Das Erwachen der Lady Mayfield (eBook)
384 Seiten
SCM Hänssler im SCM-Verlag
978-3-7751-7324-7 (ISBN)
Julie Klassen arbeitete sechzehn Jahre lang als Lektorin für Belletristik. Mittlerweile hat sie zahlreiche Romane aus der Zeit von Jane Austen geschrieben, von denen mehrere den begehrten Christy Award gewannen. Abgesehen vom Schreiben, liebt Klassen das Reisen und Wandern. Mit ihrem Mann und zwei Söhnen lebt sie in Minnesota, USA. www.julieklassen.com
Julie Klassen arbeitete sechzehn Jahre lang als Lektorin für Belletristik. Mittlerweile hat sie zahlreiche Romane aus der Zeit von Jane Austen geschrieben, von denen mehrere den begehrten Christy Award gewannen. Abgesehen vom Schreiben, liebt Klassen das Reisen und Wandern. Mit ihrem Mann und zwei Söhnen lebt sie in Minnesota, USA. www.julieklassen.com
Kapitel 2
Schmerz. Kälte. Ein Gewicht, das sie zu erdrücken drohte. Sie rang nach Luft …
Es gelang ihr, die Augen ein paar Millimeter zu öffnen. Sie sah farbige Blitze, Licht, wie durch ein Prisma gebrochen. Gelb-weiße Sonne. Blaues Wasser. Wasser? Etwas Rotes blitzte auf. Dann wieder Blau. Ein Hauch Purpur und Gold. Verwirrung. Eine Hand in der ihren, ganz kurz nur, wieder verschwunden. Metall, das in ihre Finger biss.
Warum kann ich nicht aus diesem Traum aufwachen?
So kalt. So schwer. Alles wurde wieder dunkel.
»Hallo? Hören Sie mich?«
Die Stimme eines Mannes. Ich muss dieses Gewicht loswerden. Sie rang verzweifelt nach Luft, atmete in schnellen, flachen Zügen.
»Lady Mayfield? Können Sie mich hören?«
Ihre Augen öffneten sich flatternd. Sie sah verschwommene Gesichter. Alles war verwirrend. Warum befand sich das Seitenfenster über ihr?
»Es ist alles in Ordnung. Wir helfen Ihnen. Ich bin Arzt. Dr. Parrish.« Der Mann nickte zu dem jüngeren Gesicht hinüber, das neben ihm schwebte. »Mein Sohn Edgar. Wir holen Sie und Ihren Mann hier heraus.«
Ihren Mann … Sie blickte an sich hinunter und sah, dass der schlaffe Körper Sir Johns quer über ihr lag. Lebendig oder tot? Sein Hut tanzte träge auf dem Wasser, mit dem die untere Hälfte der Kutsche angefüllt war. Seine Beine waren gespreizt, das eine in einem unnatürlichen Winkel gebeugt.
Sie waren nur noch zu zweit in dem Ding, das einmal eine Kutsche gewesen war. Wo befand sie sich? Sie wollte den Kopf drehen, doch ein heftiger Schmerz verhinderte das. Sie konnte ihn ohnehin kaum bewegen, weil sie festgeklemmt war. Durch das gähnende Loch an der Stelle, wo sich einst das Dach befunden hatte, blickte sie auf die schwere See des Kanals.
Der jüngere Mann über ihr folgte ihrem Blick. Er deutete auf etwas. »Pa, sieh mal. Ist da noch jemand, dort draußen?«
Der ältere Mann blinzelte. »Ich weiß nicht. Es ist zu weit weg.«
Doch sie wusste es. Ein roter Mantel schwamm auf der Flut; er zog die Gestalt, die er verhüllte, vom Ufer fort.
Der ältere Mann sah sie wieder an. »War noch jemand bei Ihnen?«
Sie nickte und spürte einen brennenden Schmerz, als bohrte ihr jemand Nadeln in den Kopf.
Der Mann nahm in ehrfürchtigem Schrecken den Hut ab. »Es ist zu weit, um hinterherzuschwimmen – selbst wenn wir schwimmen könnten.«
In ihren Ohren dröhnte es. Das konnte nicht sein.
»Eine Bedienstete?«, fragte er.
Eine Gesellschafterin steht höher als ein Dienstbote, dachte sie. Sie ist eine Dame. Sie öffnete den Mund, wollte es erklären, doch es kam kein Laut heraus. Ihr Hirn und ihre Zunge schienen keine Verbindung zu haben. Sie presste eine Hand auf ihre schmerzende Brust und nickte abermals.
»Wir können nichts mehr für sie tun. Es tut mir so leid. Aber jetzt wollen wir Sie hier herausholen.«
Vor ihren Augen stieg Dunkelheit auf, und sie versank in ihr.
Als sie das nächste Mal die Augen aufschlug, schwebte dasselbe Gesicht über ihr, näher diesmal. Es war das ältere Gesicht, das sich über sie beugte, doch der Mann sah ihr nicht in die Augen, sondern betrachtete eine Stelle weiter unten. Wer war er? Er hatte ihr seinen Namen gesagt, doch sie hatte ihn vergessen. Sie konnte nicht viel vom Zimmer sehen, ohne ihren Kopf zu bewegen; auf jeden Fall war es ihr unbekannt. Wo war sie? Wie lange war sie schon hier? Ihr Kopf fühlte sich träge an, benebelt; sie war sich ihrer selbst kaum bewusst.
»Sie öffnet die Augen«, sagte die Stimme einer Frau – eine Stimme, die sie nicht kannte.
Sie versuchte, der Stimme den Kopf zuzudrehen, doch der Schmerz, der sie dabei durchfuhr, war so stark, dass sie einen Moment lang nichts mehr sah.
Die Stimme des Mannes drängte: »Mylady? Wie fühlen Sie sich?«
»Sie hat Schmerzen, George«, tadelte die Frau. »Das kann sogar ich sehen.«
Sie öffnete den Mund, versuchte zu sprechen. »Er … lag …«
Er nahm ihre Hand und sah sie besorgt an. »Sir John ist schwer verletzt, Mylady. Aber er lebt, also besteht Hoffnung. Überlassen Sie ihn mir, ja? Machen Sie sich keine Sorgen. Sie haben selbst schwere Verletzungen, aber Sie werden wieder gesund werden.«
»Der … der …?«
Er verzog das Gesicht, als hätte er sie verstanden. »Ich fürchte, der Kutscher ist tot. Die Leinen sind gerissen, als die Kutsche umstürzte, und die Pferde konnten sich befreien. Der junge Mann hatte nicht so viel Glück.«
Sie schloss die Augen. Armer Mann, dachte sie. Aber eigentlich hatte sie keinerlei Erinnerung an ihn.
»Es ist nicht Ihre Schuld, Mylady. Sie dürfen sich nicht aufregen.« Er schüttelte den Kopf. »Wir haben die Pferde wegrennen gesehen mit schleifenden Leinen; nur deshalb haben wir nach der Kutsche gesucht. Das Wappen hat uns dann Ihre Identität verraten, aber natürlich hatten wir Sie auch erwartet.« Er tätschelte ihre Hand. »So, und jetzt ruhen Sie sich aus. Mrs Parrish und ich kümmern uns um Sie und Ihren Gatten.«
Gatte … Sie schloss die Augen und schob den unangenehmen Gedanken fort.
Sie lag da, ab und zu kam sie zu nebelhaftem Bewusstsein und glitt wieder zurück in die Ohnmacht. Der freundliche Arzt hatte ihr Laudanum gegen die Schmerzen gegeben. Ein gebrochener Arm, hatte er gesagt. Und eine Kopfverletzung – ein Schnitt und eine Gehirnerschütterung. Ab und zu hob jemand sanft ihren Kopf an und gab ihr einen Schluck Wasser oder Brühe zu trinken, doch sie hatte keinerlei Zeitgefühl.
Die Stimme der Frau sagte: »Sir John ist sehr schwer verletzt, es würde mich wundern, wenn er die Woche übersteht.«
Eine zweite Frauenstimme antwortete: »Schhhhh! Sie kann dich hören!«
Trotz der Distanz zwischen ihnen hatte sie ihm ein solches Unglück nicht gewünscht. Armer Sir John, dachte sie.
Sie lag mit geschlossenen Augen da und versuchte, sich an sein Gesicht zu erinnern. Ihre Gedanken wanderten langsam zurück, bis ein paar vereinzelte Bilder vor ihrem geistigen Auge auftauchten …
Sir John, der einen Schürhaken packte und frustriert auf ein Holzscheit einhieb. Sir John, der sie mit zusammengepressten Lippen ansah. »Ich will eine Frau, die mir treu ist. Ist das zu viel verlangt?«
Ein anderes Bild. Sein sonst strenges Gesicht blickte weich und ruhig und stand vor ihrem geistigen Auge wie ein Porträt, eine mit dem Pinsel eingefangene, von Spinnweben überzogene Erinnerung. Ein gut aussehendes Gesicht, falls sie ihrer Erinnerung glauben konnte. Graublaue Augen und klare, männliche Züge, umrahmt von hellbraunem Haar …
Sie hatte ihn einst bewundert, erinnerte sie sich. Was hatte sich zwischen ihnen geändert? Waren sie je glücklich gewesen?
Sie versuchte, sich an ihr früheres Leben zu erinnern – woher sie gekommen waren. Bath, dachte sie. Und davor Bristol. Sie erinnerte sich vage, wie Sir John verkündet hatte, dass sie nach Bath ziehen würden. Sie wusste noch, dass sie hin- und hergerissen gewesen war. Sollte sie seinen Wünschen gehorchen? Sollte sie gehen?
Sie hatte es nicht gewollt, doch schließlich hatte er beide mitgenommen, seine Frau und ihre Gesellschafterin. So, wie er sie auch beide auf diese Reise mitgenommen hatte. Ja, sie erinnerte sich an Bath, an das hübsche Haus am Camden Place. Und an das hässliche Haus in der trostlosen Trim Street. Trim Street? Was um Himmels willen hatte sie dorthin geführt …? Sie verzog das Gesicht, versuchte nachzudenken. Doch die Erinnerung entfloh ihr.
Sie hatte wohl einen Laut der Erregung ausgestoßen, denn eine freundliche Frauenstimme beschwichtigte sie: »Aber, aber. Es ist alles in Ordnung. Sie sind in Sicherheit.« Eine sanfte Hand hob ihren Kopf an. »Trinken Sie …«
Ein Tassenrand berührte ihre Lippen, sie nahm einen Schluck.
»So«, sagte die Frau. »Sehr schön, meine Liebe.«
Die warme Brühe beruhigte ihre schmerzende Kehle. Die warmen Worte beruhigten ihre verwirrte Seele.
Sie wusste, dass es ein Traum war, doch sie konnte nicht aufwachen. Sie träumte, sie hätte ein hilfloses Kind in einem Korb am Bristolkanal zurückgelassen. Sie hatte es holen wollen, doch sie lag da wie gelähmt und konnte sich nicht bewegen. Die Flut kam. Näher und näher; jetzt leckte sie bereits am Korbrand. Eine Hand streckte sich danach aus – eine Frauenhand. Doch die Frau war im Wasser, die Flut nahm sie mit sich, das vollgesogene Kleid und der schwere Mantel zogen sie nach unten.
Sie griff nach der Hand der Frau, wollte sie retten, doch die nassen Finger entglitten ihr. Dann fiel ihr wieder das Kind ein. Sie drehte sich um, aber es war zu spät. Der Korb glitt bereits hinaus auf das Meer …
Sie schnappte nach Luft, fuhr hoch und öffnete die Augen. Verwundert sah sie sich um. Das Bett mit dem Baldachin war nicht ihres. Den Frisiertisch mit dem Spitzendeckchen kannte sie ebenfalls nicht.
Sie schloss die Augen und versuchte nachzudenken. Wo war sie? Was war geschehen? Der Unfall mit der Kutsche – das war es. Sie waren nicht mehr in Bath. Und auch nicht in Bristol. Irgendwo im Westen, vermutete sie, aber sie hatte keine Ahnung, wo. Was stimmte nicht mit ihr? Warum konnte sie sich an nichts erinnern? Es fühlte sich an, als läge eine warme, dunkle Decke über ihrem Verstand, die jede Erinnerung und jedes klare Denken unmöglich machte.
Doch eines wusste sie, eines wurde ihr plötzlich mit Schrecken klar. Sie vergaß etwas. Etwas sehr Wichtiges.
Die Tür ging auf, und die freundliche Frau kam herein, eine Schüssel mit Wasser und ein paar Tücher in der...
Erscheint lt. Verlag | 17.12.2015 |
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Reihe/Serie | Regency-Liebesromane |
Regency-Liebesromane | |
Verlagsort | Holzgerlingen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Schlagworte | 19. Jahrhundert • Dienstmädchen • Doppelleben • England • Gedächtnisverlust • Gefahr • Geheimnis • Hannah • Herrenhaus • Jane Austen • Liebe • London • Lüge • Regency • Romantik • Schicksal • Unfall • Verwechslung • Verzweiflung |
ISBN-10 | 3-7751-7324-2 / 3775173242 |
ISBN-13 | 978-3-7751-7324-7 / 9783775173247 |
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