Die Neue französische Linke von 1958 - 1968 (eBook)

Engagement, Kritik, Utopie
eBook Download: PDF | EPUB
2016 | 1. Auflage
480 Seiten
Tectum-Wissenschaftsverlag
978-3-8288-6351-4 (ISBN)

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Die Neue französische Linke von 1958 - 1968 -  Susanne Götze
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Frankreich 1958: Der Algerienkrieg eskaliert, die links-liberale Regierung implodiert und reicht die Macht an General Charles de Gaulle weiter. Der hebt im Oktober die V. Republik aus der Taufe - und die französische Linke gesteht damit ihre Ohnmacht ein. Die Sozialisten haben den Machtantritt des konservativen Generals nicht verhindert, sondern diesen sogar mit angezettelt. Auch die Kommunisten sind isoliert und kämpfen mit dem stalinistischen Erbe. Einige Genossen erkennen ihre sozialistische Bewegung nicht wieder und beschließen, eine neue linke Bewegung aufbauen. Sie wollen de Gaulle und den Krieg offen bekämpfen, 'veraltete' linke Ideologien über Bord werfen und ein 'Labor' für neues linkes Denken schaffen. Parteimitglieder der Altkommunisten, Sozialisten und Trotzkisten, aber auch Künstler, Philosophen und Schriftsteller wurden Teil dieser heterogenen Bewegung, die heute als Neue Linke bezeichnet wird. Der interessierte Leser begreift nun die Ideengeschichte dieser Neuen französischen Linken, die nicht nur einen starken Einfluss auf die Ereignisse um 1968 in Frankreich ausübte, sondern deren Ansätze noch bis heute im linken Spektrum, inner- wie außerparteilich, für Diskussionsstoff sorgen.

Inhaltsverzeichnis 6
1 Einleitung 9
2 Die Neue Linke in Frankreich – Abgrenzung und Einordnung 38
3 Erneuerung des Sozialismusbegriffs innerhalb der Neuen Linken 111
4 Die traditionelle Neue Linke und ihr Sozialismusverständnis 175
5 Intellektuelle Avantgarde der Neuen Linken: Der sozialistische Dritte Weg im Kalten Krieg 283
6 Zusammenfassung 395
Résumé : La Nouvelle Gauche française de 1958 à 1968 - Engagement, critique, utopie 418
Siglen/Abkürzungen 451
Quellen- und Literaturverzeichnis 454

2Die Neue Linke in Frankreich – Abgrenzung und Einordnung

2.1Das Ende der IV. Republik: Vertrauenskrise und Algerienkrieg

„La grande chance du PSU a été au fond la guerre d’Algérie“, schrieb der PSU-Politiker Marc Heurgon Anfang der 1990er Jahre rückblickend.91 Der seit dem 1. November 1954 geführte Krieg gegen die Unabhängigkeitsbewegung in Algerien war nicht nur eine wesentliche Ursache der Gründung der PSU, sondern garantierte in den ersten Jahren auch ihre innere Kohärenz. Zudem habe die Partei die „Möglichkeiten der Geschichte“ für sich zu nutzen gewusst, meint auch Jean-Claude Gillet,92 da gerade Anfang der 1960er Jahre aufgrund der Länge und der Härte des Krieges eine gewisse Kriegsmüdigkeit in der Bevölkerung eintrat.93 Die Kolonialkriege in Indochina (1946-1954) und Algerien (1954-1962) trugen durch ihre lange Dauer dazu bei, dass der Widerstand gegen die Regierungen der IV. Republik innerhalb der regierenden Parteien sowie auch in außerparlamentarischen Bewegungen wuchs.94 Ab Mitte der 1950er Jahre gründeten sich im Kontext des beginnenden Algerienkriegs95 1954 die ersten Vorläuferorganisationen und -zusammenschlüsse der französischen Neuen Linken.

Neben dem Algerienkrieg führten Ereignisse wie die beginnende Entstalinisierung durch den XX. Parteitag der KPdSU 1956 sowie die Niederschlagung der Aufstände in Polen und Ungarn im Juni bzw. Oktober 1956 durch die Moskauer Führung zu einer zunehmenden Distanzierung insbesondere in der PCF und unter bereits kritisch eingestellten Kommunisten. Hingegen wurden Teile der Sozialisten und Anhänger der „Parti radical“ durch die französische Außenpolitik sensibilisiert und kritisierten neben dem Algerieneinsatz das militärische Eingreifen der Regierung in der Suezkrise.96 Hinzu kamen Divergenzen innerhalb der SFIO um die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und die damit einhergehende Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland.97 Der im August 1954 in der Nationalversammlung abgelehnte EVG-Vertrag98 löste innerhalb der SFIO Debatten über das Verhältnis zur UdSSR und der Souveränität Deutschlands aus. Während Guy Mollet und Jules Moch den Vertrag unter bestimmten Konditionen zu akzeptieren bereit waren, lehnten Mitglieder wie Daniel Mayer, Alain Savary und Robert Verdier, die einige Jahre später zur inneren Opposition der Partei gehörten und schließlich die PSU gründeten, das Vertragswerk grundlegend ab.99 Sie argumentierten, dass Frankreich nicht endgültig die ohnehin schwachen Beziehungen mit der UdSSR aufgeben solle, um so eine Aufrüstungs- und Lagerpolitik des Kalten Krieges zu verhindern. Zudem wurde in einem Aufruf der EVG-Gegner von 1954 darauf insistiert, dass es nicht nur um eine Ablehnung der Wiederbewaffnung West-Deutschlands gehe, sondern auch darum, andere Länder wie Großbritannien und die skandinavischen Staaten mit in die Europäischen Gemeinschaften zu holen und – statt ein Verteidigungsbündnis – vor allem politische und soziale Partnerschaften aufzubauen. Rund die Hälfte der sozialistischen Abgeordneten in der Nationalversammlung unterzeichnete den Aufruf gegen die EVG von Alain Savary und Robert Verdier. Sie trugen entgegen der Parteidisziplin, die ein geschlossen positives Votum vorsah, zur mehrheitlichen Ablehnung des Vertrages bei.100

Da die sozialistische SFIO sowie die „Parti radical“ an Regierungen der IV. Republik beteiligt waren und die Sozialisten ab 1956 sogar den Regierungschef stellten, stand die Verschärfung des Algerienkriegs im Zentrum der Kritik der sozialistischen „Abweichler“, wohingegen die PCF in der Opposition nicht direkt in die Verantwortung genommen werden konnte und eher wegen ihres zurückhaltenden Widerstandes kritisiert wurde.101 Je länger der Krieg in Algerien dauerte, desto mehr nahmen die kritischen Stimmen innerhalb der außerparlamentarischen und parlamentarischen Linken zu. Dies führte zur Eskalation der seit längerem gärenden internen Spannungen in der SFIO und der „Parti radical“.

Da die sozialistische Regierung ab 1956 auch die entsprechenden Minister stellte, wirddie SFIO im Algerienkrieg zu Recht als der zentrale politische Verantwortungsträger gesehen. Die Ohnmacht der Sozialisten, die eine erstarkende Unabhängigkeitsbewegung (Front de Libération Nationale) und die sich radikalisierende französischen Rechte nicht mehr unter Kontrolle hatten, führte so nicht nur politisch zum Scheitern der IV. Republik und zur langen Oppositionszeit bis 1981, sondern auch zur ersten Abspaltung einer internen Parteiopposition seit 1938.102

Um im Folgenden die Herausbildung der verschiedenen Gruppen und Zeitschriften der Neuen Linken sowie die politische Programmatik der PSU zu analysieren, wird auf die Ausgangssituation des politischen Feldes der IV. Republik und das Verhältnis der Kritiker gegenüber der SFIO, der PCF sowie der „Parti radical“ eingegangen. Da die Kritik gegenüber dieser „traditionellen Linken“ ein identitätsstiftender gemeinsamer Ausgangspunkt der verschiedenen Organisationen der Neuen Linken war, ist die Darstellung ihrer Widerstände und Aktionsformen vor 1958 eine wichtige Grundlage für die weitere Untersuchung. In diesem Kapitel geht es dabei vordergründig darum, den schrittweisen Vertrauensverlust in die Politik der großen linken Parteien grob nachzuzeichnen. Der Antikolonialismus blieb auch die ersten Jahre in der PSU der gemeinsame Bezugspunkt und der „Kitt“ für die Neugründung einer sozialistischen Opposition.

2.1.1SFIO, „Parti radical“ und PCF – der Algerienkrieg und linke Politik

Die große Verantwortung der SFIO an der Algerienkrise resultierte aus dem Engagement der vorwiegend sozialistischen Regierungschefs, Minister und Staatssekretäre im Algerienkrieg, die es vorzogen, eine letztlich nationalistische Politik zu betreiben, anstatt den Rufen nach einer schnellen Verhandlungslösung und somit Entkolonialisierung zu folgen. Zusammen mit der „Parti radical“ – die ebenfalls wie die SFIO eine parteiinterne antikolonialistische Opposition besaß – und zentralistisch-republikanischen Kräften103 hatten die Sozialisten den Krieg in Algerien seit 1954 bei mehreren Regierungsbeteiligungen mit zu verantworten. Die längste Regierung der IV. Republik stellten die Sozialisten unter Guy Mollet vom 1.2.1956 bis zum 21.5.1957. In dieser Zeit war der Sozialist Robert Lacoste Minister in Algerien (Ministre de l’Algérie et gouverneur général) und auch seine Staatssekretäre gehörten ebenfalls den Sozialisten an. Schon in den ersten Monaten seiner Amtszeit mobilisierte Premierminister Guy Mollet die französische Arme, um Algerien zu „befrieden“.104 Gegen die zunehmende Repression wandten sich innerhalb der Regierung die innerparteiliche Opposition in der SFIO um André Philip und ein Teil der „Parti radical“, dessen bekanntester Vertreter Pierre Mendès France im Mai 1956 aus der Regierung austrat.105

Philip und seine Mitstreiter, unter anderem Orest Rosenfeld und Lucien Weitz, mussten hinnehmen, dass sie die Linie der Partei gegen die Mehrheit nicht zu ändern vermochten.106 Hinzu kam die aggressive Politik der Regierung Mollet in der Suezkrise im Oktober 1956107. Im Verlaufe des Jahres 1957 drängte vor allem der Algerienminister Robert Lacoste die Minderheit der Partei in die Enge und verlangte eine Entscheidung zwischen der Partei oder dem „Terrorismus“.108 Ende 1957 wurde die Regierungsbildung von einem Vertreter der radikalen Partei übernommen, Félix Gaillard, jedoch blieben viele Verantwortlichkeiten weiterhin in den Händen der Sozialisten.109

Letztendlich war die IV. Republik 1958 durch den eskalierenden Algerienkrieg handlungs- und entscheidungsunfähig geworden. In der Folge unterstützten Mollet und seine Partei aktiv die Rückkehr de Gaulles und dessen Verfassungsreformen, die dann im Oktober 1958 zur Einführung der V. Republik führten.110 Für die oppositionellen Sozialisten begann ihr endgültiger Bruch mit der Partei im Mai 1958: In Reaktion auf die Zustimmung der sozialistischen Parlamentarier zur Einsetzung de Gaulles als Ratspräsident verließen die Gegner der Politik von Parteichef Guy Mollet die SFIO und gründeten daraufhin im September 1958111 die PSA, nachdem die Mehrheit der SFIO dem Referendum de Gaulles für eine neue Verfassung am 28. September zugestimmt hatte.112

Als Mitbegründer der sozialistischen PSU-Vorgängerpartei PSA beschrieb André Philip in seiner 1960 erschienenen Kritik an der IV. Republik eine Version der Ereignisse von 1958, die das Credo der antigaullistischen Linken im Kern zusammenfasste: Die kritischen Sozialisten sahen sich nicht nur mit der Machtübernahme der politischen Rechten konfrontiert, sondern auch mit der Unfähigkeit ihrer eigenen Partei, der SFIO, sowie der anderen liberalen Parteien der IV. Republik, politische Verantwortung zu übernehmen. Philip ging in seiner Kritik auf die politischen Fehler der Parteien der IV. Republik ein:

„La IVe République n’a pas été assassinée; elle s’est suicidée : l’issue était, depuis longtemps, prévisible ; les événements du 13 mai ont seulement constitué l’accident qui a permis au général de Gaulle de s’imposer à la nation […]“.113

Nachdem de Gaulle am 1. Juni 1958 von René Coty zum Ministerpräsidenten nominiert worden war, kündigte er ein Referendum über eine neue Verfassung für die V. Republik an, die dem Parlament und den Parteien weniger Rechte einräumen sollte. Stattdessen lag nach der neuen Verfassung die erste Entscheidungsgewalt beim Präsidenten und der Regierung. Damit führte de Gaulle das...

Erscheint lt. Verlag 18.1.2016
Verlagsort Baden-Baden
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Schlagworte Algerienkrieg • Charles de Gaulle • Demokratie • François Mitterrand • Frankreich • Geschichte • Henri Lefebvre • Jean-Paul Sartre • Kommunismus • Linke • Mitterrand • Planwirtschaft • PSU • Selbstverwaltung • SFIO • Sozialismus
ISBN-10 3-8288-6351-5 / 3828863515
ISBN-13 978-3-8288-6351-4 / 9783828863514
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