Trennung, Tod und Trauer (eBook)

Geschichten zum Verlusterleben und dessen Transformation
eBook Download: PDF | EPUB
2015 | 1. Auflage
316 Seiten
Hogrefe AG (Verlag)
978-3-456-75573-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Trennung, Tod und Trauer -  Hansjörg Znoj
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Einen nahestehenden Menschen zu verlieren, kann langfristig das ganze Leben verändern. Doch was bedeutet 'trauern' eigentlich? Hansjörg Znoj, Experte für Trauer und Trauerverarbeitung, stellt sich dieser Frage und beschreibt ohne Pathos, was wir allgemein unter Trauer verstehen und was wir meinen tun zu müssen, wenn wir einen Verlust erlitten haben. Fakt ist, dass der Verlust eines Angehörigen das soziale Gefüge durcheinanderbringt. Die Auswirkungen betreffen nicht nur die physische Gesundheit, sondern ebenso das seelische Gleichgewicht. Studien weisen darauf hin, dass bis zu 40% aller Trauernden nicht nur unmittelbar, sondern bis zu vielen Jahren nach dem Verlust Symptome einer Depression aufweisen. - Heisst das, dass die übrigen 60% 'falsch' trauern? Nicht immer hat der Verlust einer nahestehenden Person eine emotionale Destabilisierung zur Konsequenz. Muss man sich deswegen schlechtfühlen? Oder hat man zu wenig geliebt? Aus dem Inhalt: Lebensentwürfe: Identität, Verbundenheit, Verknüpfung mit dem anderen Das Trauma (die Verletzung) Bewältigungsstrategien Der Lernprozess Trauerbegleitung Stolpersteine: Komplizierung des Prozesses Komplizierte Trauer Therapie der Komplizierten Trauer

Trennung, Tod und Trauer 1
Inhaltsverzeichnis 6
Vorwort 14
1 Einleitung und Übersicht 16
1.1 Woru?ber sprechen wir? 16
1.2 Die soziale Amputation 17
1.3 Risikofaktoren fu?r die eigene Gesundheit 18
1.4 Trauer als Anpassungsprozess 20
1.5 Vorstellungen u?ber Trauerverarbeitung 22
1.5.1 Intensives Leid 23
1.5.2 Sich «durcharbeiten» 24
1.5.3 Lösen aller emotionalen Bindungen 25
1.5.4 Die Erwartung, das fru?here Leben wiederherzustellen 27
1.6 Traditionelle Modelle der Trauerverarbeitung 28
1.6.1 Das Psychodynamische Phasenmodell 28
1.6.2 Die Bindungstheorie 29
1.6.3 Das biologische Modell 30
1.6.4 Das Stressmodell 31
1.6.5 Das Copingmodell der Trauer 32
1.7 Woran erkennt man eine «geglu?ckte» Trauer? 34
1.8 Soziale und andere Ressourcen 35
1.9 Hilfe und Selbsthilfe 37
2 Lebensentwu?rfe 38
2.1 Identität als soziale Errungenschaft 38
2.1.1 Konstituierende Faktoren der Identität 38
2.1.2 Das zerbrochene Ich nach einem sozialen Verlust 39
2.1.3 Das soziale Netzwerk nach dem «Bruch» 40
2.1.4 Die Familie und Freunde 42
2.1.5 Ressourcen fu?r das Selbsterleben – Emotions- und Selbstregulation 42
2.2 Verbundenheit, Bindung und Sicherheit 46
2.2.1 Vor- und Nachteile sozialer Einbindung 46
2.2.2 Die Bindungstheorie und ihre Biologie 47
2.2.3 Auswirkungen ungenu?gender Bindungserfahrung 49
2.2.4 Liebe und das Glu?ck einer neuen Bindung 50
2.2.5 Liebe und Verliebtsein als biologischer, generativer Prozess 50
2.2.6 Bindungstheorie und Verlusterleben 52
2.2.7 Bindungsverletzungen und ihre Heilung 53
2.2.8 Kosten und Nutzen von Sicherheit 55
2.2.9 Ein biologisches Verständnis des Verlusterlebens 56
2.3 Das mit der Bezugsperson Gemeinsame 59
2.3.1 Gemeinsam Erlebtes 59
2.3.2 Gemeinsame Freunde, Familie und Bekannte 60
2.3.3 In der «Welt» einen Platz haben 62
3 Das Trauma 64
3.1 Folgen eines Traumas 64
3.2 Trauer als Trauma 66
3.2.1 Das Erschrecken u?ber den Verlust 66
3.2.2 Die zerbrochene Welt 68
3.2.3 Vom Schrecken zur Verarbeitung 70
3.2.4 Phasen der Trauer, neu definiert 72
3.2.5 Was bedeutet «verarbeiten»? Wie sieht Trauer aus? 75
3.3 Phänomenologie 76
3.3.1 Die Matrix der Trauer 76
3.3.2 Trauer als existenzielle Erfahrung 77
3.3.3 Desillusionierung und Enttäuschung 78
3.3.4 Was zu mir gehört, ist auf einmal fort 79
3.3.5 Schmerz und Trauer – ein und dasselbe? 80
3.4 Emotionale Folgen eines Verlusts 81
3.4.1 Gefu?hlseinbru?che – «Pangs of emotion» 81
3.4.2 «Ich spu?re gar nichts, nur Leere» 82
3.4.3 «Das Leben geht weiter» 83
3.4.4 «Warum gerade ich?» 84
3.4.5 «Bin ich der Hu?ter meines Bruders?» 86
3.4.6 Berechtigte und unberechtigte Selbstvorwu?rfe 87
3.4.7 Schuldgefu?hle als Handlungsanleitung 88
3.4.8 Der Abschied, der keiner war 89
3.4.9 Exkurs: Trauer bei Persönlichkeitsveränderungen 90
3.4.10 Was man noch hätte sagen oder tun wollen … 91
3.5 Exkurs: Das Unbewusste der Beziehung 92
3.5.1 Die kleinen Dinge tun weh 92
3.5.2 Der emotional-assoziative Gedächtniskomplex 95
3.5.3 Implizites und explizites Gedächtnis 95
3.5.4 Das Gedächtnis spielt mir einen Streich 98
3.5.5 «Hilfe, ich werde verru?ckt!» 100
3.5.6 Der «lebendige Tote» 101
4 Bewältigungsstrategien 104
4.1 Nichts ist geschehen: Verleugnen und ungeschehen machen 104
4.2 Tod und ewiges Leben – Über die Kraft des Glaubens 108
4.2.1 Die Glaubensfrage 110
4.2.2 William James und die Varietäten der religiösen Erfahrung 112
4.2.3 Auswirkungen spiritueller Erfahrungen und religiösen Verhaltens auf die Trauerreaktion 113
4.3 Schuld und Su?hne: Kann die Welt repariert werden? 115
4.4 Rumination und Destruktion 118
4.4.1 Ruminatives Verhalten als Coping 118
4.4.2 Ruminieren als Prävention 120
4.5 Maladaptive Copingstrategien 122
5 Der Lernprozess 132
5.1 Warum Schmerz kein guter Indikator fu?r «gutes» Trauern ist 132
5.2 Der Prozess des Trauerns 136
5.2.1 Das duale Prozessmodell 136
5.2.2 Die vier «Aufgaben» der Trauer nach Worden 139
5.3 Akkommodationsprozesse 140
5.4 Posttraumatic Growth: ein bislang wenig verstandener Prozess 143
5.5 Trauern bedeutet Lernen 150
5.5.1 Das Gehirn ist ein adaptives Organ 150
5.5.2 Die Wirklichkeit hat sich verändert – ist alles anders? 152
5.5.3 Was ist erforderlich, damit Lernen gelingt? 153
5.5.4 Lernen und Motivation 154
5.5.5 Oasen in der Wu?ste 156
5.6 Soziales Lernen 158
5.6.1 Lernfelder und soziale Umwelt 158
5.6.2 Wer darf mit auf die Expedition? 159
5.6.3 Über die Sprengkraft unterschiedlicher Erfahrungen 160
6 Trauerbegleitung und gesellschaftliche Lernhilfen 162
6.1 Assistierte Trauer 162
6.2 Sinnvolle Trauerbegleitung 166
6.3 Rituale in der Trauer 167
6.3.1 Totem und Tabu 169
6.3.2 Trauern Kinder anders? 172
6.3.3 Begleitung von Kindern und Jugendlichen 174
6.4 Leitlinien und Interventionen 175
6.4.1 Wenn der Trauerprozess stockt 176
6.4.2 Empirische Evidenz: Was sagt die Wissenschaft? 180
6.4.3 Selbsthilfegruppen und andere Angebote 181
6.5 Hilfe zur Selbsthilfe (Toolkit) 184
6.5.1 Das Thema «Erkennen» 184
6.5.2 Das Thema «Aufbrechende Gefu?hle» 185
6.5.3 Das Thema «Neuorientierung» 188
7 Stolpersteine, die den Prozess komplizieren 192
7.1 Emotionale Blockierung oder Überflutung 192
7.2 Risikofaktoren und zu viel Trauer 194
7.2.1 Maladaptive Strategien und Handlungsweisen 194
7.2.2 Zu hoher Erwartungsdruck und andere maladaptive Einstellungen 198
7.3 Zielkonflikte, Beziehungskonflikte, emotionale Konflikte 202
7.3.1 Nicht loslassen können 202
7.3.2 Innere Konflikte und Unerledigtes 203
7.3.3 Unsichere Bindungserfahrungen, Vertrauensmangel 203
7.3.4 Zur Akzeptanz der Trennung 205
7.3.5 Hoffnung auf ein Wiedersehen, auf Neubeginn 205
7.3.6 Hadern mit dem Schicksal, Auflehnung, Protest 207
7.3.7 Zu viel Trauer 208
7.3.8 Falsch verstandene Verbundenheit 209
7.4 Das Entstehungsmodell der Komplizierten Trauer 210
8 Komplizierte Trauer 218
8.1 Ätiologie und Phänomenologie 218
8.2 Symptome der Komplizierten Trauer 219
8.2.1 Unterschiedliche Phänomenologie durch Schemastörungen und Vulnerabilitäten 224
8.2.2 Komplizierung des Trauerprozesses: Lernstörung oder eigenständige Störung? 227
8.3 Abgrenzung zu anderen emotionalen Störungen 229
8.3.1 Komplizierte Trauer und andere psychische Störungen 229
8.3.2 Depression 229
8.3.3 Angst 231
8.3.4 Posttraumatische Belastungsstörung (PTB) 233
8.3.5 Persönlichkeitsstörungen 234
8.4 Diagnostik 234
8.4.1 Woran erkenne ich eine Komplizierte Trauer? 234
8.4.2 Prävalenz und Komorbidität 235
8.5 Tools und Entscheidungshilfen fu?r die Praxis 236
9 Therapie der Komplizierten Trauer 240
9.1 Ein kurzer historischer Abriss 240
9.1.1 Die humanistischen Ansätze 242
9.1.2 Analytisch-psychodynamische Ansätze 243
9.1.3 Kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansätze 243
9.2 Vorgehen anhand eines Falls 245
9.3 Analyse des Vorgehens 247
9.3.1 Klärung des therapeutischen Auftrags 247
9.3.2 Zielvereinbarung 248
9.3.3 Vorgeschichte 249
9.3.4 Erschlossene Motive und Schemata 249
9.4 Therapieplanung 251
9.4.1 Klärung und/oder Bewältigung? 251
9.4.2 Konfrontation mit vermiedenen Inhalten 253
9.5 Evidenzbasierte Protokolle 254
9.6 Fallkonzeption – Vorgehen 256
9.6.1 Rudimentäre Fallkonzeption fu?r Ruedi M. 257
9.6.2 Therapeutisches Beziehungsverhalten 261
9.6.3 Der therapeutische Prozess 261
10 Toolkit fu?r Therapeuten 264
10.1 Hilfen fu?r die Fallkonzeption 264
10.2 Motivationale Klärung zur Therapiemotivation 267
10.3 Therapeutische Techniken und Hilfsmittel fu?r die Bewältigung 270
10.4 Emotionsregulation 273
10.5 Ressourcenaktivierung 275
10.6 Bedu?rfnisse des Klienten und therapeutisches Handeln 277
10.7 Wie lernen wir? 280
11 Resu?mee 284
11.1 Über das Werden und Vergehen 284
11.2 Trennungen sind soziale Verluste 286
11.3 Trauer erinnert an den eigenen Tod 289
11.4 Die Konfrontation mit dem eigenen Tod 290
11.5 Der Umgang mit dem Tod als kulturelle Errungenschaft 291
11.6 Überlebensschuld und die Frage nach dem Sinn 294
11.7 Du?rfen Verstorbene ins Leben eingreifen? 295
11.8 Trauern bedeutet immer auch leben und leben wollen 296
Literaturverzeichnis 298
Angaben zum Autor (u?ber mich) 308
Sachwortverzeichnis 310

1 Einleitung und Übersicht


1.1 Worüber sprechen wir?


Einen nahestehenden Menschen zu verlieren, sei es durch eine endgültige Trennung, den Tod oder durch geistigen und seelischen Zerfall, verursacht durch eine Demenz, kann nicht nur unmittelbar Veränderungen im Erleben bewirken, sondern langfristig das ganze Leben verändern. Für den Umgang mit persönlichen Verlusten brauchen wir den Begriff «Trauer». Wir trauern offensichtlich um viele Dinge, denn der Begriff wird auch beim Verlust von Fähigkeiten oder Eigenschaften verwendet, etwa bei der Einbuße eines Teils unserer Fähigkeiten oder wenn wir durch einen Unfall behindert werden. Manchmal trauern wir auch um verpasste Gelegenheiten oder um Dinge, die uns ans Herz gewachsen sind, wie etwa ein gestohlenes Lieblingsfahrrad oder eine zerbrochene Vase. Aber sind dies wirklich dieselben Prozesse? Und was bedeutet überhaupt «trauern» oder «sich in Trauer befinden»? Genau darum geht es hier: um ein vertieftes Verständnis dessen, was wir allgemein unter Trauer verstehen oder was wir meinen, tun zu müssen, wenn wir einen Verlust erlitten haben. Vorweggenommen sei, dass in diesem Buch nicht hauptsächlich alltägliche Verluste behandelt werden, sondern soziale Verluste von hoher Relevanz für das eigene Selbstverständnis und für die Art und Weise, wie wir die Welt begreifen. Soziale Verluste können traumatische Folgen haben, unabhängig davon, ob die nicht mehr in meinem Leben existierende Person noch lebt oder gestorben ist. Sie haben ähnliche Auswirkungen, weil es in beiden Fällen darum geht, sich von jemandem zu trennen, der oder die ein Teil des eigenen Lebens geworden ist. Und beide Arten von Trennungen fordern uns zu ihrer Bewältigung trotz unterschiedlicher Aspekte und Konsequenzen viel Energie ab. Es ist ein Thema, das Menschen umtreibt und jede Beziehung birgt auch die Gefahr, verloren zu gehen.

Tatsächlich geht es in der Geschichte der Menschheit vielfach um Verluste, sowohl von Personen, die für ganze Völker und Nationen von hoher Bedeutung waren, als auch von Territorien und damit Entwicklungsmöglichkeiten. Darüber sowie über Abschiedszeremonien in verschiedenen Kulturen und deren Bedeutung wird in diesem Buch jedoch nicht geschrieben. Hingegen wird an geeigneter Stelle durchaus auf die Bedeutung von Zeremonien und Ritualen hingewiesen. Ein weiterer Kernpunkt ist vielmehr die zentrale Frage nach einer übergreifenden Psychologie des Verlusterlebens. Wie wirken sich Verluste auf die Seele aus, wenn wir unter Seele das Zusammenwirken geistiger und körperlicher Prozessen oder, präziser, die sinnstiftende Einheit eines lebenden, informationsverarbeitenden und bewusstseinsfähigen Systems verstehen.

1.2 Die soziale Amputation


Gehen wir davon aus, dass Menschen enge Verbindungen miteinander eingehen und als von anderen abhängige Lebewesen in die Welt gesetzt werden, so bedeuten Trennungen mitunter den Verlust der eigenen Lebensfähigkeit, sofern diese Abhängigkeit voneinander durch einseitige Ressourcenverteilung geprägt ist. Derartige Verhältnisse sind allerdings nicht typisch für das Zusammenleben, im Gegenteil sind menschliche Beziehungen auf Gleichgewicht bedacht, auf ein Geben und Nehmen, das in verschiedenen sozialen Beziehungen deutlich wird. Der Arbeitnehmer bezieht ein Gehalt und gibt dafür Zeit und Leistung, ein Kind bezieht lebensnotwendige Ressourcen und gibt den Eltern dafür Lebensqualität, Sinn und ein erhöhtes Maß an Zusammengehörigkeit, was im hohen Alter unter Umständen auch eine Versicherung bedeuten kann. Dieses soziale Gefüge gerät durch den Verlust eines Angehörigen aus dem Gleichgewicht und muss in einem Anpassungsprozess neu gefunden werden. Dies ist bewusst abstrakt formuliert, weil es darum geht, eine Sprache und damit ein Verständnis für Verluste zu finden, das nicht schon durch Begriffe wie «trauern» scheinbar erklärt ist. Der Verlust einer nahestehenden Person löst nicht nur individuell, sondern auch im weiteren sozialen Umfeld eine Erschütterung aus die einerseits als Bruch und als Wegfall wichtiger Ressourcen wahrgenommen wird. Andererseits ergeben sich durch die Auflösung eines bisher stabilen Kräftegleichgewichts für die verbliebenen Mitglieder des engsten sozialen Netzes, das gemeinhin als Familie bezeichnet wird, neue Möglichkeiten. Vorstellungen über den Begriff «Familie» können sehr unterschiedlich sein, hier sei lediglich festgestellt, dass darunter auch nichtverwandtschaftliche Beziehungen verstanden werden können. Der Begriff der Familie, wie ich ihn verwenden möchte, schließt nahe Freundschaften und Liebesbeziehungen ein, die nicht unbedingt von einer kulturellen Einrichtung sanktioniert wurden. Der Verlust einer Person in einem solchen Beziehungsnetzwerk kann als ein Mobile gedacht werden, in dem verschiedenste Akteure in einem komplizierten Gleichgewicht konzentrisch umeinander kreisen und in dem auf einmal ein zentraler Faden reißt und die verbliebenen Teile aus dem Rhythmus geraten: Nichts funktioniert mehr so, wie es zuvor scheinbar mühelos funktioniert hat. Diese Metapher ist nicht zu weit hergeholt, wenn man bedenkt, dass zum Beispiel der Tod eines gemeinsamen Kindes eine bislang wunderbar gelingende Beziehung auseinanderbringen kann oder dass sich eine Familie nach dem Tod des bisherigen Familienoberhauptes bis aufs Messer bekriegt. Umgekehrt kann der Verlust eines bisher dominierenden Mitglieds im Einzelnen ungeahnte Energien entfalten und individuelle Entwicklungen ermöglichen, die bislang im Geflecht der sozialen Beziehungen behindert wurden.

1.3 Risikofaktoren für die eigene Gesundheit


Der Tod eines Familienangehörigen gefährdet nicht nur das seelische Gleichgewicht, sondern kann gesundheitliche Auswirkungen auf vitale Organfunktionen haben. So ist beispielsweise das Phänomen, dass langjährig Verheiratete nach dem Tod eines Partners innerhalb von wenigen Wochen ebenfalls sterben, unter dem Begriff «broken heart» (dt.: gebrochenes Herz) in die Literatur eingegangen. Näheres dazu findet sich zum Beispiel bei Stroebe, Schut & Stroebe, 2007. Wie kann das sein? Es gibt verschiedene Erklärungen. So zeigte sich in vielen Untersuchungen, dass das Suizidrisiko vor allem bei Witwern nach dem Tod der langjährigen Partnerin erhöht ist. Auch wenn dieser Umstand berücksichtigt wird, bleibt für Hinterbliebene immer noch ein erheblich höheres Mortalitätsrisiko und das Risiko einer somatischen Erkrankung oder einer psychischen Störung ist deutlich erhöht. Der Verlust eines nahestehenden Menschen löst nicht nur eine soziale Störung aus, sondern bewirkt ein gestörtes inneres Gleichgewicht in dem ausbalancierten System verschiedener Prozesse und ihrer Komponenten, die unser Wohlbefinden regulieren. Dazu gehören unter anderem Hormone und Neurotransmitter, die wichtige organische Prozesse, wie die Regulierung des Blutdrucks und der Herzfrequenz, die Magen-Darm-Aktivität sowie den allgemeinen Schlaf-Wach-Rhythmus und grundlegende Funktionen des Immunsystems steuern. Diese Aufzählung ist selbstverständlich nicht vollständig, sondern soll nur verdeutlichen, wie stark soziale Wahrnehmungen und sozialer Stress die Befindlichkeit zu beeinflussen vermögen. Nicht immer lösen soziale Verluste Stressreaktionen aus. Es wäre auch vorstellbar, dass eine stressinduzierende Interaktion mit einem Partner wegfällt und ein Rückgang oder Wegfall der Stressfolgen zu erwarten ist. Dass dies nicht immer so ist, zeigt, wie komplex menschliche Beziehungsgeflechte sind und wie kompliziert daher die Reaktionen auf einen Verlust ausfallen können. Soziale Verluste stellen Stressoren dar, die im System Mensch zahlreiche Reaktionen auslösen, welche wir unter dem Begriff «Stressfolgen» subsumieren können. Der Weg einer Fehl- oder Überregulation des emotionalen Empfindens bis zur ernsthaften chronischen Erkrankung verläuft über verschiedene Stufen, wie Hall und Irwin (2001) hergeleitet haben. Je nach Kontext, wie zum Beispiel soziale und ökonomische Ressourcen, oder persönlichen Eigenschaften, wie Geschlecht, Alter oder biologisch-genetische Voraussetzungen, wird ein Verlust mehr oder weniger stark als Stressor empfunden. Dieser wahrgenommene Stress wiederum wird moderiert durch verschiedene als «Coping» bezeichnete Prozesse. Unter Coping versteht man seit Lazarus (1966) Anstrengungen, die ein Individuum unternimmt, um mit bestimmten Situationen klarzukommen. Sie sind nicht immer bewusst gesteuert, sondern beinhalten implizites Wissen über die Welt, das eigene Vermögen und Selbstkonzepte, die in das Handeln eingehen. Coping beinhaltet auch Verhalten und Denkprozesse, die für die Bewältigung eines Problems hinderlich sind, wie etwa selbstquälerisches Grübeln oder Selbstmedikation durch übermäßigen Alkoholkonsum. Coping ist also erst einmal ein wertfreier Begriff und sagt nichts über dessen Wirksamkeit in einer entsprechenden Situation aus. Später hat Lazarus (z.B. 1975) selbst das Gefühlserleben unter dem Aspekt des Copings betrachtet und die wichtige Aussage gemacht, dass Stress, aber auch die entsprechenden Gefühle immer als Wechselwirkung zwischen wahrgenommener Situation und den eigenen Fähigkeiten, mit ihr umzugehen, zu verstehen sind. Das ist wichtig, denn wie wir mit einem Verlust umgehen, bestimmt die psychischen und somatischen Folgen. So kann es zu emotionalen Störungen kommen, die wiederum das Schlafverhalten negativ beeinflussen. Angstwellen und andere als unkontrollierbar wahrgenommene Gefühlszustände können den Schlaf, aber auch die Appetitregulation und weitere gesundheitsrelevante Bereiche beeinträchtigen. Zusätzlich löst wahrgenommener Stress die Freisetzung von Stresshormonen und anderen Botenstoffen aus, die den Körper in ein...

Erscheint lt. Verlag 7.12.2015
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Lebenshilfe / Lebensführung
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Psychologie
Geisteswissenschaften Psychologie
Schlagworte Allgemeine Psychologie • Angehörige • Begleiter • Betroffene • Bewältigungsstrategie • Depression • Gesundheit • Identität • Palliative Care • Palliativpflege • Pflege • Philosophie • Psychiatrie • Psychologie • Psychotherapie • Seelsorge • Trauer • Trauerbegleitung • Trauma • Verlust
ISBN-10 3-456-75573-2 / 3456755732
ISBN-13 978-3-456-75573-1 / 9783456755731
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