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Die Sonne der Sterbenden (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
256 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-30403-1 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
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Als man den Leichnam des Clochards Titi unter der Bank einer Pariser Metrostation findet, zieht dessen einziger Kumpel Rico Bilanz: Sein Leben ist verpfuscht, er ist geschieden, seinen Sohn darf er nicht mehr sehen, die Wohnung hat er verloren. Rico beschließt, aus dem eisigen Pariser Winter abzuhauen, in den Süden. Die Menschen, denen er auf dieser Reise begegnet, sind vom Leben besiegt worden: Felix, der ständig einen Fußball mit sich herumschleppt und jeden Zeitbegriff verloren hat. Oder die junge Mirjana aus Bosnien, die völlig abgebrannt in einem alten Haus untergeschlüpft ist und ihren Körper verkauft. In Marseille versucht Rico, Lea wiederzufinden, seine erste Liebe - und schöpft zum ersten Mal wieder Hoffnung.

Jean-Claude Izzo, geboren 1945 in Marseille, war lange Journalist. Nach Veröffentlichung von mehreren Gedichtbänden publizierte er mit fünfzig seinen ersten Roman Total Cheops. Dieser wurde sofort zum Bestseller, seine Marseille-Trilogie zählt inzwischen zu den großen Werken der internationalen Kriminalliteratur. Der zweite Teil, Chourmo, wurde 2001 mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichnet. Jean-Claude Izzo starb 2000 in Marseille.

Jean-Claude Izzo, geboren 1945 in Marseille, war lange Journalist. Nach Veröffentlichung von mehreren Gedichtbänden publizierte er mit fünfzig seinen ersten Roman Total Cheops. Dieser wurde sofort zum Bestseller, seine Marseille-Trilogie zählt inzwischen zu den großen Werken der internationalen Kriminalliteratur. Der zweite Teil, Chourmo, wurde 2001 mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichnet. Jean-Claude Izzo starb 2000 in Marseille.

1 


»On the road again, und das für immer«, sagte Titi

Rico weigerte sich, die Fragen der Journalisten zu beantworten. Als Erster ihrer kleinen Gruppe von armen Teufeln war er am frühen Nachmittag zur Station Ménilmontant zurückgekehrt. Der Bahnsteig in Richtung Nation, auf dem sie sich gewöhnlich trafen, war abgeriegelt. Daher ging er auf den gegenüberliegenden Bahnsteig.

Der Zugverkehr war stillgelegt. Es wimmelte von Menschen. Zunächst die Rettungsdienste mit ihren Wiederbelebungsgerätschaften, dann die Polizisten und jede Menge Bahnbeamte. Als Rico sah, wie sie Titi forttrugen, wurde ihm klar, dass er tot war.

Ein Fernsehteam rückte an. Von den Lokalnachrichten. Die Journalistin, eine junge Frau mit strenger Miene und kurzen, fast kahl geschorenen Haaren, bemerkte ihn, und er wurde einige Minuten lang aufgenommen. Rico hatte nicht die Kraft, sich zu bewegen. Er war viel zu traurig.

Der Tod von Titi.

»Der Tod von Titi«, wiederholte die Journalistin. »So wurde er genannt, nicht wahr?«

Mit gesenktem Blick rauchte er weiter, ohne zu antworten. Er hatte nichts zu sagen. Was hätte er sagen sollen? Nichts. Der Sicherheitsbeauftragte der Bahngesellschaft hatte es der Journalistin bereits erklärt: »Die Obdachlosen sterben in den Metrogängen; solche Vorkommnisse gibt es diesen Winter fast jeden Tag, zumeist Herzversagen …«

Für die Abendnachrichten ging Rico wie üblich zu Abdel, einer kleinen Araberkneipe in der Rue de Charonne. Er trank ein Bier, rauchte eine Kippe, sah Fernsehen, und keiner machte eine Bemerkung, dass er störe. Abdel gab ihm manchmal sogar einen Teller Couscous.

»Hast du den gekannt, von dem sie da gerade reden?«, erkundigte sich Abdel.

»Das war mein Kumpel.«

»Scheiße! Ruhe er in Frieden.«

Zu Ricos Überraschung stimmte der Bericht der Journalistin ziemlich genau. »Jean-Louis Lebrun, 45 Jahre alt, starb auf dem Bahnsteig der Metrostation Ménilmontant am Freitag gegen 22 Uhr. Am Samstag um 14.30 Uhr wurde er abtransportiert. Hunderte von Parisern gingen vorbei, ohne etwas zu bemerken. Ebenso wenig wie die Bahngesellschaft.«

»Was für eine Sauerei«, kommentierte Abdel.

»Bei Millionen von Fahrgästen ist das nicht verwunderlich …«, äußerte sich der Sprecher der Bahn.

»Willst du noch ein Bier?«

»Ja, gern.«

Dann erschien Dede auf dem Bildschirm und schimpfte auf die Bahngesellschaft, dass sie Titi habe krepieren lassen. »Ja, ja … als ich wegging, hab ich den Schalterbeamten gewarnt. Ich hab ihm gesagt, dass Titi nicht gut aussah. Eher wie ein Kranker. Ich hab gedacht, die würden den Rettungswagen rufen, und …«

Der Stationschef behauptete natürlich, dass der Nachtdienst nicht informiert worden sei.

»Normalerweise«, schloss der Sicherheitsverantwortliche, »darf nachts niemand in den Metrostationen bleiben. Aber es kommt vor, dass unsere Überwachungsteams Mitleid haben und ein Auge zudrücken. Und das ist gestern Nacht zweifellos geschehen.«

Rico hörte nicht mehr hin. Mit kleinen Schlucken trank er sein Bier.

Sie hatten sich vor dem Gemeindesaal der Kirche Saint-Charles im Stadtteil Monceau kennen gelernt, als sie mit etwa zwanzig anderen auf dem Trottoir in der Schlange standen. Was das Essen betraf, war das der beste Ort in Paris. Dazu kam, dass die Leiterin der Anstalt, Madame Mercier, es verstand, mit raffinierten Namen den Wohlgeschmack ihrer Speisen zu erhöhen. So wurde zum Beispiel ein Schlag Nudeln mit Wurstfleisch, serviert in einer flachen Plastikschale, zu einem »Kessel Buntes mit Fleischpastete«!

Seitdem Rico diese Örtlichkeit entdeckt hatte, ging er manchmal dorthin, wie normale Leute ins Restaurant gehen. Allerdings nicht zu oft, denn vor dem Essen musste man sich zwei Minuten Andacht reinziehen und hinterher auch noch beten. Immer das Vaterunser, gefolgt von idiotischen Segenswünschen für den Heiligen-Vinzenz-von-Paul, »Freund der Armen«, für Unsere-Mutter-vom-Guten-Rat sowie für eine ganze Reihe von Heiligen, die jedesmal wechselten und Rico piepegal waren.

Aber dieser Schwachsinn war nicht das Schlimmste. Die Gemeinheit bestand darin, dass man seine Essenskarte anderthalb Stunden im Voraus beziehen musste. Der Gemeindepfarrer, Vater Xavier, schlug danach vor, in der Zwischenzeit einige Lektionen aus dem Katechismus durchzunehmen – »natürlich nur denjenigen, die das wünschen«. Natürlich waren die dann auch die Ersten, die sich zu Tisch begeben und das Tagesmenu von Madame Mercier entdecken durften.

Eines Abends hatte Rico sich darauf eingelassen, dem Pfarrer zu folgen. Eine Predigt, ein Kirchenlied, das war immerhin besser, als auf der Straße rumzustehen. Auf der Karte stand Kabeljau auf provenzalische Art, und Rico konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal Kabeljau gegessen hatte. Das war eine höllische Stunde, die ihn deprimierend an seine Kindheit und die obligatorischen Religionsstunden erinnerte. Vater Xavier hatte seine Lektion mit folgenden Worten beendet: »Ja, meine Brüder, Christus hätte sich gern an den Schalen gelabt, die man den Schweinen vorwarf, aber niemand hat ihm welche gegeben.« Rico hätte um ein Haar laut in die Runde gefurzt und mied seither, auch wenn er den Kabeljau von Madame Mercier sehr gern mochte, den Katechismus.

Der Tag, an dem Rico und Titi sich kennen lernten, war der Karsamstag gewesen. Die Schlange hinter ihnen bestand aus etwa dreißig Männern und Frauen. Die Tür des Gemeindesaals war geschlossen, niemand konnte seinen Essensgutschein einlösen.

Sie warteten über eine Stunde, bis schließlich Vater Xavier kam und eine Erklärung abgab. Der Saal war an den heiligen Feiertagen geschlossen.

»Für diejenigen, die an Jesus Christus glauben, und ich weiß, dass das nicht bei allen der Fall ist, was aber nicht schlimm ist, muss daran erinnert werden, dass unser Herrgott an diesem Osterwochenende für uns gestorben ist.«

Alle hatten den Kopf gesenkt und sich gesagt, gut, gehen wir also zur Osterpredigt.

Nach einem Räuspern war der Pfarrer fortgefahren: »Wir werden weder heute noch morgen Essen ausgeben. Wir Christen feiern die letzte Mahlzeit, die Christus mit seinen Jüngern eingenommen hat …«

»Sieh an, er stopft sich ein letztes Mal voll, und wir gucken in die Röhre!«, hatte Titi geflüstert.

»Amen, mein Bruder, und schnalle deinen Gürtel enger«, hatte Rico grinsend geantwortet.

Sie hatten sich angesehen und waren fortgegangen, ohne sich das Ende der Ansprache anzuhören. Auf der Suche nach einem anderen Ort, wo es etwas zu futtern gab.

»Rue Serrurier«, hatte Rico unsicher vorgeschlagen.

»Zu viele Leute. Außerdem ist das für heute Abend zu weit weg.«

»Dann Rue de l’Orillon …«

»Mann, willst du mich verarschen! Da fängt man sich Durchfall ein. In den sechs Jahren, die ich auf der Straße lebe, hab ich mir alle Orte gemerkt, an denen ich mir etwas eingefangen habe. So weit es geht, meide ich die. Nein, lass uns zur Trinité gehen. Das ist zwar kein Drei-Sterne-Lokal, aber die Menge machts auch … Und es gibt jede Menge hübsche Studentinnen. Wirst schon sehen, ein Minirock hilft durchaus, den zusammengepappten Reis zu verdauen!«

Sie mussten lachen, und seither waren sie unzertrennlich.

Titi und Rico hatten niemals viel Worte darüber verloren, warum sie sich so gefunden hatten. Klar, trotz einiger Unterschiede waren ihre Lebenswege gleich. Aber während sie ihre Zigaretten rauchten, zogen sie es vor, über Wesentlicheres zu reden. Vor allem Titi.

Nach Ricos Meinung hätte Titi Professor oder Lehrer werden müssen. Irgendwas in der Art. Er hatte einen Haufen Bücher gelesen, und in ihren Gesprächen machte er oft Anspielungen darauf. An einem Nachmittag saßen sie am Square des Batignolles – an dem sie sich gern trafen – in der Sonne auf einer Bank und Titi sagte:

»Weißt du, in meiner Jugend habe ich Bücher von Burroughs, Ferlinghetti und Kerouac gelesen …«

Da Rico ihn ausdruckslos anstarrte, hatte er hinzugefügt: »Hast du niemals Unterwegs gelesen?«

Rico hatte seit der Schule überhaupt nichts mehr gelesen. Außer einigen Krimis und Groschenromanen. Dabei hatte er zu Hause eine regelrechte Bibliothek. Prachtausgaben mit illustrierten Umschlägen, die jeden Monat mit der Post kamen. Sophie hatte all das abonniert. Sie fand es toll, Bücher im Haus zu haben. Elegant, sagte sie. Aber auch sie las nicht. Sie zog Frauenmagazine vor.

»Ach, weißt du, ich und Bücher …«

»Schon gut. Das waren Beatniks. Hast du schon mal davon gehört?«

Für Rico waren Beatniks bloß Typen mit langen Haaren, Blumenhemden und umgehängter Gitarre. Er erinnerte sich an den Sänger Antoine. Auch an Joan Baez. Love and Peace und all das. Aber das war nie sein Ding gewesen. Mit sechzehn war er geschniegelt und gebügelt, wie aus dem Ei gepellt. Und er glaubte an ein Leben in Höchstgeschwindigkeit, wie in einem roten Ferrari.

»Diese Typen, die amerikanischen Beatniks, ich meine die echten, die machten per Anhalter...

Erscheint lt. Verlag 11.11.2015
Übersetzer Ronald Voullié
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Original-Titel Le soleil des mourants (1999)
Themenwelt Literatur Historische Romane
Schlagworte Clochard • Frankreich • Marseille • Paris
ISBN-10 3-293-30403-6 / 3293304036
ISBN-13 978-3-293-30403-1 / 9783293304031
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