Kritik der Rechte (eBook)

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2015 | 1. Auflage
485 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74268-6 (ISBN)

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Kritik der Rechte - Christoph Menke
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Die Proklamation subjektiver Rechte markierte die Geburtsstunde der bürgerlichen Gesellschaft, schuf aber auch »die Berechtigung des egoistischen, vom Mitmenschen und vom Gemeinwesen abgesonderten Menschen« (Marx). Daher bedarf es einer Kritik der Rechte, die bei der Form ansetzen muss, die die Idee der Rechte dem Wollen und Handeln gibt. Christoph Menke führt eine solche Formanalyse durch und spitzt den entscheidenden Widerspruch bis zu dem Punkt zu, an dem sich die Frage nach einem anderen Recht stellt.



Christoph Menke, geboren 1958, ist Professor für Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

Christoph Menke, geboren 1958, ist Professor für Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main und dort Leiter des Forschungsprojekts »Normativität und Freiheit« im Rahmen des Exzellenzclusters »Die Herausbildung normativer Ordnungen.« Im Suhrkamp Verlag sind erschienen: Die Kraft der Kunst (stw 2044) und Kritik der Rechte (stw 2241).

1. Geschichtsphilosophie der Form


Die Historiker streiten sich darüber, wer als der Autor der ersten Formulierung anzusehen ist, auf die sich die neue – die neuzeitliche oder moderne – Redeweise von einem Recht als der »Macht« einer Person zurückführen läßt. In einer Reihe einflußreicher Abhandlungen hat der Rechtshistoriker Michel Villey die These entwickelt, daß zuerst Wilhelm von Ockham das Recht systematisch so verstanden habe. So heißt es bei Ockham:

Ein Recht des Gebrauchs ist eine gesetzmäßige Macht [potestas licita] zum Gebrauch einer äußeren Sache, derer man nicht ohne eigene Schuld und vernünftigen Grund gegen seinen eigenen Willen beraubt werden darf; und wenn man beraubt worden ist, darf man den Beraubenden vor Gericht ziehen.1

 

Die Herrschaft über eine Sache [dominium] ist eine grundlegende menschliche Macht, irgendeine zeitliche Sache vor einem menschlichen Gericht zu beanspruchen und zu verteidigen; »die menschliche Macht« unterscheidet diese Herrschaft über eine Sache von der göttlichen.2

Kritiker Villeys haben bezweifelt, daß diese Formulierungen bei Ockham bereits einen Bruch mit der Tradition bedeuten – das geschehe erst bei späteren Autoren3 –, und zugleich darauf hingewiesen, daß sich ähnliche Formulierungen schon bei den »Männern [finden], die die Digesten wiederentdeckten und die mittelalterliche Wissenschaft des Römischen Rechts schufen«.4 Wie auch immer aber die Datierung, unstrittig ist, daß sich zwischen mittelalterlichem Nominalismus, Spätscholastik und rationalem Naturrecht, in der ideologischen Formationsphase der Neuzeit, eine Unterscheidung zu etablieren beginnt, die dann bereits Thomas Hobbes als eine zwar häufig übersehene, aber nicht weiter begründungsbedürftige begriffliche Tatsache und noch einmal zweihundert Jahre später Friedrich Carl von Savigny, im Rückblick auf diese Geschichte, als eine geläufige, selbstverständliche Einsicht anführen.

In dieser Unterscheidung geht es um zwei Bedeutungen des Ausdrucks »Recht«: um die Unterscheidung zwischen dem Recht als gerechter oder herrschender Ordnung von Gesetzen und einem Recht als einem Anspruch, der einer Person zukommt. In der Erläuterung seines Titels, Über das Recht des Krieges, formuliert Hugo Grotius diese Unterscheidung so:

[Mit] »Recht« wird hier nur das Gerechte bezeichnet, und zwar mehr im verneinenden als bejahenden Sinne; so dass Recht ist, was nicht ungerecht ist. […] Verschieden von diesem Begriff des Rechts ist ein anderer, der von ihm abstammt und auf die Person bezogen wird. In diesem Sinne ist das Recht »eine moralische Eigenschaft, vermöge deren eine Person etwas mit Recht haben oder tun kann [qualitas moralis personae competens ad aliquid juste habendum vel agendum]«. Dieses Recht steht der Person zu.5

Auf ähnliche Weise erklärt Francisco Suárez die beiden »verschiedenen Bedeutungen des Wortes ›Recht‹«:

Manchmal bedeutet »Recht« den sittlichen Anspruch [moralem facultatem] auf eine Sache oder das Recht an der Sache, mag es sich nun um ein wirkliches Eigentumsrecht handeln, oder nur um eine Teilnahme daran. Recht in diesem Sinn ist der eigentliche Gegenstand der Gerechtigkeit […]. »Recht« bezeichnet aber auch das Gesetz, das Norm für das sittlich gute Handeln ist und in den Dingen eine gewisse Gleichheit festsetzt. In diesem Sinn […] fällt das »Recht« mit dem »Gesetz« zusammen. Um kurze Ausdrücke zu verwenden, können wir das erste »nützliches Recht« [ius utile] und das andere »sittliches Recht« [ius honestum] nennen, oder das erste »dingliches Recht« [reale] und das andere »gesetzliches Recht« oder »Rechtsnorm« [legale].6

Im Englischen steht Hobbes zur Bezeichnung derselben begrifflichen Differenz der terminologische Unterschied zwischen law und right zur Verfügung – eine Unterscheidung, die Hobbes als Übersetzung der römischen Unterscheidung von lex und ius einführt, um den für ihn entscheidenden Gegensatz zwischen dem Recht als verpflichtendem Gesetz und einem Recht als Freiheit auf den Punkt zu bringen:

Denn obwohl diejenigen, welche über diesen Gegenstand sprechen, gewöhnlich jus und lex, Recht [right] und Gesetz [law], durcheinanderbringen, so sollten doch diese Begriffe auseinandergehalten werden. Denn Recht besteht in der Freiheit, etwas zu tun oder zu unterlassen, während ein Gesetz dazu bestimmt und verpflichtet, etwas zu tun oder zu unterlassen. So unterscheiden sich Gesetz und Recht wie Verpflichtung und Freiheit, die sich in ein und demselben Fall widersprechen.7

 

Ich finde, daß die Wörter lex civilis und jus civile, das heißt bürgerliches Gesetz und bürgerliches Recht, unterschiedslos für dieselbe Sache gebraucht werden, selbst von den gelehrtesten Autoren. Dies sollte aber dennoch nicht so sein. Denn Recht ist Freiheit, nämlich die Freiheit, die das bürgerliche Gesetz uns läßt; das bürgerliche Gesetz aber ist eine Verpflichtung und nimmt uns die Freiheit, die uns das natürliche Gesetz verlieh. […] Insofern unterscheiden sich lex und jus wie Verpflichtung und Freiheit.8

Da das Deutsche dafür kein Äquivalent besitzt, »nennen wir«, so schließlich Savigny wiederum zweihundert Jahre später, was die anderen als ius oder right bezeichnen, »ein Recht dieser Person, gleichbedeutend mit Befugnis: Manche nennen es das Recht im subjectiven Sinn.«9 Recht »im objectiven Sinn« ist das Recht: das Recht als herrschendes Gesetz. Recht im subjektiven Sinn ist ein Recht: ein Anspruch, den eine Person, ein »Subjekt«, mit der Macht normativer Verbindlichkeit erheben kann, oder, so Kant, das »(moralische) Vermögen, andere zu verpflichten«.10

Keiner der neuzeitlichen Autoren, die zwischen dem Recht als Gesetz und dem Recht als Anspruch unterscheiden, hat dies als eine neue begriffliche Einsicht verstanden. Ja, sie behaupten zumeist nicht einmal, daß es sich um eine terminologische Innovation handelt. Sie präsentieren diese Unterscheidung vielmehr so, als sei sie aus der römischen Rechtspraxis oder der aristotelisch-scholastischen Rechtstheorie bereits bekannt. Aber weder in der Praxis noch in der Theorie wird diese Unterscheidung vor dem neuzeitlichen Rechtsdenken ausdrücklich vorgenommen. Die Unterscheidung zwischen dem Recht und einem Recht, zwischen law und right, zwischen Recht als Gesetz und Recht als Anspruch, Recht im objektiven und im subjektiven Sinn scheint ebenso alt wie neu: alt darin, was sie sagt, in ihrem Inhalt; neu aber darin, daß sie es sagt, in der Tatsache, daß dieser Inhalt ausdrücklich formuliert und statuiert wird. Einerseits scheint es den Unterschied zwischen dem Recht als Gesetz und einem Recht als Anspruch immer schon gegeben zu haben, andererseits ist es ein grundsätzlich neuer Zug, mit weitreichenden Konsequenzen, diesen Unterschied zu machen. Oder das Neue an dieser Unterscheidung ist weniger eine Sache der Semantik als vielmehr der Rhetorik, nicht des Inhalts, sondern des Akts des Unterscheidens. Kann es dann aber noch derselbe Unterschied sein?

Die Verkehrung des Primats


Leo Strauss hat sich in der Frage nach der historischen Urheberschaft der Unterscheidung zwischen Gesetz und Anspruch entschieden für Hobbes ausgesprochen. Hobbes’ Unterscheidung zwischen law und right muß demnach – trotz ihrer Herleitung aus der römischen Unterscheidung zwischen lex und ius – als Ausdruck der radikalen »Neuerung« angesehen werden, durch die Hobbes die »moderne« Politik von ihrem »antiken« Verständnis definitiv getrennt hat.1 Strauss’ Argument dafür, daß Hobbes (und daher also, so Strauss, nicht Grotius, der in der entscheidenden Frage der Tradition verpflichtet bleibe) die Urheberschaft an der modernen Unterscheidung zwischen Gesetz und Anspruch zukommt, besagt, daß erst Hobbes diese Unterscheidung als eine »grundsätzliche« versteht2 – das heißt als eine Unterscheidung, die den Grund der rechtlichen Ordnung betrifft. Denn Hobbes nimmt die »grundsätzliche Unterscheidung« zwischen law und right, Gesetz und Anspruch, vor, um nicht weniger als die »präzise Vorordnung des ›Rechts‹ vor das ›Gesetz‹« auszudrücken (während Grotius die »moralische Eigenschaft, vermöge deren eine Person etwas mit Recht haben oder tun kann«, die er vom Recht als Gesetz unterscheidet, immer noch so verstanden habe, daß sie »die ›Lex‹ voraussetzt«):

Weil Hobbes also als erster in unvergleichlicher Klarheit und auch terminologischer Konsequenz, zwischen »Recht« und »Gesetz« derart unterscheidet, daß er allein auf das »Recht«, von dem das »Gesetz« eine bloße Konsequenz ist, den Staat begründet wissen will […] – eben darum ist Hobbes der Begründer der modernen Politik.3

Strauss’ historisches Argument für Hobbes’ Urheberschaft an der Unterscheidung von Gesetz und Anspruch gründet...

Erscheint lt. Verlag 7.11.2015
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Analyse • Liberalismus • Philosophie • Rechte • STW 2241 • STW2241 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2241
ISBN-10 3-518-74268-X / 351874268X
ISBN-13 978-3-518-74268-6 / 9783518742686
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