Kongs große Stunde (eBook)

Chronik des Zusammenhangs
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
679 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74248-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kongs große Stunde -  Alexander Kluge
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Von verzauberten Dingen, Hochöfen der Seele und der Musik der Gedanken Der große Menschenaffe verteidigt das ihm Liebste gegen eine Welt von Teufeln. Wer und was aber ist dieses offenbar undomestizierbare Tier? Liegt es vielleicht in uns selbst? Öffnet sich hier ein Boden, auf dem wir uns zu selbstsicher bewegen? Für Alexander Kluge stellt sich damit erneut die Frage nach erschließbaren Räumen in uns Menschen und in unserer Millionen Jahre alten Vergangenheit. Diesen Raum durchmisst er in dreizehn Stationen unter wechselnden Perspektiven, doch immer in konkreten Geschichten. So geht es um »Reparaturerfahrung« als essenzielle Lebenspraxis ebenso wie um die genealogische Erinnerung an Vater und Mutter. Zu einer Chronik des Zusammenhangs gehören aber nicht nur Personen, sondern auch Dinge mitsamt der in ihnen aufbewahrten menschlichen Arbeit. Sind solche Dinge nicht selbst oft »verzauberte Menschen« und bergen Romane? Schließlich die Kunst als »große Oper« im Leben und auf der Bühne. Sie bietet die direkteste Darstellung von Leidenschaft mit ihren elementaren Wurzeln in der Realität: im Terror, im Glück und in stillgestellten Bürgerkriegen des Gefühls aus ältester Zeit. Gute Theorie in konkrete Geschichten aufzulösen, das ist Alexander Kluges lebenslänglicher Ansatz. In der Konsistenz von Gedanken liegt für ihn Musik, und so setzt er mit diesem Buch gegen die vor fünfzehn Jahren erschienene Chronik der Gefühle nun den Kontrapunkt einer Chronik des Zusammenhangs.

<p>Alexander Kluge, geboren 1932 in Halberstadt, ist Jurist, Autor, Filme- und Ausstellungsmacher; aber: »Mein Hauptwerk sind meine Bücher.« Für sein Werk erhielt er viele Preise, darunter den Georg-Büchner-Preis und den Theodor-W.-Adorno-Preis,Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf und 2019 den Klopstock-Preis der Stadt Halberstadt.</p> <p>»Ich bin und bleibe in erster Linie ein Buchautor, auch wenn ich Filme hergestellt habe oder Fernsehmagazine. Das liegt daran, daß Bücher Geduld haben und warten können, da das Wort die einzige Aufbewahrungsform menschlicher Erfahrung darstellt, die von der Zeit unabhängig ist und nicht in den Lebensläufen einzelner Menschen eingekerkert bleibt. Die Bücher sind ein großzügiges Medium und ich trauere noch heute, wenn ich daran denke, daß die Bibliothek in Alexandria verbrannte. Ich fühle in mir eine spontane Lust, die Bücher neu zu schreiben, die damals untergingen.«<br /> <em>Alexander Kluge (Dankesrede zum Heinrich-Böll-Preis, 1993)</em></p>

1
Es geht nichts
über Reparaturerfahrung


 

Zahn ohne Raum


In meinem Mund hielt sich, eingezwängt zwischen einem der mittleren Schneidezähne unten und dem Eckzahn, lange Zeit ein weiterer Schneidezahn auf schmalem Hals, von den beiden umgebenden Bruderzähnen stark bedrängt. Deren Wurzeln drückten auf die Wurzeln des Stiefzahns. Bald wackelte dieses überzählige Mitglied in meinem Gebiß. Ein Zahnarzt urteilte: »Herausnehmen mit Wurzel, eine Brücke legen und abwarten, was weiter passiert.« Ich sah mich damals bald zahnlos. Ich war nicht bereit, eine permanente Improvisation im Mund, meinem verschließbaren Schatz, der auch die Sprache beherbergt, hinzunehmen. Ich geriet an einen jungen Reformer der Zahnheilkunde. Er kam aus einer US-Schule der Zahnmedizin. Seine Eltern hatten in Deutsch-Südwestafrika einst Farmen besessen. Jetzt waren die Zähne Prominenter in der bayerischen Hauptstadt das Ackerland dieses Arztes. Er war Chirurg.

Unter Narkose (er war chirurgisch ausgebildet) schnitt er das Zahnfleisch um den schwachen Stamm in der Tiefe auf, reinigte gründlich den Knochen, transplantierte Gaumengewebe, das den schmalen Stengel hielt. Er war ein Radikaler mit Maß, voll von gezähmter Aggression. So überlebte mein Zahn in seiner Kolonne. Zwanzig Jahre später, als er, stets eingeengt durch seine beiden Nachbarn, erneut wackelte, fixierte dieser Reformarzt den Zahn, ähnlich, wie man es bei schiefstehenden Kirchtürmen tut, mit einer Betonstütze. Jetzt stand der Zahn für weitere Jahre festgezurrt. Bei den jährlichen Inspektionen im Anschluß an die Zahnsteinbeseitigung im ganzen Mundraum freute er sich über den INTAKTEN UNTERPRIVILEGIERTEN wie über einen gutangelegten Garten, weil, sagte er, ohne diese Rettungsaktion das ganze Gebiß Zug um Zug zugrunde gegangen wäre. »Ich repariere immer vom schwächsten Glied her.« Dies seine These.

Es geht nichts über Reparaturerfahrung


Ein Kollege aus der Gegend von Eisleben berichtet: Mit Schwäche bin ich zur Welt gekommen. Das hat mir dann das Leben gerettet. Mein Rückgrat macht Knicke. Das soll schon vor der Geburt angelegt gewesen sein. Nicht, daß man es sofort sieht. Ich gehe aufrecht (aus Übung). Jeder Militärarzt, dem ich später vorgestellt wurde, hat dann bestätigt, daß ich mit diesem Zick-Zack-Kreuz nicht länger als täglich etwa zwei Kilometer marschieren könnte. Das hätte die Truppe im Rußlandkrieg aufgehalten. Also wurde ich 1942 eingeteilt in den Werkschutz der Buna-Werke, Spezialist für Zäune und Tore.

Dann die Löscheinsätze. Statt die Fremdarbeiter zu überwachen, setzten wir sie aktiv ein. Tagangriff. Hochmütig rücken die Geschwader, deren Jägerstaffeln über ihnen, vom West- und Südhorizont auf uns zu. Was sie demolieren, haben wir in den Nachmittagsstunden besichtigt und sortiert. In der Nacht haben wir wie die Teufel die Schäden eingegrenzt und repariert. Die Produktion war nie wirklich unterbrochen. Es gibt in der Not keine Arbeitsteilung. Wir Wächter haben die Pistolen abgelegt, sind inzwischen Lösch- und Wiederaufbauspezialisten.

So war ich mit 30 Jahren fast Ingenieur. Nicht der Bezeichnung nach, aber ältere Ingenieure des Werks sprachen mit mir wie mit ihresgleichen. »Schließen Sie die Pinne an den fahrbaren Generator.« Das habe ich dann ausgeführt. Der Eifer der anderen überträgt sich, vermischt sich mit meinem. Längst sind wir in einem neuen Gesellschaftssystem.

Die Russen hatten die Maschinen, die sie für wertvoll hielten (sie konnten das, weil sie Militärs waren, nicht immer beurteilen), auf Bahntransport in Richtung Smolensk–Moskau gebracht. Dort rosteten sie dann seitlich der Strecke, wenn die Güterzüge wegen anderer Transporte von höherer Dringlichkeit abgeladen werden mußten. Wir aber durften den Rest, der bei uns vor Ort blieb, wieder zum Funktionieren bringen, neu strukturieren, das, was uns fehlte, mit Hausmitteln hinzubauen. Auch diesen Neuanfang nannten wir Reparatur (im Gegensatz zum Abtransport der Maschinen, der Reparationen hieß). Ich wurde zur Arbeiter- und Bauernfakultät Halle abkommandiert, trug bald auch wirklich den Titel Ingenieur. Die Improvisation hielt an.

Verschleiß. Inzwischen rächten sich etwa zwanzig Jahre Improvisation, ein Rachestrahl der Objekte. Kein Winter ohne Produktionseinbrüche. Wir aber regelten das. Die Bezeichnungen wechselten. Man sprach nicht mehr von Reparieren, sondern von Regelung. Das kam aus der Computersprache. Computer selbst hatten wir nicht.

Im kalten Winter 1962 dann Katastrophe auf Katastrophe. Wie Flocken vom Himmel die Schäden und ihre Meldungen. Die letzteren sollten wir gar nicht mehr nach oben geben. Sie verwirrten die Statistik, hieß es. Ich war dem allen gewachsen. Nicht körperlich, sondern vom Kopf her, der für alles, was ich selbst wegen meines Handicaps nicht heben, ablaufen oder technisch anschließen konnte, einen Ausweg fand. Die Kollegen vom BESONDEREN EINSATZDIENST (statt Regelung und Reparatur hieß es jetzt Einsatz) sahen mir die Mehrbelastung nach, die durch meine Schwächen auf sie entfiel, weil meine Klugheit die NORMERFÜLLUNG und die damit verbundenen saftigen Erfolgsprämien für das Kollektiv gewährleistete (anschließend gerecht und individuell aufgeteilt, ein schönes Weihnachtszubrot). Der Reparaturfähigkeit, wie sie für unsere Republik charakteristisch war, liegen Konsensfähigkeit und Kooperationserfahrung zugrunde, die von oben nicht bestellt und nicht gebremst werden können.

Was sich dann nicht reparieren ließ, war die Demokratische Republik selbst. Zu komplex und vom Produktionssektor, in dem wir Erfahrung hatten, nicht zu steuern. Wir wurden sukzessive verraten. Erst von den Faschisten (zu denen wir selbst gehörten), die ihre Aussichten überschätzten und keines ihrer Versprechen auf den Enderfolg hielten. Was wir im Krieg in der Produktion vollbrachten (und wir waren Zauberer), war nachträglich nichts wert. Dann von unserem eigenen Staat, der Arbeiter-und-Bauern-Republik, die uns den letzten Tropfen Schweiß abverlangte (mir eher Hirnmasse), aber den Wert davon nur hortete oder in Form von Planungswerten verspekulierte, dann aber sich gegen den Westen nicht halten konnte (vom Brudervolk nicht gestützt). Schließlich, nach Neuformierung unseres Volkes, hat uns der Westen betrogen. Alles an sich genommen, ohne Reparaturchance. Jetzt wurde unser dauerreparierter Industriesektor abgewickelt. Kein Wort über die stillen Reserven in den Betrieben, die verborgenen Vorräte, von uns sorgsam angelegt und gegen alle Kontrollen von oben verteidigt. Keine korrekte Einschätzung unserer kollegialen, improvisatorischen Fähigkeiten, aus denen doch der Wert der Republik und ihrer Betriebe in Wahrheit bestand. Wir wurden als Kostgänger, als überflüssig, abgeschrieben, in die Warteschleife versetzt, in die Freizeit entlassen.

Tatsächlich wird Reparaturenergie auf dem Weltmarkt nicht gehandelt. Im Gegenteil: Was beschädigt ist, was ein gewisses Alter erreicht, wird neu beschafft. Zur Freude der Konjunktur. Kostbar ist die Lücke, der Bedarf, der Sog nach neuen Lieferungen, nicht die Instandsetzung. Zu spät kamen wir auf die Idee, unsere Begabung (und die Reste an Material und Gerät) nach Osten zu verlagern. Das Comecon (mit seinen Planzahlen, seinem Schriftverkehr, seinen Verboten und Genehmigungen) löste sich nicht rasch genug auf. Manche Werft, manches Kombinat, vor allem unsere Schwerreifenproduktion für landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge hätten sich retten lassen auf der Austauschschiene von Betrieb zu Betrieb in der Linie nach Archangelsk oder Rostow.

So kann man uns Experten nicht abfertigen, so viel will ich sagen. Noch immer repariere ich die Zäune, die unser stillgelegtes Betriebsgelände umgeben, das ein Investor erworben, aber nicht neu bebaut hat, auch wenn solches Volkseigentum uns, dem Volk, nicht mehr gehört. Es stand auch vorher uns, dem Volk, nur dem Namen nach zur Verfügung. Das läßt sich nicht nachregeln. 50 Jahre Einsatz für die Katz! Es trifft mich mit 67 in einem empfindlichen Alter. Statt Rente Neubeginn. Das heißt nicht, daß ich und die Kollegen, mit denen ich Verbindung halte, sich geschlagen geben. Auch Hoffnungen lassen sich instand setzen. Es geht nichts über Reparaturerfahrung.

Der Unterschied zwischen Reparieren
und Heilen


In sehr alter Zeit. Etwa 1000 v. Chr. Er war in Lebensgefahr, das wußte er. Er konnte nicht aus dem Haus gehen und versuchen, in der Nacht zu entkommen. Die Reiter des Fürsten hätten ihn eingeholt. Am Bett des fiebernden Prinzen konnte er wenig tun. Ihm war klar, daß der Fürst nicht dulden würde, daß ihm dieses Kind starb. Hauptsächlich war der Arzt mit der Abwehr zudringlicher Rivalen beschäftigt, deren Tinkturen und Vorschläge für eine Operation den Prinzen mit Gewißheit umgebracht hätten.

Ihm selbst, dem berühmten Mann, blieb nichts übrig, als zu warten. Durch nichts konnte der Arzt im Fall der Seuche, um die es sich handelte, den Zustand des Kindes vor der Erkrankung wiederherstellen. Das Kind wäre, wenn es überlebte, ein anderes Kind, und seine Haut trüge Spuren. Helfen könnten nur die Kräfte in diesem Kind selbst. Seine Sache war es – unter Einsatz seines Lebens –, dem Jungen Zeit zu verschaffen. Keine Besuche. Keine Störung, weil etwa die Eltern nachsehen wollten, wie es dem Kinde ging. Keine Störung durch Zugluft oder eilfertige Diener. Nur Zeit hilft. Um sie zu verlängern, dienten der Schwamm mit Essig und etwas Nahrung zum Lutschen. Daß der Prinz...

Erscheint lt. Verlag 7.11.2015
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Chronik • Geschichten • Konkrete Geschichten • Kritische Theorie
ISBN-10 3-518-74248-5 / 3518742485
ISBN-13 978-3-518-74248-8 / 9783518742488
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