Sich selbst ernst nehmen (eBook)

(Autor)

Debra Satz (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
145 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74222-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Sich selbst ernst nehmen - Harry G. Frankfurt
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Menschen besitzen vermutlich als einzige Spezies die Fähigkeit, sich selbst ernst zu nehmen. Was aber heißt das? Für Harry Frankfurt ist diese Fähigkeit untrennbar verbunden mit zwei anderen Aspekten der menschlichen Natur: Vernunft und Liebe. Die Vernunft gebietet über unseren Verstand, die Liebe über unser Herz. Sie liefern die Gründe für unser Tun und spielen damit eine entscheidende Rolle für unser Selbstverständnis als frei handelnde, über sich selbst reflektierende Personen. Allerdings, so Frankfurt, ist es die Liebe, die die praktische Vernunft regiert. Lieben heißt sich sorgen: etwas intensiv wünschen, wollen oder begehren. Es ist also die Logik der Sorge, die unser Denken und Handeln im Kern bestimmt.

<p>Harry G. Frankfurt, geboren 1929, war emeritierter Professor f&uuml;r Philosophie der Princeton University. Er war Tr&auml;ger vieler Auszeichnungen und Mitglied der American Academy of Arts and Sciences. Seine B&uuml;cher sind in zahlreichen L&auml;ndern erschienen. Er starb am 16. Juli 2023 im Alter von 94 Jahren in Kalifornien.</p>

Debra Satz


Vorwort


Im Jahr 2004 hielt der renommierte Philosoph Harry Frankfurt die Tanner Lectures an der Stanford University. Die Vorlesungen hießen »Taking Ourselves Seriously« und »Getting It Right«, hier übersetzt als »Uns selbst ernst nehmen« und »Richtigliegen«, und wurden von Christine Korsgaard (Harvard University), Michael Bratman (Stanford University), Meir Dan-Cohen (University of California-Berkeley, Boalt Hall School of Law) und Eleonore Stump (Saint Louis University) kommentiert. Drei dieser Kommentare wurden in diesen Band aufgenommen.

In Frankfurts Tanner Lectures geht es um die grundlegende Struktur unseres Nachdenkens darüber, wie man leben sollte. Seit der Veröffentlichung von »Freedom of the Will and the Concept of a Person« vor über 30 Jahren* erörtert Frankfurt in klarer und eleganter Prosa, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.

Wir Menschen – und vielleicht nur wir allein – haben die Fähigkeit, uns reflektierend auf uns selbst zu beziehen, darauf, wer wir sind und welche Gründe wir dafür haben, das zu tun, was wir tun. Aber diese von uns so geschätzte Reflexionsfähigkeit, die es uns erlaubt, autonom zu handeln, ist zugleich eine Quelle von Problemen. Wenn wir über unsere Wünsche und Ziele nachdenken, müssen wir unter Umständen feststellen, daß wir in einem ambivalenten Verhältnis zu ihnen stehen. Wir sind uns manchmal nicht sicher, ob die Dinge, um die wir uns sorgen, diese Sorge überhaupt verdienen. Die Fähigkeit zur Reflexion kann zu einer innerlichen Spaltung führen und dazu, daß wir uns selbst fremd werden. Die Reflexion ist also eine Errungenschaft des Menschen, aber sie kann auch bewirken, daß wir uns innerlich entzweit, durcheinander und wie gelähmt fühlen.

Frankfurt befaßt sich in diesen Vorlesungen mit der Frage, inwiefern unsere Befähigung zu lieben einen Anteil daran hat, die für unsere Handlungsfähigkeit notwendige Ganzheit oder Einheit wiederherzustellen. Liebe gibt unserem Handeln Zwecke und hilft, unsere Überlegungen zu strukturieren. Frankfurt ist der Ansicht, daß die Liebe eine Form von Sorge [caring] ist, die in besonderer Weise mit der Integration des Selbst zusammenhängt.** Die Liebe hat diese Funktion, weil sie uns als Notwendigkeit entgegentritt. Wir können nicht anders, als uns um die Dinge, die wir lieben, zu sorgen – wie es in Martin Luthers berühmtem Ausspruch heißt: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders.« Wenn wir lieben, überwinden wir unsere Ambivalenzen und widmen unsere Sorge von ganzem Herzen den Menschen und Dingen, die wir lieben.

Frankfurt glaubt, daß weder Vernunft noch Moral diese Rolle bei der Wiederherstellung der Einheit übernehmen können, die für unsere Handlungsfähigkeit notwendig ist. Das liegt daran, daß beide uns nicht bei der Beantwortung der Frage helfen können, um was wir uns sorgen und was wir wichtig nehmen sollten.

Wenn die Vernunft mir mitteilt, daß eine bestimmte Sache zu besitzen viel wert wäre, ist damit noch nicht gesagt, daß der Besitz dieser Sache wichtig für mich sein sollte. Etwas kann wertvoll sein, ohne für mich wertvoll zu sein. In ganz ähnlicher Weise bleibt trotz der Forderungen der Moral, daß wir uns bestimmte Zwecke zu eigen machen sollen, »die Frage offen, wie wichtig es für uns ist, diesen Forderungen nachzukommen« (S. 45).

Frankfurt ist der Ansicht, daß wir etwas finden müssen, mit dem wir uns von ganzem Herzen identifizieren können, um unsere Selbstentfremdung zu überwinden. Ihm zufolge benötigen wir ein Gefüge von Endzwecken, um die herum wir unser Leben organisieren können. Wir kommen nicht umhin, diese Zwecke zu akzeptieren: Sie abzulehnen ist für uns geradezu undenkbar. Frankfurt nennt diese Zwecke »volitionale Notwendigkeiten«, also Notwendigkeiten des Willens. Wenn eine Person von einer volitionalen Notwendigkeit bestimmt wird, nimmt sie gewisse Einschränkungen ihres Willens hin, weil sie nicht gewillt ist, ihnen entgegenzuwirken, und weil sie darüber hinaus auch an dieser Unwilligkeit nichts zu ändern gedenkt. Sehr grob ausgedrückt könnte man sagen, daß es nicht in meiner Macht liegt, etwas nach Belieben aufzugeben, wenn es für mich eine Notwendigkeit des Willens darstellt, mich darum zu sorgen. Es liegt ebensowenig in meiner Macht, diesen Aspekt meiner selbst beliebig zu ändern, und ich bin von ganzem Herzen – das heißt ohne jede Ambivalenz – mit alldem einverstanden. Notwendigkeiten des Willens geben uns machtvolle Handlungsgründe und ein Wertesystem, das unser Handeln strukturiert.

Frankfurt unterscheidet zwischen zwei Formen volitionaler Notwendigkeit. Zum einen gibt es jene Notwendigkeiten, die alle Menschen teilen, als Mitglieder der Spezies Mensch. Wir sorgen uns etwa die meiste Zeit über von ganzem Herzen um das Fortdauern unserer Existenz. Zum anderen gibt es individuelle Notwendigkeiten des Willens – Sorgen [carings], die sich von Person zu Person unterscheiden. Frankfurt vertritt die Ansicht, daß es für die Beantwortung der Frage, wie wir leben sollen, unwichtig ist, ob wir – als Individuen oder als Mitglieder derselben Spezies – etwas lieben, das diese Liebe verdient. Wichtig ist nur, daß wir überhaupt etwas lieben. Volitionale Notwendigkeiten gründen nicht unbedingt in einem kognitiven Prozeß: Unsere Liebe zu einer Person oder einer Sache kann einfach eine nackte Tatsache sein. Unter Umständen besitzt das Objekt unserer Liebe keinerlei objektiv wertvolle Qualitäten. Es könnte sogar sein, daß unsere Liebe überhaupt nicht auf Gründen beruht.

Frankfurt glaubt, daß die Notwendigkeiten, auf die er sich bezieht, die Eigenschaft haben, von uns von ganzem Herzen bejaht zu werden. Während ein süchtiger Mensch seiner Sucht »notwendigerweise« gehorcht, weil er nicht in der Lage ist, sie zu besiegen, hat eine Person, die von einer volitionalen Notwendigkeit gelenkt wird, nicht den Wunsch, etwas an dem Umstand zu ändern, daß diese Notwendigkeit ihr Handeln einschränkt. Selbst wenn ich die nötige Willenskraft hätte, etwas an meiner Liebe zu meinem Sohn zu ändern, kann ich mir nicht vorstellen, das zu tun. Es wäre undenkbar für mich, mich zu diesem Zeitpunkt aus freien Stücken gegen meine Liebe zu entscheiden. Wenn volitionale Notwendigkeiten eine Person einschränken, kommt sie nicht umhin, bestimmte Dinge zu wollen, und andere Dinge sind ihr völlig unmöglich. Wenn eine Person sich um eine Sache sorgt oder wenn ihr etwas wichtig ist, bedeutet das, daß sie disponiert ist, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten. »Wir können nicht anders, als uns diesen [Endzwecken] zu verschreiben« (S. 61), die die Liebe uns vorgibt. Sie bietet uns etwas, um das wir uns sorgen, das wir wichtig nehmen können. Für Frankfurt liegt der Sinn eines Lebens im Akt des Liebens.

Die Themen, die Frankfurt in seinen Essays anspricht, sind von zentraler Bedeutung für uns Menschen, weil wir mit den Problemen umgehen müssen, die daraus entstehen, daß wir reflektierende Handelnde sind und zugleich vor der Frage stehen, wie wir leben sollen. In diesem Band finden sich Frankfurts aktuellste Überlegungen zu diesem Thema und drei Erwiderungen von bedeutenden Denkern und Denkerinnen aus den Gebieten der Philosophie und des Rechts, die den Implikationen von Frankfurts Werk nachgehen.

Christine Korsgaard untersucht in ihrem Beitrag die Beziehung zwischen Sorge und Moral. Erwachsen mir aus der Moral nur dann Handlungsgründe, wenn ich mich um sie sorge? Im Gegensatz zu Frankfurt denkt Korsgaard, die normative Qualität der Moral hänge für einen Handelnden nicht davon ab, daß dieser Handelnde sich direkt um die Moral sorgt. Selbst für Menschen, die die Moral für unwichtig halten, ist sie dennoch eine Quelle von Gründen. Korsgaard stellt in ihrer Erwiderung auf Frankfurt die These auf, daß die Sorge eine Logik hat, deren Gültigkeit sich nicht auf die Objekte beschränkt, um die eine Person sich sorgt. Vielleicht habe ich mich bereits durch den bloßen Umstand, daß ich mich überhaupt um etwas sorge, allgemein geteilten Werten, wie zum Beispiel der Moral, verschrieben.

Michael Bratman fragt, ob die volitionalen Notwendigkeiten der Liebe das unverzichtbare Fundament der menschlichen Psyche sind. Vielleicht könnten andere Sorgen, die gewichtig, aber nicht notwendig sind, unser Selbst und unser Handeln begründen. Manche dieser gewichtigen Gründe könnten aus dem Wunsch einer Person entstehen, ihrem Leben diachrone Kohärenz und Einheit zu geben. Vielleicht können einige von ihnen – Projekte und Pläne, die der entsprechenden Person wichtig sind – sogar Vorrang vor den Forderungen der Liebe haben.

Meir Dan-Cohen geht der Frage nach, welche Implikationen Frankfurts Essays für die Zuschreibung von Verantwortung haben. Wenn ich aufgrund volitionaler Notwendigkeit handle und damit aufgrund von Wünschen, mit denen ich mich von ganzem Herzen identifiziere, bin ich dann voll für mein Handeln verantwortlich? Wenn ich keine solche vollständige Identifikation mit meinen Wünschen und Handlungen erreiche, bin ich dadurch dann weniger für sie verantwortlich? Wer bestimmt, in welchem Umfang sich ein Angeklagter in einem Strafprozeß mit seinen inneren Zuständen identifiziert? Der Angeklagte? Die Geschworenen? Dan-Cohen plädiert dafür, die Absteckung der Grenzen des Selbst als soziale anstatt nur als individuelle Aufgabe zu denken.

Zusammen bilden die Essays und Kommentare einen Kontext für das Nachdenken über die Probleme, die das Führen eines reflektierten Lebens mit sich bringt. Es handelt sich um originelle und äußerst anregende Texte, die nicht nur für Philosophen von...

Erscheint lt. Verlag 8.2.2016
Mitarbeit Kommentare: Meir Dan-Cohen, Michael E. Bratman, Christine Korsgaard
Anpassung von: Eva Engels
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie
Schlagworte Lebensführung • Liebe • Selbstreflexion • Sorge • STW 2168 • STW2168 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2168 • Theoretische Philosophie • Vernunft • Wissenschaft
ISBN-10 3-518-74222-1 / 3518742221
ISBN-13 978-3-518-74222-8 / 9783518742228
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