypern und Inhaber eines phantastischen Schnurrbarts. Der hatte sein SPD-Mitgliedsbuch gezückt und hatte der Stadträtin Bultmann Bescheid gesagt, daß der junge Herr Kempowski vier Jahre lang »vorn« gewesen wär’ und sich immer anständig benommen hätt’. Auf den Tisch hatte er geklopft, und laut war er geworden.

 

Als Robert William Kempowski erfährt, daß sein Sohn in der Borwinstraße gelandet ist, ruft er ins Telefon: »Jungedi! Borwinstraße! Das ist ja ’ne Puffgegend, da wohnen doch lauter Nutten …?«

Er haut den Hörer auf und fragt Sodemann, den Prokuristen, ob er weiß, wo sein Sohn gelandet ist? Und er klingelt seine Frau an und fragt sie auch, ob sie weiß, wo Karl gelandet ist? Und am Nachmittag hat Anna, seine Frau, in ihrem vornehm nach Norden gelegenen Salon Gelegenheit, es den Damen ihres Kränzchens mitzuteilen. Gehäkelt wird, und als sie es erzählt, wird die Handarbeit hingelegt, und man guckt sich an: Borwinstraße? Wie weit sind wir gesunken?

Der schräg aufgestellte Mahagoni-Spiegel faßt das Bild der Kränzchenrunde, wie sie da sitzt um ihren runden Tisch vor Portwein und Plätzchen: Frau Warkentin mit ihrem großen Busen und Frau von Wondring, dürr und abgetakelt. Borwinstraße? Wie weit sind wir gesunken.

 

Bald weiß es dann die ganze Stadt: daß Karl Kempowski, Körling also, der Sohn des Schiffsreeders Robert William Kempowski, Besitzer einer Villa, die an dem so vornehmen Schillerplatz liegt, auf dem sogar ein Springbrunnen installiert ist, der an warmen Tagen seine Fontäne auf das Straßenpflaster weht … daß Karl Kempowski mit seiner entzückenden kleinen Frau in einer Gegend gelandet ist, in der noch Pumpen vor den Häusern stehen, die quietschen, wenn man sie schwengelt.

Waschfrauen oder Dienstmädchen bezieht man aus dieser Gegend, von der man nur weiß, daß sie vor dem Kröpeliner Tor liegt, und zwar in der Nähe der Werft.

 

Es ist eine kleine Wohnung, und es ist eng, sehr eng. Wenn einer auf den Lokus will, so wird gescherzt, dann müssen alle erst ins Eßzimmer treten und den durchlassen … Aber sie hat Sonne. Eine kleine, aber sonnige Wohnung ist es.

Drei Zimmer: Im winzigen Wohnzimmer stehen die grünen Polstermöbel, Karls Schreibtisch und der Bücherschrank. Hier ist sogar noch eine Ecke frei für Grethes Biedermeier-Sekretär. Im Schlafzimmer befinden sich im wesentlichen die beiden großen Ehebetten mit je einem Zierkissen obendrauf. Waschen tut man sich an einem Waschtisch mit Schüssel und Krug. Links eine Schublade für Karls Rasierzeug und rechts eine Schublade für Grethes Siebensachen.

Das Eßzimmer mit Eßtisch und den vielen Stühlen, mit dem riesigen Büfett und der »Anrichte« ist das vollste der drei Zimmer. Das ist ja schon fast komisch.

 

Beim Einzug hatten die Arbeiter all die Möbel auf die Treppe gestellt, weil sie so ohne weiteres gar nicht in die Zimmer paßten, man kam nicht vor und nicht zurück. Die Träger hatten geschimpft, und die Hausbewohner hatten auch geschimpft. Grethe war von einem zum anderen gelaufen und hatte die Hände gerungen, und die Träger hatten ausgespuckt; sie wollten wohl, aber wie sollte das »angehen«?

Die Nachbarsfrauen, die gerade vom Milchmann kamen, stießen mit dem Fuß gegen die Stühle: »Wotau brucken Se denn all de Stöhl? Wullt Se hier een Kino uppmåken?«

Und der Milchmann, dessen Apfelschimmel ohne jeden Befehl länger als üblich hier stehenblieb, vergaß die Glocke zu klingeln. Der stand an seinem Milch-Blechkasten, die Hand auf dem blanken Magermilch-Hahn, und schüttelte den Kopf.

»So fähl Stöhl …«

Sogar im Vorgarten hatten die Möbel gestanden, auf dem kümmerlichen Rasen, neben dem von Hunden totgepinkelten Fliederbusch: die Garderobe, der Wäscheschrank, die Nähmaschine und der Flügel. Oben auf dem Flügel gar Karls alte Kinderfestung, eine Festung mit Türmen, von innen zu beleuchten,

Welch eine Wendung durch Gottes Führung!

und mit verzinkten Gräben, richtig zum Wasser Einfüllen.

Ein Wunder, daß dann doch noch alles unterzubringen gewesen war. Sogar der Flügel, und das ist kaum zu glauben.

 

Eine zwar kleine, aber eine freundliche Wohnung ist es, mit Ausblick auf die Kronen von Straßenbäumen und auf Telefondrähte und nicht ohne Sonne. Leider sind die Bewohner dieses Hauses nicht sehr freundlich, außer dem Hauswirt, Franz, dem Schlossermeister, unten im Parterre. In seinem Wohnzimmer hat er die Fotografie seines Kompaniechefs stehen, dem er in Flandern das Leben gerettet hat. Im Trommelfeuer war er aus dem Graben gekrochen und hatte den verwundeten Leutnant da weggeholt, und dieser hatte aufgehört, um...

Erscheint lt. Verlag 15.2.2016
Reihe/Serie Die deutsche Chronik
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Deutsche Chronik • DeutscheChronik • Deutschland • Drittes Reich • eBooks • Erster Weltkrieg • Familie • Familiensaga • Front • Kindheit • Olympia 1936 • Reederei • Reihe • Roman • Romane • Rostock • Tadellöser & Wolff • Zwanziger Jahre • Zwischenkriegszeit
ISBN-10 3-641-06051-6 / 3641060516
ISBN-13 978-3-641-06051-0 / 9783641060510
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