Die vierzig Tage des Musa Dagh (eBook)

Roman

(Autor)

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2016 | 1. Auflage
1039 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-74346-0 (ISBN)

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Die vierzig Tage des Musa Dagh -  Franz Werfel
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Der große Roman über das Schicksal einer Familie in den Wirren des armenischen Völkermords. Gabriel Bagradian hat die letzten dreiundzwanzig Jahre in Paris verbracht. Nun kehrt er mit Frau und Kind in seine Heimat Armenien zurück. Der Aufenthalt soll nur von kurzer Dauer sein, doch dann bricht der Erste Weltkrieg aus. Bagradian und seine Familie sitzen fest. Als das Osmanische Reich die Deportation der gesamten armenischen Bevölkerung verhängt, fasst Bagradian einen waghalsigen Plan: Er wird Widerstand leisten. Und so zieht er mit über fünftausend Verbündeten auf den Berg Musa Dagh, um der türkischen Übermacht die Stirn zu bieten.

<p>Franz Werfel wurde 1890 als Sohn eines j&uuml;dischen Kaufmanns in Prag geboren. Bereits w&auml;hrend der Schulzeit ver&ouml;ffentlichte er seine ersten Gedichte. 1912 ging er nach Leipzig, wo er als Lektor beim Kurt Wolff Verlag t&auml;tig war. Im Ersten Weltkrieg wurde er zum Kriegsdienst eingezogen und 1917 in das Wiener Kriegspressequartier versetzt. 1938 emigrierte er nach Frankreich und zwei Jahre sp&auml;ter &uuml;ber die Iberische Halbinsel in die USA. Dort starb Franz Werfel 1945 in Beverly Hills.</p>

Erstes Kapitel


Teskeré


»Wie komme ich hierher?«

Gabriel Bagradian spricht diese einsamen Worte wirklich vor sich hin, ohne es zu wissen. Sie bringen auch nicht eine Frage zum Ausdruck, sondern etwas Unbestimmtes, ein feierliches Erstaunen, das ihn ganz und gar erfüllt. Es mag in der durchglänzten Frühe des März-Sonntags seinen Grund haben, in dem syrischen Frühling, der von den Hängen des Musa Dagh herab die Herden roter Riesen-Anemonen bis in die ungeordnete Ebene von Antiochia vorwärtstreibt. Überall quillt das holde Blut aus den Weidenflächen und erstickt das zurückhaltende Weiß der großen Narzissen, deren Zeit ebenfalls gekommen ist. Ein unsichtbar goldenes Dröhnen scheint den Berg einzuhüllen. Sind es die ausgeschwärmten Immenvölker aus den Bienenstöcken von Kebussije oder wird in dieser durchsichtigsten und durchhörbarsten Stunde die Brandung des Mittelmeers vernehmlich, die den nackten Rücken des Musa Dagh weit dahinten benagt? Der holprige Weg läuft zwischen verfallenen Mauern aufwärts. Wo sie unvermittelt als unordentliche Steinhaufen enden, verengt er sich zu einem Hirtenpfad. Der Vorberg ist erstiegen. Gabriel Bagradian wendet sich um. Seine große Gestalt in dem Touristenanzug aus flockigem Homespun streckt sich lauschend. Er rückt den Fez ein wenig aus der feuchten Stirn. Seine Augen stehen auseinander. Sie sind etwas heller, aber um nichts kleiner als Armenieraugen im Allgemeinen.

Nun sieht Gabriel, woher er kommt: Das Haus leuchtet mit seinen grellen Mauern und dem flachen Dach zwischen den Eukalyptusbäumen des Parks. Auch die Stallungen und das Wirtschaftsgebäude blinken in der sonntäglichen Morgensonne. Obgleich zwischen Bagradian und dem Anwesen schon mehr als eine halbe Wegstunde Entfernung liegt, scheint es immer noch so nahe, als sei es seinem Herrn auf dem Fuße gefolgt. Doch auch die Kirche von Yoghonoluk weiter unten im Tal grüßt ihn deutlich mit ihrer großen Kuppel und dem spitzhütigen Seitentürmchen. Diese massig ernste Kirche und die Villa Bagradian gehören zusammen. Gabriels Großvater, der sagenhafte Stifter und Wohltäter, hat beide vor fünfzig Jahren erbaut. Unter den armenischen Bauern und Handwerkern ist es wohl Sitte, nach den Wanderfahrten des Erwerbs aus der Fremde, ja selbst aus Amerika in die Heimatnester zurückzukehren; die reichgewordenen Großbürger aber halten es anders. Sie setzen ihre Prunkvillen an die Küste von Cannes, in die Gärten von Heliopolis oder zumindest auf die Hänge des Libanon in der Umgebung von Beirût. Von dergleichen Emporkömmlingen unterschied sich der alte Awetis Bagradian beträchtlich. Er, der Begründer jenes bekannten Stambuler Welthauses, das in Paris, London und New York Niederlassungen besaß, residierte, soweit es seine Zeit und seine Geschäfte zuließen, Jahr für Jahr in der Villa oberhalb der Ortschaft Yoghonoluk am Musa Dagh. Doch nicht nur Yoghonoluk, auch die übrigen sechs armenischen Dörfer des Bezirkes von Suedja hatten den reichen Segen seiner königlichen Gegenwart genossen. Wenn man von den Kirchen und Schulbauten, von der Berufung amerikanischer Missionslehrer absieht, so genügt es, auf das Geschenk hinzuweisen, das der Bevölkerung trotz aller Ereignisse bis auf den heutigen Tag im Gedächtnis geblieben ist: jene Schiffsladung von Singer-Nähmaschinen, die Awetis Bagradian nach einem besonders glücklichen Geschäftsjahr an fünfzig bedürftige Familien der Dörfer verteilen ließ.

Gabriel – er wendet den lauschenden Blick noch immer von der Villa nicht ab – hat den Großvater gekannt. Er wurde ja unten in dem Hause geboren und hat so manchen langen Kindheits-Monat dort verbracht. Bis zu seinem zwölften Jahr. Und doch, dieses frühere Leben, das einst das seinige war, berührt ihn unwirklich bis zur Schmerzhaftigkeit. Es gleicht einem vorgeburtlichen Dasein, dessen Erinnerungen mit unwillkommenen Schauern die Seele ritzen. Hat er den Großvater tatsächlich gekannt oder ihn nur in einem Knabenbuch gelesen oder abgebildet gesehn? Ein kleiner Mann mit weißem Spitzbart in einem langen, gelbschwarz gestreiften Seidenrock. Der goldene Kneifer hängt an einer Kette auf die Brust herab. Mit roten Schuhen geht er durch das Gras des Gartens. Alle Menschen verbeugen sich tief. Zierliche Greisenfinger berühren die Wange des Kindes. War es so, oder ist es nur eine leere Träumerei? Mit dem Großvater ergeht es Gabriel Bagradian ähnlich wie mit dem Musa Dagh. Als er vor einigen Wochen den Kindheitsberg zum ersten Mal wiedersah, die dunkelnde Kammlinie gegen den Abendhimmel, da durchflutete ihn eine unbeschreibliche Empfindung, schreckhaft und angenehm zugleich. Ihre Tiefe ließ sich nicht ergrübeln. Er gab es sofort auf. War es der erste Atemzug einer Ahnung? Waren es die dreiundzwanzig Jahre?

Dreiundzwanzig Jahre Europa, Paris! Dreiundzwanzig Jahre der völligen Assimilation! Sie gelten doppelt und dreifach. Sie löschen alles aus. Nach dem Tode des Alten flieht die Familie, vom Lokalpatriotismus des Oberhauptes erlöst, diesen orientalischen Winkel. Der Hauptsitz der Firma bleibt nach wie vor in Stambul. Doch Gabriels Eltern leben mit ihren beiden Söhnen jetzt in Paris. Der Bruder, auch er heißt Awetis, um fünfzehn Jahre älter als Gabriel, verschwindet aber rasch. Als Mitchef des Importhauses kehrt er in die Türkei zurück. Nicht zu Unrecht trägt er den Vornamen des Großvaters. Ihn zieht es nicht nach Europa. Er ist ein einsamkeitssüchtiger Sonderling. Die Villa in Yoghonoluk kommt nach mehrjähriger Verlassenheit durch ihn wieder zu Ehren. Seine einzige Liebhaberei ist die Jagd, und von Yoghonoluk aus unternimmt er seine Weidfahrten ins Taurusgebirge und in den Hauran. Gabriel, der von dem Bruder kaum etwas weiß, geht in Paris aufs Gymnasium und studiert an der Sorbonne. Niemand zwingt ihm den kaufmännischen Beruf auf, zu dem er, eine wunderliche Ausnahme seines Stammes, nicht im Geringsten taugt. Er darf als Gelehrter und Schöngeist leben, als Archäologe, Kunsthistoriker, Philosoph, und empfängt im Übrigen eine Jahresrente, die ihn zum freien, ja wohlhabenden Mann macht. Sehr jung noch heiratet er Juliette. Diese Ehe bringt eine tiefere Wandlung. Die Französin zieht ihn auf ihre Seite. Nun ist Gabriel Franzose mehr denn je. Armenier ist er nur mehr im akademischen Sinn gewissermaßen. Dennoch vergisst er sich nicht ganz und veröffentlicht einen oder den anderen seiner wissenschaftlichen Aufsätze in armenischen Zeitschriften. Auch bekommt sein Sohn Stephan mit zehn Jahren einen armenischen Studenten zum Hofmeister, damit ihn dieser in der Sprache seiner Väter ausbilde. Juliette hält das anfangs für höchst überflüssig, ja sogar schädlich. Da ihr aber das Wesen des jungen Samuel Awakian angenehm ist, gibt sie nach einigen Rückzugskämpfen ihren Widerstand auf. Die Zwistigkeiten der Gatten wurzeln immer in ein und demselben Gegensatz. Wie sehr sich aber Gabriel auch bemüht, im Fremden aufzugehen, er wird dennoch von Zeit zu Zeit in die Politik seines Volkes hineingezogen. Da er einen guten Namen trägt, suchen ihn etliche der armenischen Führer auf, wenn sie in Paris sind. Man bietet ihm sogar ein Mandat der Daschnakzagan-Partei an. Wenn er auch diese Zumutung mit Schreck von sich weist, so nimmt er doch an dem bekannten Kongress teil, der im Jahre 1907 die Jungtürken mit der armenischen Nationalpartei vereinigt. Ein neues Reich soll geschaffen werden, in dem die Rassen friedlich und ohne Entehrung nebeneinander leben. Für ein solches Ziel begeistert sich auch der Entfremdete. Die Türken machen in diesen Tagen den Armeniern die schönsten Komplimente und Liebeserklärungen. Gabriel Bagradian nimmt nach seiner Art den Treueschwur ernster als andere. Dies ist der Grund, weshalb er sich bei Ausbruch des Balkankrieges freiwillig zu den Waffen meldet. Er wird an der Reserveoffiziersschule zu Stambul im Eilverfahren ausgebildet und kommt noch zurecht, um als Offizier einer Haubitzbatterie die Schlacht bei Bulair mitzukämpfen. Diese einzige große Trennung von den Seinigen währt länger als ein halbes Jahr. Er leidet tief unter ihr. Vielleicht fürchtet er, Juliette könnte ihm entgleiten. Irgendetwas in ihrer Beziehung zu ihm fühlt er gefährdet, obgleich er keinen wirklichen Anlass zu diesem Gefühl hat. Nach Paris zurückgekehrt, schwört er allen Dingen ab, die nicht allein dem inneren Leben gelten. Er ist ein Denker, ein abstrakter Mensch, ein Mensch an sich. Was gehn ihn die Türken an, was die Armenier? Er denkt daran, die französische Staatsbürgerschaft zu erwerben. Damit würde er vor allem Juliette glücklich machen. Zuletzt hält ihn immer wieder ein Missgefühl davon ab. Er ist freiwillig in den Krieg gegangen. Wenn er auch in seinem Vaterland nicht lebt, so kann er es doch nicht widerrufen. Es ist sein Väter-Land. Die Väter haben Ungeheures dort erlitten und es dennoch nicht aufgegeben. Gabriel hat nichts erlitten. Er weiß von Mord und Metzelei nur durch Erzählungen und Bücher. Ist es nicht gleichgültig, wohin ein abstrakter Mensch zuständig ist, denkt er und bleibt ottomanischer Untertan. Zwei glückliche Jahre in einer hübschen Wohnung der Avenue Kléber. Es sieht so aus, als seien alle Probleme gelöst und die endgültige Lebensform gefunden. Gabriel ist fünfunddreißig alt, Juliette vierunddreißig, Stephan dreizehn. Man hat ein sorgloses Dasein, keinen besonderen Ehrgeiz, geistige Arbeit und einen angenehmen Freundeskreis. Was Letzteren anbetrifft, ist Juliette tonangebend. Dies zeigt sich hauptsächlich darin, dass der Verkehr mit Gabriels alten armenischen Bekannten – seine Eltern sind lang verstorben – immer mehr einschrumpft. Juliette setzt gleichsam ihr Blut unnachgiebig durch. Nur die Augen ihres Sohnes kann sie...

Erscheint lt. Verlag 10.1.2016
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Armenien • Armenien-Resolution • Familie • insel taschenbuch 4427 • IT 4427 • IT4427 • Osmanisches Reich • Roman • Völkermord
ISBN-10 3-458-74346-4 / 3458743464
ISBN-13 978-3-458-74346-0 / 9783458743460
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