Das Leben der Florence Gordon (eBook)
334 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-74485-6 (ISBN)
<p>Brian Morton, geboren 1955 in New York, lehrt an der New York University und dem Bennington College. Seine Romane wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Familie in New York.</p>
1
Florence Gordon wollte ihre Memoiren schreiben, aber zwei Dinge sprachen dagegen: Sie war alt, und sie war eine Intellektuelle. Und wer würde schon, fragte sie sich immer wieder, etwas über eine alte Intellektuelle lesen wollen?
Vielleicht waren es drei Dinge, weil sie nicht nur intellektuell, sondern Feministin war. Sollte sie mit dem Buch je fertig werden, würden Kritiker es als »verbittert« und »schrill« abqualifizieren.
Was eine alte Feministin von sich gibt, ist per se verbittert und schrill.
Sie klappte den Laptop zu.
Bringt ja doch nichts, dachte sie.
Doch dann klappte sie ihn wieder auf.
2
Sie fühlte sich nicht schrill und verbittert. Sie fühlte sich nicht einmal alt.
Und überhaupt ist das Alter nicht, was es mal war – das redete sie sich zumindest ein.
Florence sah das so: Sie war fünfundsiebzig. In früheren Zeiten hätte sie das zu einer alten Frau gemacht. Nicht heute. Sie war in den Sechzigern eine junge Frau gewesen, und wenn man damals jung gewesen ist – »Glück hieß in jener Frühzeit leben schon, doch jung sein, war der Himmel selbst« –, wird man in gewissem Sinne niemals alt. Man hat erlebt, wie die Beatles nach Amerika kamen, hat die Entdeckung des Sex und die Geburt der Befreiungsbewegung miterlebt, und selbst wenn man später als garstige Alte endet, die bei allem Stolz auf ihre aktivistische Vergangenheit nur noch in Ruhe lesen, schreiben, denken will – selbst wenn man so endet, bleibt immer ein Teil der Seele grün.
Florence wollte, wie man wohl dazusagen sollte, nie jünger wirken, als sie war. Sie tönte ihr Haar nicht, sie hielt nichts von Botox, und sie bleichte nie ihre Zähne. Ihre schiefen, altmodischen Zähne, rau und ehrlich und ungeschönt, waren für sie gut genug.
Florence wollte auch ihre Jugend nicht wiederhaben. Unter anderem weil sie das Leben, das sie jetzt führte, so spannend fand.
Sie war also eine starke, stolze, geistig unabhängige Frau, die ihr Alter akzeptierte und doch im Grunde jung geblieben war.
Und sie war aus der Sicht vieler Leute, die sie kannten, und aus der Sicht vieler, die sie liebten, vollkommen unausstehlich.
3
Die Erinnerungen, die sie zu Papier bringen wollte, begannen in der Frühzeit der Frauenbewegung – der modernen Frauenbewegung, ihrer eigenen, der Frauenbewegung, die in den 1970ern Fahrt aufgenommen hatte. Wenn sie mit dem Buch einmal fertig wurde, würde es ihr siebtes sein.
Jedes Buch hatte andere Schwierigkeiten mit sich gebracht. Bei diesem bestand die Schwierigkeit darin, dass Florence es nicht schaffte, die Vergangenheit zum Leben zu erwecken. Ihr Gedächtnis funktionierte, sie hatte die Daten, die Ereignisse und Akteure parat. Was fehlte, war die Textur des Vergangenen.
Heute Abend, so kam es ihr vor, hatte sie endlich den Code geknackt. Ihr war ein Augenblick eingefallen, an den sie sich seit Jahren nicht erinnert hatte. Nur ein Augenblick, an sich ganz unbedeutend. Aber weil er ihr so lange nicht in den Sinn gekommen war, erinnerte sie sich jetzt ganz frisch daran, und vielleicht hatte sie damit das Tor gefunden, das in die Vergangenheit führte.
Sie hatte den Rest des Abends frei. Erst war sie mit Freunden zum Essen verabredet gewesen, hatte aber mit klammheimlicher Freude abgesagt, um arbeiten zu können. Es war sieben Uhr an einem Freitag im Mai, sie hatte ihre akademischen Pflichten erledigt, und ihr Kopf war klar. Und dieser Freitagabend, an dem sie endlich, endlich, endlich vorankam, dieser Abend war der glücklichste seit langer Zeit.
Nur dass Vanessa immer wieder anrief.
Ihre Freundin Vanessa rief immer wieder bei ihr an, und Florence ignorierte es immer wieder. Beim fünften Anruf begann sie sich zu fragen, ob Vanessa in Schwierigkeiten steckte, und beim sechsten ging sie dran.
»Gott sei Dank bist du da«, sagte Vanessa. »Ich habe ein Problem.«
»Was ist passiert?«
»Nichts Großes. Nichts Dramatisches. Ich habe mich nur anscheinend beklauen lassen und habe jetzt nur noch mein Telefon. Ich brauche Geld für die Heimfahrt.«
»Wo bist du?«
»Deshalb melde ich mich ja bei dir. Ich bin nur drei Blocks weiter.«
Sie nannte den Namen eines Restaurants.
»Tja, ich bin zu Hause«, sagte Florence. »Komm vorbei.«
»Danke, das ist nett. Aber es ist ein bisschen kompliziert.«
»Warum?«
»Ruby und Cassie mussten los, und ich bin geblieben, um zu zahlen, und habe erst dann gemerkt, dass meine Handtasche verschwunden war. Und jetzt will mich der Inhaber nicht gehen lassen. Er hat Angst, dass ich die Zeche prellen könnte.«
»Vanessa, du bist eine sehr respektable Frau. Eine sehr alte respektable Frau. Niemand würde dir zutrauen, dass du die Zeche prellst. Sag ihm, du seist nicht Bonnie Parker.«
»Das habe ich ihm ja gesagt. Wortwörtlich sogar. Ich habe gesagt, dass ich nicht Bonnie Parker bin. Aber er lässt nicht mit sich reden. Ich fürchte, er hält mich sehr wohl für Bonnie Parker. Es tut mir wirklich leid. Aber es geht ganz schnell.«
Menschen, dachte Florence, als sie in ihre Schuhe stieg. Wofür brauche ich die noch mal?
Er hat Angst, sie könnte die Zeche prellen. Während sie auf den Fahrstuhl wartete, murmelte Florence vor sich hin. Sie kam sich schon wie Popeye der Seemann vor.
Sie überquerte die Straße, murmelte immer noch vor sich hin. Murmelte, ballte rhythmisch die Fäuste.
Das mit den Fäusten tat sie, weil die linke Hand ihr Probleme machte. Karpaltunnelsyndrom. Manchmal zuckten die Finger, als hätten alle fünf ihren eigenen kleinen Kopf. Ein Neurologe hatte ihr eine ergonomische Tastatur empfohlen, eine ergonomische Maus und eine ergonomische Handgelenksschiene; sie hatte alles besorgt und brav alle Übungen gemacht, die er ihr verschrieben hatte, und nichts davon schien zu wirken.
Dieses Murmeln, dieses Fäusteballen – ich muss aussehen wie eine Verrückte, dachte sie.
4
Das Restaurant lag an der 76. Straße, zwischen der Columbus und der Central Park West. Sie ging rein, und Vanessa war nirgends zu sehen.
Es war ein schickes, teures, leicht versnobtes Restaurant. Nicht die Sorte, wo der Inhaber einen in Geiselhaft nehmen würde.
Der Empfangskellner, ein ernst dreinblickender Mann, fragte, ob er ihr helfen könne.
»Ich suche nach einer Freundin. In meinem Alter? Die ihre Rechnung nicht bezahlen konnte?«
»Natürlich, ich weiß, wen sie meinen. Sie ist im Hinterzimmer.«
Die halten sie im Hinterzimmer fest, dachte Florence. Die nehmen sie in die Mangel.
Er führte Florence einen Flur entlang und wies auf eine Tür, hinter der es unerklärlich dunkel war. Sie trat ein, und das Licht ging an, und ein ganzer Saal voller Leute rief: »Überraschung!«
Überraschung.
Freunde von der NYU, Weggefährtinnen aus der Bewegung, befreundete Literaten. Sogar ihre Familie war gekommen: ihre Schwiegertochter, ihre Enkelin.
Vanessa fiel ihr um den Hals.
»Das war unsere einzige Chance, dich gebührend zu feiern.«
»Ich habe doch gar nicht Geburtstag.«
»Ich dachte, wenn wir es zu dicht an deinem Geburtstag machen, wäre es keine Überraschung mehr. Dann hättest du geahnt, was los ist, und wärst niemals hergekommen. Es war ein kniffliger Spezialeinsatz. Wie die Jagd nach dem legendären Yeti. Wir wollten dich hochleben lassen. Und wir wollten, dass du mal aus der Wohnung kommst und dich ein bisschen amüsierst.«
Es war verblüffend, wie wenig die Leute einander kannten, selbst ganz alte Freunde. Ich habe mich amüsiert, dachte Florence. Es war schön, zu Hause zu sitzen und über das Leben nachzudenken, über unser gemeinsames Leben. Es war schön, sich die richtigen Sätze abzuringen. Es war schön, einen Augenblick vor dem Vergessen zu bewahren.
Und jetzt war es alles vorbei. Sie war so dicht dran gewesen, klar zu sehen, aber es hatte sich noch so flüchtig, so fragil angefühlt. Wer wusste schon, ob dieses Fünkchen Klarheit am nächsten Morgen nicht erloschen wäre.
Janine, ihre Schwiegertochter, und ihre Enkelin Emily kamen auf sie zu. Sie waren seit Monaten in New York, und Florence hatte sich immer noch nicht mit ihnen getroffen. Erst hatte sie ein schlechtes Gewissen gehabt, aber dann begriff sie, dass dies Gefühl nur ein Tribut an die Konventionen war – eigentlich hatte sie schlicht keine Lust gehabt, sich mit ihnen zu treffen –, und sie hörte auf, sich schuldig zu fühlen.
»Herzlichen Glückwunsch zum Fast-Geburtstag«, sagte Janine.
»Sehr beglückt scheinst du aber nicht zu sein«, sagte Emily.
»Ich wünschte, jemand hätte die Sache im Keim erstickt.«
»Ich hab’s versucht! Ich habe versucht, es zu ersticken«, sagte Janine. »Ich wusste, dass es keine gute Idee war. Aber Vanessa … Sie ist fast so eine Naturgewalt wie du.«
O Gott. Sogar Saul war da.
Er legte ihr den Arm um die Schulter. Anscheinend war er angetrunken.
»Ich konnte nicht nicht kommen«, sagte er. »Und das ist ganz wörtlich gemeint. Deine Freundin hat keinerlei Einwände gelten lassen.«
Eine Frau, die Florence vage bekannt vorkam, stand plötzlich vor ihr und erzählte lang und breit, wie schwierig es war, von Rockland County herzukommen. Eine andere erzählte, wie schwer es ihr gefallen sei, sich von ihrem niedlichen, noch nicht stubenreinen Welpen loszureißen. Florence lächelte, nickte und tat,...
Erscheint lt. Verlag | 8.2.2016 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Florence Gordon |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 50plus • Alter • Best Ager • Buch für den Strand • Buch für den Urlaub • Familie • Feminismus • Florence Gordon deutsch • Generation Gold • Golden Ager • Intellektuelle Szene • Krankheit • New York City • Rentner • Rentnerdasein • Ruhestand • Senioren • Sommer-Lektüre • Strand-Buch • Urlaubslektüre |
ISBN-10 | 3-458-74485-1 / 3458744851 |
ISBN-13 | 978-3-458-74485-6 / 9783458744856 |
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