Ein sterbender Mann (eBook)

Spiegel-Bestseller
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
288 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-05401-1 (ISBN)
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Theo Schadt, 72, Firmenchef und auch als «Nebenherschreiber» erfolgreich, wird verraten. Verraten ausgerechnet von dem Menschen, der ihn nie hätte verraten dürfen: Carlos Kroll, seinem engsten und einzigen Freund seit 19 Jahren, einem Dichter. Beruflich ruiniert, sitzt Theo Schadt jetzt an der Kasse des Tangoladens seiner Ehefrau in der Schellingstraße in München. Und weil er glaubt, er könne nicht mehr leben, wenn das, was ihm passiert ist, menschenmöglich ist, hat er sich in einem Online-Suizid-Forum angemeldet. Da schreibt man hin, was einem geschehen ist, und kriegt von Menschen Antwort, die Ähnliches erfahren haben. Das gemeinsame Thema: der Freitod. Eines Tages, er wieder an der Kasse, löst eine Kundin bei ihm eine Lichtexplosion aus. Seine Ehefrau glaubt, es sei ein Schlaganfall, aber es waren die Augen dieser Kundin, ihr Blick. Sobald er seine Augen schließt, starrt er in eine Lichtflut, darin sie. Ihre Adresse ist in der Kartei, also schreibt er ihr - jede E-Mail der Hauch einer Weiterlebensillusion. Und nach achtunddreißig Ehejahren zieht er zu Hause aus. Sitte, Anstand, Moral, das gilt ihm nun nichts mehr. Doch dann muss er erfahren, dass sie mit dem, der ihn verraten hat, in einer offenen Beziehung lebt. Ist sein Leben «eine verlorene, nicht zu gewinnende Partie»? Martin Walsers neuer Roman über das Altsein, die Liebe und den Verrat ist beeindruckend gegenwärtig, funkelnd von sprachlicher Schönheit und überwältigend durch seine beispiellose emotionale Kraft.

Martin Walser, 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren, war einer der bedeutendsten Schriftsteller der deutschen Nachkriegsliteratur. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis, 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2015 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis. Außerdem wurde er mit dem Orden «Pour le Mérite» ausgezeichnet und zum «Officier de l'Ordre des Arts et des Lettres» ernannt. Martin Walser starb am 26. Juli 2023 in Überlingen. 

Martin Walser, 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren, war einer der bedeutendsten Schriftsteller der deutschen Nachkriegsliteratur. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis, 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2015 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis. Außerdem wurde er mit dem Orden «Pour le Mérite» ausgezeichnet und zum «Officier de l'Ordre des Arts et des Lettres» ernannt. Martin Walser starb am 26. Juli 2023 in Überlingen. 

1


Sehr geehrter Herr Schriftsteller!

Mehr als schön ist nichts. Diesen Satz sollen Sie gesagt oder geschrieben oder gesagt und geschrieben haben. Es ist der unmenschlichste Satz, den ich je zu lesen bekam. Ich weiß nicht, wer Sie sind, habe nichts von Ihnen gelesen, aber weil Sie so und so zitiert werden, muss ich annehmen, Sie seien jemand. Also jemand, auf den auch gehört wird. Nur deshalb schreibe ich Ihnen. In der verwegenen Hoffnung, es interessiere Sie, wie, was Sie von sich geben, bei Menschen ankommt.

Ich habe nicht den geringsten Grund, mich schön zu finden, noch nie hat ein Mann oder eine Frau gesagt, ich sei schön, aber noch nie hat jemand gesagt, ich sei hässlich. Wahrscheinlich bin ich unscheinbar. Also ein Weder-noch-Mensch. Also gewöhnlich. Aber: Mehr als schön ist nichts. Also ist schön zu sein das Höchstebeste. Sie haben damit ja nur hingeplaudert, was in jeder Illustrierten und in jeder Fernsehsendung ununterbrochen demonstriert wird: Sie haben eine Allerweltsformel nachgeplaudert.

Mein Gesicht läuft auf ein spitziges Kinn zu. Der Schulkamerad, der deutlich dümmer war als ich, gab mir den Namen Spitzmaus. Deshalb nannten mich Buben und Mädchen dann Spitzmaus. Mein Gebiss ist, wenn Sie das verstehen, prognath. Schauen Sie halt nach, was das heißt. Meine zwei Schneidezähne beherrschen meinen Gesichtsausdruck. Immer schon. Sobald ich lache oder auch nur lächle, weiß ich, dass meine Schneidezähne eine Rolle spielen, die ihnen nicht bekommt. Sie machen mich noch mehr zur Spitzmaus als das auf mein Kinn zulaufende Gesicht. Ich bin also nicht schön. Und: Mehr als schön ist nichts. Diese nicht ganz simple Formulierung hat sich bei mir gleich vergewöhnlicht zu: Wer oder was nicht schön ist, ist nichts. Ich bin also nichts.

Ich wäre nichts gewesen, wenn ich mir das hätte gefallen lassen können. Ich habe mich wehren müssen. Ich habe mich gewehrt. Mit Erfolg. Gleich dazugesagt: Das war einmal. Ich bin jetzt 72. Und am Ende. Aber nicht weil ich 72, sondern weil ich am Ende bin.

Ich war erfolgreich. Ich konnte mir viel leisten. Dass ich jetzt am Ende bin … Ach, ich glaube nicht, dass ich Ihnen das mitteilen kann.

Ich werde die Geschichte meines Sturzes noch darzustellen versuchen. Es ist ein überdeutlicher gesellschaftlicher Vorgang und als solcher nicht fähig, sich selber zu erklären. Das, was gesellschaftlich geschieht, hat es nicht nötig, jedem verständlich zu sein. Die Gründe, warum so ein Sturz geschieht, sind Wiederholungen von Klischees, und ich will nicht sagen, dass diese Klischees nichts wert seien, aber es ist nicht ihre Funktion, das zu erklären, was sie angeblich erklären. Klischees sind Masken der Wirklichkeit. Masken, die die Wirklichkeit braucht, damit es so weitergehen kann, wie es weitergeht. Sogar Ihr Satz Mehr als schön ist nichts ist nur eine Maske. Allerdings eine, in der das wahre Gesicht, das sie verbirgt, schon fast spürbar wird. Ihr Satz tut ja schön. Tut so, als sei alles wunderbar. Schönheit gilt. Und jeder denkt sofort: Das ist doch besser, als wenn Hässlichkeit gälte. Mehr als hässlich ist nichts, in einer solchen Welt möchte niemand leben.

Ich schließe für heute. Ich habe reagiert. Nur reagiert. Nicht nachgedacht. Aber das wiederum rechtfertige ich durch eine Erfahrung: Ich reagiere lieber, als dass ich nachdenke. Ich bin in meinen Reaktionen mehr enthalten als in meinen Nachdenklichkeiten. Dass mir das von den Verwaltern der Klugheit vorgeworfen werden kann, ist mir klar. Damit, dass mir etwas vorgeworfen werden kann, muss ich leben. Habe ich immer gelebt.

Theo Schadt

 

PS: Bitte, ich bin glücklich über jeden schönen Menschen, den ich sehe. Ich halte jeden Schönen und jede Schöne für gelungen. Grad, als wäre das die Pflicht der Fortpflanzung, dass etwas Schönes dabei herauskomme. Ich habe natürlich auch, wie jeder, einen eigenen Geschmack und brauche in meiner Empfindung häufiger das Wort gelungen statt schön. Einen Nichtschönen und eine Nichtschöne finde ich nicht misslungen. Das Gegenteil von schön ist auch nicht hässlich, sondern unschön, unscheinbar. Jeder Gelungene und jede Gelungene tut mir gut. Auch wenn ich im Vergleich dazu schlecht abschneide. Ich finde mich unschön. Unschön ist auch schon zu viel gesagt. Unscheinbar. Das ist das richtige Wort für mich.

 

PS 2: Da ich weiß, wie auf einen Jammerbrief, geschrieben von einem Nobody, reagiert wird, gestatte ich mir, noch einen Lebenssteckbrief folgen zu lassen. Mein mich immer noch überwachendes Selbstwertgefühl, mit dem ich im erklärten Dauerkonflikt lebe, zwingt mich dazu.

Also: Ich hatte zuletzt einundvierzig Mitarbeiter. Die musste ich, als ich gestürzt wurde, von heute auf morgen entlassen, um die Firma, wenigstens ihren Namen, vor der Insolvenz zu bewahren. PATENTE & MEHR, so hieß meine Firma, von der es nur noch den Namen gibt. Ich entwickelte Patente, das heißt, wenn mir ein Patent angeboten wurde, dem ich Erfolg zutraute, gründete ich eine Firma zur Realisierung dieses Patents. Neigung und Ausbildung verwiesen mich zuerst auf Technikprojekte. Ich verdiente gut durch die Entwicklung berührungsloser Messtechniken, durch die Miniaturisierung von Sensoren, die Vervielfältigung der Sensorik zur Verminderung des Schadstoff-Ausstoßes, die Thermofühler-Verfeinerung, die Reduzierung der Emissionen durch Drucksensorglühkerzen, die Verdoppelung der Reifenlebensdauer durch ein elektronisches Reifendruckkontrollsystem und so weiter.

Und wie falsch etwas gesagt wird, nur weil man das Richtige meidet, meiden muss! Neigung und Ausbildung verwiesen mich auf Technikprojekte … Nein, nein, nein! Einem Schriftsteller gegenüber fühle ich mich verpflichtet, genauer zu sein beziehungsweise ehrlicher. Also: Ich bin, ich war der Sohn eines Erfinders. Barthel Schadt, mein Vater, hat, solange er atmen konnte, darauf gewartet, dass ich ein Erfinder werde, wie er einer war. Ich habe auch tapfer angefangen. Meine erste Erfindung war der elektrische Papierkorb. Dann die selbst auslösende Kinderwagenbremse. Den abklappbaren Brausekopf für die Gießkanne hatte Adenauer schon erfunden. Mein Vater hat mich noch dem Bankier Warburg vorgestellt, der seine Erfindungen finanzierte. Herr Warburg war der Hohepriester einer Religion, die Finanzierung hieß. Bei ihm alles in Echtleder und Edelholz! Da wusste ich: Ich will finanzieren, entwickeln, nicht erfinden. Und das Haus Warburg nahm mich als Lehrling. Der Rest war Fleiß und Glück und Glück und Fleiß.

Dann lernte ich vor neunzehn Jahren ein Genie namens Carlos Kroll kennen. Der brachte mich von der Technik weg und hin zu allem, was Natur heißt. Also Medizin bis Kosmetik. Der Erfolg gab ihm recht. Die Firma wurde bekannt als Adresse für medizinische und kosmetische Patente.

Carlos Kroll, mehr als zwanzig Jahre jünger als ich, war mir von einer Schweizer Verlegerin empfohlen worden. Ich könnte auch sagen: von meiner Schweizer Verlegerin Melanie Sugg. Ich bin übrigens, wenn auch pleite, so doch nicht elend arm. Denn, ach könnte ich das doch verschweigen, ich habe auch Bücher geschrieben. Und veröffentlicht. Natürlich unter einem anderen Namen. Dass andauernd Bücher geschrieben und gedruckt werden, reizte mich. Ich konnte diesem Reiz nicht widerstehen, und so fing ich an mit Solamen miseris. Die Anleitung zum Lustigsein. Mit dem lateinischen Halbzitat wollte ich mich ein bisschen erhöhen. Dann Freistil. Anleitung zum Bewusstseinstraining. Dann Wolkenbruch. Anleitung zur Selbstbefriedigung. Dann Schimpfwörter. Anleitung zum richtigen Gebrauch. Dann Schwindelfrei. Anleitung zum Selberdenken. Dann Rumpelstilzchen. Anleitung zur Selbstfindung. Und so weiter. Ich hätte vielleicht nach dem Solamen-Buch nicht weitergemacht, wenn nicht 770000 Exemplare verkauft worden wären. Vom zweiten 830000, vom dritten 920000. Das vierte ein Flop. Aber nach dem fünften nur noch gute Zahlen.

Irgendwann hatte ich keine Lust mehr. Carlos las diese Bücher natürlich nicht. Er machte sich über jeden neuen Titel lustig. Ich hatte mir angewöhnt, mich über dieses Bücherschreiben auch selbst lustig zu machen. Das war ja keine Literatur. Und ernst zu nehmen war nur, was Literatur war. Carlos sagte manchmal: Zum Glück kann man sich über deine Bücher lustig machen. Er sagte sogar, er finde es beeindruckend, dass ich selber sagte, ich schriebe meine Bücher nur zum Zeitvertreib. Das ist Haltung, rief er. Beispielhaft! Das Schönste bei deinen Büchern, sagte er, ist, dass es genügt, den Titel zu lesen, dann weiß man Bescheid.

Wenn wir, Carlos und ich, wieder über einen neuen Titel gelacht hatten, merkte ich, dass mich dieses Gelächter über meine Titel – und es ging ja, da Carlos solche Bücher niemals las, immer um die Titel, nur um die Titel –, dass mich das traf. Ja, verletzte. Aber zugeben konnte ich das nicht. Carlos war der Dichter, der Wortmensch, das Genie. Ich war ein auf Massenerfolg spekulierender Nebenherschreiber. Inzwischen bin ich nicht mehr sicher, ob der bare Verkaufserfolg nicht doch auch eine Rolle gespielt haben könnte bei Carlos’ Verrat. Ich werde kein solches...

Erscheint lt. Verlag 8.1.2016
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Algerien • Alter • Alterswerk • Dreiecks-Konstellation • Ehe • Emails • Geliebte • Lebenwollen • Liebe • Liebesroman • Suizid-Forum • Tango • todeswunsch • Verrat
ISBN-10 3-644-05401-0 / 3644054010
ISBN-13 978-3-644-05401-1 / 9783644054011
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