Einer von uns (eBook)
192 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-400730-4 (ISBN)
Chinua Achebe wurde 1930 in Ogidi im Osten Nigerias als Sohn eines Katechisten aus dem Stamm der Igbo geboren. Er studierte am University College von Ibadan und lehrte seitdem als Professor an nigerianischen, englischen und amerikanischen Universitäten. 1958 erschien sein erster Roman »Alles zerfällt«, eines der wichtigsten Bücher des zwanzigsten Jahrhunderts. 2002 wurde Achebe für sein politisches Engagement mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt, 2007 erhielt er den Man Booker International Prize. Chinua Achebe starb 2013 in Boston.
Chinua Achebe wurde 1930 in Ogidi im Osten Nigerias als Sohn eines Katechisten aus dem Stamm der Igbo geboren. Er studierte am University College von Ibadan und lehrte seitdem als Professor an nigerianischen, englischen und amerikanischen Universitäten. 1958 erschien sein erster Roman »Alles zerfällt«, eines der wichtigsten Bücher des zwanzigsten Jahrhunderts. 2002 wurde Achebe für sein politisches Engagement mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt, 2007 erhielt er den Man Booker International Prize. Chinua Achebe starb 2013 in Boston. Uda Strätling lebt in Hamburg und hat u. a. Emily Dickinson, Henry David Thoreau, Sam Shepard, John Edgar Wideman, Aldous Huxley und Marilynne Robinson übersetzt.
Ein wichtiger Roman
›Einer von uns‹, Chinua Achebes bitterböse Satire auf ein fiktives Nigeria. Ein Roman, den die Wirklichkeit schnell eingeholt hat.
Rabenschwarze Groteske
Ein Protokoll schief gelaufener Geschichte.
Erstes Kapitel
Niemand bestreitet, dass der Abgeordnete Chief the Honourable M.A. Nanga einer der umgänglichsten Politiker des Landes war. Egal, wen man fragte, ob in der Hauptstadt oder in seinem Heimatdorf Anata, überall hieß es: Er ist einer von uns. Das sollte ich lieber gleich zu Beginn klarstellen, sonst ergibt die Geschichte, die ich erzählen will, keinen Sinn.
An dem Nachmittag sollte er vor den Lehrern und Schülern der Höheren Schule Anata sprechen, an der ich damals noch unterrichtete. Aber wie meist in diesen so bewegten Zeiten rückten die Dorfbewohner an und rissen alles an sich. In der Aula drängten sich bestimmt dreimal so viele Menschen wie vorgesehen. Noch auf dem Fußboden umlagerten sie das Podium. Umso besser, dass wir draußen bleiben mussten, sagte ich mir bei dem Anblick, zumindest vorerst.
Auf dem Schulgelände führten fünf oder sechs Gruppen an verschiedenen Stellen ihre Tänze vor. Die beliebte ›Ego Women’s Party‹ trat in neuen Gewändern aus kostbarem Accra-Gewebe auf. Trotz des Getöses hörte man klar wie einen Vogel die tragende Stimme der Vorsängerin mit dem anerkennenden Spitznamen ›Grammar-Phone‹. Ich persönlich bin kein großer Freund der Tänze unserer Frauen, aber an dem Gesang von Grammar-Phone war kein Vorbeikommen. Jetzt gerade pries sie Micahs Statur, verglich sie mit der edlen Gestalt eines geschnitzten Adlers und pries auch seine Popularität, die der Neid der Weitreisenden des Sprichworts sei, die sich ja keine Feinde machen dürften. Micah, das war natürlich der Abgeordnete Chief the Honourable M.A. Nanga.
Das Eintreffen der Jäger aller Alterskohorten in ihrer ganzen zeremoniellen Pracht erregte großes Aufsehen. Selbst Grammar-Phone verstummte – kurzzeitig. Denn diese Männer zeigten sich sonst nie, nur zur Bestattung eines der Ihren oder eben bei sehr besonderen und außergewöhnlichen Anlässen. Ich hätte wirklich nicht sagen können, wann ich sie zuletzt gesehen hatte. Sie hantierten mit ihren geladenen Gewehren, als wären es Spielzeugwaffen. Immer wieder sprangen je zwei von ihnen zum Kriegersalut zusammen und schlugen, erst von links nach rechts, dann von rechts nach links, krachend ihre Gewehrkolben aneinander. Mütter schnappten sich ihre Kinder und zerrten sie eiligst weg. Gelegentlich zielte ein Jäger auf einen fernen Palmzweig und schoss die Mittelrippe entzwei. Dann klatschte die Menge. Aber es fielen nur wenige solche Schüsse. Die meisten Jäger sparten ihr Pulver für die Ehrensalve zur Ankunft des Ministers auf – schließlich hatte sich der Preis für Schießpulver wie alles andere in den vier Amtsjahren der gegenwärtigen Regierung wieder und wieder verdoppelt.
Ich wartete am Rande des ganzen Getümmels auf sein Eintreffen, und mir kam die Galle hoch. Da tanzten sich diese albernen, unwissenden Dorfmenschen lahm und brannten darauf, ihr Pulver zu Ehren von einem der Mistkerle verschießen zu dürfen, die das Land auf die Talfahrt der Inflation schickten. Ich hoffte auf ein Wunder, auf eine Donnerstimme, die das Ende der lachhaften Festivitäten herbeiführen würde und diese armen, erbärmlichen Menschen zu der einen oder anderen bitteren Wahrheit. Aber das würde natürlich nichts bringen. Sie waren nicht bloß dumm, sondern zynisch. Wollte man ihnen sagen, dass dieser Mann sein Amt missbrauchte, um sich zu bereichern, würden sie einen bloß – wie zum Beispiel mein Vater – fragen, ob etwa ein kluger Mann den saftigen Bissen ausspucken sollte, den das Glück ihm in den Rachen warf.
Ich hatte nicht immer etwas gegen Mr Nanga gehabt. Rund sechzehn Jahre zuvor war er in der fünften Klasse unser Lehrer gewesen und ich so etwas wie sein Lieblingsschüler. Ich habe ihn als allseits beliebten, ansehnlichen jungen Lehrer in Erinnerung, der vor allem in der Uniform des Pfadfinderleiters eine gute Figur machte. In der Schule hing das Porträt eines solch tadellos schmucken Pfadfinderleiters in seiner makellosen Uniform an der Wand. Ich bezweifle eher, dass der Zeichenlehrer und Urheber des Ölbilds dabei an Mr Nanga dachte. Es hatte mit ihm wenig Ähnlichkeit, aber wir nannten es trotzdem das Nanga-Porträt. Immerhin waren beide stattliche Männer und vorbildliche Anführer. Das Mannsbild stand mit vor der Brust verschränkten Armen da, den rechten Fuß lässig und akkurat auf einen perfekt gekappten Baumstumpf gesetzt. Leuchtend rote Hibiskusblüten zierten die vier Ecken des Bilds, den unteren Rand das unvergessliche Carlyle-Wort: Nicht, was ich habe, sondern was ich schaffe, ist mein Reich. Das war 1948.
Nanga muss wenig später in die Politik gegangen sein und zog bald darauf ins Parlament ein. (Das war damals einfach – als wir nicht wussten, was uns das unter dem Strich kosten würde.) In den folgenden Jahren las ich gelegentlich von ihm in der Zeitung und war sogar ein bisschen stolz. Ich hatte gerade mein Studium aufgenommen und engagierte mich sehr in der Hochschulgruppe der POP, der People’s Organization Party. Dann kam es 1960 in der Partei zu schändlichen Vorfällen, und ich verlor alle Illusionen.
Da war Mr Nanga in der regierenden POP noch Hinterbänkler. Es standen Allgemeine Wahlen an. Die POP war haushoher Favorit, und es stand nicht zu befürchten, dass sie nicht wiedergewählt würde. Die rivalisierende PAP, die Progressive Alliance Party, war schwach und desorganisiert.
Dann brach der internationale Kaffeemarkt ein. Über Nacht (so schien es) hatte die Regierung eine gefährliche Finanzkrise am Hals. Kaffee war der Grundpfeiler unserer Wirtschaft und die Kaffeepflanzer entsprechend das Bollwerk der POP.
Der damalige Finanzminister war ein erstklassiger Ökonom und promovierter Volkswirtschaftler. Er legte dem Kabinett einen umfassenden Krisenplan vor.
Der Premierminister sagte nein. Er wollte seinen Wahlsieg nicht gefährden, indem er den Kaffeepflanzern ausgerechnet jetzt die Profite verdarb; vielmehr sollte die Nationalbank angewiesen werden, fünfzehn Millionen Pfund zu drucken. Zwei Drittel des Kabinetts stellte sich hinter den Finanzminister. Am nächsten Morgen wurden sie alle vom Premier geschasst, der am Abend eine Rede an die Nation richtete. Er sagte, die entlassenen Minister seien Verschwörer und Verräter, die mit ausländischen Saboteuren gemeinsame Sache machten, um die junge Nation zu zerstören.
Ich erinnere mich sehr genau an diese Rundfunkansprache. Natürlich kannte damals niemand die Wahrheit. Die Zeitungen und Rundfunksender verbreiteten ja alle die Version des Premiers. Wir waren empört. Unsere Studierendenvertretung berief eine Sondersitzung ein, sprach unserem Regierungschef das Vertrauen aus und verlangte ein Ausnahmegesetz zur Verfolgung der Halunken. Die ganze Nation stand hinter ihrem Führer. Landauf, landab gab es Protestmärsche und Demonstrationen.
Doch um dieselbe Zeit bemerkte ich erstmals einen neuen bedenklichen und bedrohlichen Unterton im allgemeinen Geschrei.
Der Daily Chronicle, das Sprachrohr der POP, wies in einem Leitartikel darauf hin, dass zur Halunkenbande, wie die entlassenen Minister nun genannt wurden, lauter studierte und hochgebildete Kopfarbeiter zählten. (Ich habe den Zeitungsausschnitt aufbewahrt.)
So wie der Zahnarzt einen faulen Zahn zieht, müssen wir den Staatskörper ein für alle Male befreien von diesen hohlen Attrappen mit ihrer grauen ökonomischen Theorie, ihrem Nachgeplapper weißer Redensarten und Gewohnheiten. Wir sind stolz darauf, Afrikaner zu sein. Unsere wahren Führer sind nicht die, die sich so viel auf ihre Abschlüsse aus Oxford, Cambridge oder Harvard einbilden, es sind die, die die Sprache des Volkes sprechen. Schluss mit der schändlichen und teuren Universitätsausbildung; sie entfremdet einen Afrikaner bloß seiner reichen und ehrwürdigen Kultur und lässt ihn auf seine Landsleute herabsehen …
Alle stießen in dasselbe Horn. Andere Blätter betonten, dass man nicht einmal in Großbritannien, dem Land der angeblichen Elitebildung der Halunkenbande, Wirtschaftswissenschaftler sein müsse, um Finanzminister zu werden, oder als Gesundheitsminister Arzt. Was zähle, sei Parteiloyalität.
Am Tag, an dem der Premierminister die Vertrauensfrage gewann, saß ich auf der Besuchertribüne des Parlaments. Es war außerdem der Tag, an dem die Wahrheit endlich ans Licht kam, nur hörte keiner mehr hin. Ich erinnere mich, wie gramgebeugt der Finanzminister mit seinem Gefolge in den Plenarsaal einzog, wie er von Abgeordneten und Besuchern gleichermaßen ausgebuht wurde. Im Laufe der Woche waren sein Wagen von randalierenden Massen zerstört und sein Haus mit Steinen beworfen worden. Einen anderen geschassten Minister hatte man aus seinem Wagen gezerrt, bewusstlos geschlagen, fünfzig Meter die Straße hinabgeschleift, an Händen und Füßen gefesselt, geknebelt und einfach am Wegrand liegen lassen. Er wurde noch in der orthopädischen Klinik behandelt, als das Parlament zusammentrat.
Das war mein erster – und letzter – Besuch im Parlament. Es war auch das einzige Wiedersehen mit Mr Nanga seit der Schulzeit 1948.
Der Premier sprach drei Stunden lang, und zu jedem zweiten Wort gab es Beifall. Er wurde als Tiger gerühmt, als Löwe, als Unvergleichlicher, als Himmel, Ozean und was es noch alles an Preisnamen gibt. Er sagte, man habe die Halunkenbande auf frischer Tat ertappt, nämlich bei dem »ruchlosen Plan, die Regierung des Volkes durch das Volk für das Volk mit Unterstützung ausländischer Feinde zu stürzen«.
»Aufknüpfen sollte...
Erscheint lt. Verlag | 25.8.2016 |
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Reihe/Serie | Fischer Klassik Plus |
Fischer Klassik Plus | |
Übersetzer | Uda Strätling |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 1966 • Afrika • Betrug • Biafra-Krieg • Bürgerkrieg • Idealismus • Korruption • Macht • Militärputsch • Nigeria • Prophezeiung • Rivalität • Roman • Satire • Staatsstreich |
ISBN-10 | 3-10-400730-6 / 3104007306 |
ISBN-13 | 978-3-10-400730-4 / 9783104007304 |
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